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XXVIII

Viele Einwohner unserer Stadt hatten sich, unfähig ihre Furcht zu bemeistern, geflüchtet, waren aber zum Teil gerade dann, da die Aufregung und der Wechsel des Klimas ihre Widerstandskraft schwächte, den mitgeschleppten Keimen der Krankheit erlegen. Auf diese Weise verbreitete sich die Epidemie weiter und weiter, wenn sie auch nirgends mit solcher Gewalt auftrat wie bei uns. Während man anfänglich im Auslande Mitleid mit unserem Elend gehabt hatte, fing man nun an, sich in feindseliger Weise mit uns zu beschäftigen, da wir auch andere mit dem eigenen Übel bedrohten. In den Zeitungen, die bisher nur Anteil an unserem Schicksal zu erwecken gesucht hatten, wurde unseren Verhältnissen nachgeforscht, daß man erfuhr, wie weit wir etwa an so vielem Unglück selbst die Schuld trügen. Da ergab sich vieles, was für uns unrühmlich war, insbesondere der Zustand unserer Wasserleitung (denn die neue konnte noch nicht in Gebrauch genommen werden), welche vor allen Dingen die Ursache des Überhandnehmens der Seuche sein sollte und wohl auch war. Wie man nun ferner nachzuspüren begann, was wiederum hieran schuld sei, war unser Senat, wiewohl er sich hätte sagen dürfen, daß eigene Lässigkeit mit im Spiele sei, in menschlicher Schwachheit nur allzu bereit, die Vorwürfe von sich ganz abzuwälzen, da ja auch andere sie zu verdienen schienen. Denn da mein Onkel und mein Vetter an der Spitze der für die Errichtung der Wasserwerke eingesetzten Kommission gestanden hatten, konnte man füglich behaupten, sie hätten die Verantwortung für alles, was damit zusammenhinge, wenn sie es auch anderseits an Tätigkeit und manchem großen Opfer nicht hatten fehlen lassen. Daß das Projekt des Norwegers tauglich war, hatte sich mittlerweile gezeigt; aber es hätte ja ein anderes etwa ebensogut und doch mit geringeren Mitteln herstellbar sein können. Kurz, da die Sache einmal in Onkel Harres und Ezards Händen gelegen hatte, fiel nun alle Schuld auf sie, und der Senat erschien in umso besserem Lichte, als das Unternehmen die besten Fortschritte machte, seit er es an Hand genommen hatte.

Hiemit war es nun aber nicht genug. Zwei bedeutende Anklagen wurden gegen Onkel Harre erhoben: einmal, daß er die alte, ungenügende Medizinalordnung nicht durch eine neue ersetzt habe, sodann, daß er die ersten Anzeichen der Cholera, die man beobachtet hatte, absichtlich und mit Wissen vor der Bevölkerung verheimlicht habe. Was die Medizinalordnung betraf, so hatte Onkel Harre auf mehreren Punkten bestanden, die dem Senat nicht eingeleuchtet hatten, und mein Onkel nach seiner hitzigen Art hatte nun ein immer größeres Gewicht gerade auf diese gelegt und sich durchaus geweigert, sich mit der ganzen Angelegenheit zu befassen, wenn ihm nicht zuvor in dieser wesentlichen Frage, die er verstehe und beurteilen könne, nachgegeben werde. So war denn diese Sache durch mehrere Jahre verschleppt worden, wie es übrigens mit noch manchen anderen geschehen war; aber nur in diesem Falle hatten die Ereignisse die Saumseligkeit aufgedeckt und ein Schuldig darüber ausgesprochen. Wenn nun in Hinsicht auf diese Angelegenheit meinen Onkel das Bewußtsein geringer eigener Schuld über jeden Ausgang, den sie etwa hätte nehmen können, zu trösten vermocht hätte, so war es mit dem zweiten Vorwurf, der ihm gemacht wurde, ganz anders. Denn obwohl er nicht in böser Absicht die Anfänge der Krankheit verheimlicht hatte, so bewiesen ihm doch die unmittelbar sich daranschließenden Folgen zum mindesten, daß er das zum allgemeinen Besten dienende nicht so richtig berechnet hatte, wie er seiner Stellung nach verpflichtet war, es zu können. Dazu kam, daß er ja genügend gemahnt worden war, und er war zu einsichtig, um sich nicht zu sagen, daß gerade die von Doktor Wittich ausgegangene Warnung sein Urteil verwirrt hatte, daß also entweder dies oder sein Charakter nicht so unbestechlich war, wie die Stadt es von einem ihrer Häupter verlangen durfte. Weit entfernt, seine Handlungen beschönigen zu wollen, urteilte er vielmehr mit so grausamer Gerechtigkeit über sich, daß er sogleich von seinem Amte zurückgetreten wäre, wenn ihm das nicht unter den damaligen Zeitumständen, wo der Druck der Sorgen und Schwierigkeiten so viel schwerer war, als die Ehre aufwiegen konnte, wie schimpfliche Flucht erschienen wäre. Indessen die unablässige, aufreibende Tätigkeit, die für ihn nichts von ihrer sonstigen Erquickungskraft hatte, da sich nirgends Erfolg und Besserung zeigte, und er nur vom Berge seiner Schuld abzutragen, nichts Neues zu schaffen glaubte, dazu die Angst um das Leben seines Kindes und die Zukunft seiner jungen Frau, die Bilder von offenkundiger Schande, mit denen er sich peinigte, zerrütteten seine geistige und körperliche Gesundheit täglich mehr. In der Bevölkerung, die von seinen innerlichen Zuständen und Leiden nichts wußte, hatte man keinerlei Mitleid mit ihm, und während meinem Vetter die Bewunderung und Dankbarkeit aller zuwuchs, verstärkte sich der Haß gegen seinen Vater, und die Meinung setzte sich mehr und mehr fest, als habe er die Macht gehabt, das Unheil abzuwenden, sie aber vielmehr gebraucht, es vollends herbeizuführen. In allen öffentlichen einheimischen und fremden Blättern wurde sein Betragen geschildert und verurteilt; die Angst vor der Krankheit und die Verzweiflung in den Orten, wo sie bereits ausgebrochen war, fanden eine gewisse Befriedigung darin, daß sie sich gegen einen Schuldigen auslassen konnten. Der Senat hielt es unter diesen Umständen, da er sich nicht ohne größten Nachteil auf Onkel Harres Seite hätte stellen können, für notwendig, als Vertreter des im Volke regen Gerechtigkeitsdranges gegen ihn aufzutreten und eine förmliche Untersuchung einzuleiten. Freilich ging alles nur im Schoße des Senates vor sich. Onkel Harre sollte vor versammelten Kollegen einem alten, für solche Fälle vorgesehenen Gebrauche gemäß einen feierlichen Verweis empfangen, zu einer erheblichen Geldbuße verurteilt werden, worauf er sein Amt selbst niederzulegen hatte. Dies war, obwohl in der Form insofern nicht allzu erniedrigend, weil er doch nur von seinesgleichen getadelt und beurteilt wurde, für sein Gefühl das Schmerzhafteste, was man ihm hätte bereiten können. Er war so geartet, daß er lieber als Angeklagter vor einer tobenden Volksmasse gestanden hätte, wo er sich aus vollem Herzen teils hätte schuldig bekennen, teils verteidigen können.

Das Bedenklichste an seinem Zustande schien uns das zu sein, daß er sich nie mit Worten über das, was in ihm vorging, äußerte. Während er früher mit der beherzten Einseitigkeit eines Kindes über gegen ihn ausgeübte Feindseligkeit der Gegner irgendwelcher Art gewettert und sich damit vom Grolle befreit hatte, enthielt er sich nun jedes empfindlichen Ausdruckes. Seine Haltung war so, daß auch wir kein Wort zu seiner Verteidigung oder zum Vorwurf gegen andere wagten, aus Furcht, er könne aus unserem Mitgefühl einen ihn demütigenden Schluß auf sich selbst und seine Lage ziehen. Einzig mit Ezard sprach er über diese Dinge, wovon mein Vetter Eva und mir auf unser Befragen wohl auch einzelnes, aber, wie mir schien, durchaus nicht alles mitteilte.

In den Tagen, wo sich dieses bei uns abspielte, bemerkte man zuerst ein schwaches Nachlassen der Krankheit. Da man ohnehin anfing, sich an die beständige Gefährdung des Lebens zu gewöhnen, wurde man in den vorher so streng beobachteten Vorsichtsmaßregeln lässiger, und auch Eva und Heileke, das Kind, waren nicht mehr so behutsam im Verkehr mit Onkel Harre, wie es in der ersten Zeit durchgeführt war. Es mochte auch daher kommen, daß Onkel Harre derartig von quälenden Sorgen eingenommen und bedrängt war, daß er das eine über das andere vergaß und anderseits in seiner Schwermut nach der Nähe dieser beiden lichten Geschöpfe mehr als sonst verlangte. Eva empfand für ihren Mann desto mehr tiefbegründete Zuneigung und Verehrung, je weniger die rasche Abnahme seiner Jugendkraft, die ihn so lange geziert hatte, ihn für ihr blühendes Alter zum Gegenstand zärtlicher Liebe geeignet machte. Sein stumm und stolz getragenes Leiden verlieh ihm in unseren Augen eine Größe, die sicherlich immer in ihm gewesen war, die aber früher das allzu hastige Umherfahren seines regsamen Geistes zu sehr beeinträchtigt hatte. Daß er sich schuldig fühlte, daß er ohne Trotz, geduldig, aber auch ohne Kläglichkeit die Folgen auf sich nahm, das gab ihm jetzt die Würde, die man früher so ungern an ihm vermißt hatte, gerade weil die Bedeutung seines Geistes sie zu verlangen schien. Eva und ich gaben uns, durch seine äußere Ruhe verleitet, zuweilen der Hoffnung hin, er könne sich noch einmal in alter Kraft aufrichten, und wer weiß, ob es sich nicht wirklich noch zum Besseren hätte wenden können, wenn ihn nicht ein neuer Unfall vollends übermannt hätte, daß nämlich Heileke, das Kind, von der Krankheit ergriffen wurde.

Ich war am Vormittage des Tages bei Eva, und da wir eine ernste Unterhaltung über Onkel Harre führten, der an einem dieser Tage vor versammeltem Senate sein Amt niederlegen wollte, achteten wir nicht auf die Kleine, welche gleichfalls im Zimmer war. Sie war aber, vielleicht infolge des bereits in ihr wühlenden Krankheitsstoffes, besonders unruhig und unserer Aufmerksamkeit bedürftig, kletterte auf meine Kniee, schmiegte ihr Köpfchen an mich und bat mich, mir ins Ohr flüsternd, ich solle ihr etwas vorspielen. Ich zögerte, ihr zu willfahren, da ich nicht wußte, ob Eva in der Stimmung wäre zuzuhören, und sagte zu der Kleinen, sie möchte selbst mit ihrem Hämmerlein Musik machen. Darauf schüttelte sie nochmals traurig den Kopf und sagte: »Spiele du, spiele du!« so daß ich ihr nachgab, sie auf den geschlossenen Deckel des Flügels hob und anfing zu spielen. Die Töne schienen ihr wohlzutun, denn sie atmete einige Male tief auf, wie einer, der im Begriff ist eine schwere Last vom Herzen zu werfen, und immer größere Zufriedenheit malte sich in ihren Zügen. Da ich dies bemerkte, ging ich in eine lustige Tanzmusik über, worauf sie plötzlich von ihrem hohen Sitz hinunterhüpfte und auf eine seltsame Weise anhub zu tanzen, nicht nach irgend einem bekannten Maße, sondern bald langsam auf und ab schwebend, bald wieder herumwirbelnd, daß die langen blonden Locken aufflogen, und alle Bewegungen führte sie mit ebensoviel Leidenschaft wie Anmut aus, so daß ich die Melodie in verschiedenster Weise wiederholte, um den lieblichen Anblick länger zu genießen. Eva indessen unterbrach mich, da sie meinen mochte, daß Heileke sich zu sehr erhitze; sie fing das tanzende Kind mitten in seinen zierlichen Wendungen auf und setzte es auf ihren Schoß; das aber brach unerwarteterweise in Tränen aus und schluchzte so unaufhörlich und nachdrücklich, als ob ihm ein bedeutendes Unglück zugestoßen sei. Dergleichen war mir sehr zuwider, da ich mich dabei nicht zu fassen wußte, und ich verabschiedete mich schnell, ungeachtet dessen, daß ich mir kürzlich geschworen hatte, über Eva und dem Kinde zu wachen, wozu eben einmal einige Gelegenheit gewesen wäre.

Der Zufall wollte es, daß ich zu Hause einen Brief der Lelallenschen Tante vorfand, welche mir Florens Tod anzeigte. Die Seuche hatte sich bald nach der Abreise an ihr gezeigt, und zwar mit solcher Heftigkeit, daß sie ihr schon nach einer Stunde erlegen war. »Sie wurde ins Meer versenkt,« schrieb die Tante, »aber ich, obschon ich nicht so phantastischen Sinnes bin, wie meine Nichte war, muß immer denken, wenn ich die Seevögel so dicht über die Wellen hinfegen sehe, da segle nun ihre Seele im Winde und lebe sich satt.« Ich hatte bis dahin den Schlüssel zu dem verlassenen Hause noch nicht benützt, denn mir war die Bande vom heiligen Leben verleidet, und die anderen legten auch keine Neigung an den Tag, mit dem bedenklichen Wesen fortzufahren, wie denn überhaupt die Gemüter der Menschen selten so lange gleichmäßig hochgespannt bleiben, daß man einen Einfall des Übermuts dauernd machen könnte. Nun betrat ich den Saal wieder, wo wir so toll geschwärmt hatten, und da er nicht gründlich hatte aufgeräumt werden können bei der schnellen Abreise, fand ich noch einige ganz verkommene, mißfarbige Rosen am Boden, wie auch leere Gläser auf dem Tische. Ich sah mir das alles an und begab mich dann in den Keller und holte aufs Geratewohl eine Flasche Wein herauf. Es ergab sich, daß es ein schwerer weißer Wein war, wovon ich zwei Gläser füllte, damit ich auch anstoßen könnte. Es gab einen sehr tiefen, reinen Ton, der mit hellerem Nachklang wundervoll durch den leeren Saal rollte. Während ich langsam in träumerische Rückgedanken verfallen, das Glas leer trank, kam die Dämmerung; und wie mir nun einfiel, daß ich ganz allein in dem öden Hause war, kam mir ein Schauder an, und ich mochte nicht länger bleiben. Ich trank mein Glas bis auf den letzten Tropfen aus und warf es gegen die Marmorplatte eines Spiegels, daß es in mehrere Stücke zersprang; das andere Glas blieb voll auf dem Tische stehen. Wenn um Mitternacht ihr ruheloser Geist durch diese Räume geschwebt wäre, hätte er sich Lebenswärme davon nippen können. Im Fortgehen fiel mir das Apfelbäumchen ins Auge; die späten Unglücksblüten waren aber inzwischen abgewelkt, und es sah wüst aus wie ein altes wirres Weib, das sich mit zerfetztem Putz behängt hat, weil es die Schönheit seiner Jugend nicht vergessen kann.

Als ich nach Hause kam, erfuhr ich, daß Ezard dagewesen sei und die Nachricht von der Erkrankung des Kindes gebracht habe. Man hatte es sofort nach dem Spital geschafft, worauf Onkel Harre selbst bestanden hatte, da ein jeder ohne Ausnahme dazu verpflichtet war. Ich begab mich unverzüglich zu Eva und fand sie allein, denn Onkel Harre war beständig bei der Kleinen und kam nur von Zeit zu Zeit, um von ihrem Befinden Nachricht zu geben. Eva stand mitten im Zimmer, als ich eintrat, und rührte sich nicht, ließ sich still von mir umarmen und küssen - denn etwas anderes wußte ich nicht zur Begrüßung - und fing dann an, rastlos im Zimmer auf und ab zu gehen. Ich bat sie, mir zu erzählen, wie es gekommen sei, denn ich hielt es für besser, daß sie spreche, wenn auch etwas, das ihr Herz zerreißen mußte; sie gab sich auch ersichtlich Mühe, es zu tun, konnte es aber nicht vollenden, sondern sagte plötzlich dringend: »Warst du je in dem Spital, Ludolf? Beschreibe mir, wie es da aussieht. Ich kann es gut aushalten, sie muß es ja leiden. O Ludolf, meine Blume, mein Knösplein, meine Seele in diesem Grabe!« Ich versuchte ihr vorzustellen, daß sie sich eine übertriebene und allzuschaurige Vorstellung von dem allerdings trübseligen Aufenthalte mache, aber sie hörte nicht auf mich. »Er ist bei ihr und mich läßt er nicht,« murmelte sie vor sich hin; »wäre ich nur ein Mann!« So wenig ich auch zu ihrem Troste sagen oder tun konnte, schien es mir doch, als sei es ihr recht, daß ich da sei, und ich blieb da, was sie übrigens für selbstverständlich hielt oder doch als nichts Auffälliges empfand, obschon es Nacht war. Als ich in unsere Stille hinein Onkel Harres Schritte vernahm, erschrak ich bis zum Übelwerden, Eva hingegen wußte sich in solchem Maße zu bezwingen, daß sie Onkel Harre entgegengehen konnte mit einem Lächeln auf dem weißen Gesicht, welches allerdings viel mehr wie das eines umgehenden Geistes als eines lebendigen Menschen anzusehen war. Er sagte nichts als die Worte: sie lebt; was er aber nicht wie eine Freudenbotschaft verkündigte, sondern so hoffnungslos aussprach, als bedeute es nur, daß die Angst und Qual verlängert sei. Auch sagte zunächst niemand von uns ein Wort; Eva holte zu essen und zu trinken für Onkel Harre, aber er rührte nichts von allem an. Endlich wagte Eva doch zu bitten: »Sage mir etwas von ihr!« worauf er seine brennenden Augen mit einem unbeschreiblichen Blick auf sie richtete und erwiderte: »Was soll ich sagen? Sie kennt mich nicht mehr.« Gleich darauf erhob er sich zum Gehen; da er schon an der Tür war, ging Eva ihm nach, legte beide Arme um seinen Hals und hob ihr Gesicht zu ihm auf, daß er sie küssen möchte. Er riß sie an sich und stürzte dann mit einem erstickten Aufschluchzen aus dem Zimmer. Ich blieb nun die Nacht über bei Eva, die leicht wie das losgerissene Blatt einer weißen Lilie in den Kissen eines Sofas lehnte. Man konnte meinen, hinter ihren großen blauen Augen und der blassen Stirn die rastlosen Angstgedanken zittern und klopfen zu sehen. Da sie nicht daran denken konnte zu schlafen, bat sie mich, ich möchte spielen. Weil es aber tief in der Nacht war, wagte ich nicht, die Tasten voll anzuschlagen, sondern dämpfte den Ton, daß er von weither zu kommen schien, und wenn es auch träumerisch und traurig stimmte, so lockte das halblaute Klingen uns doch von der harten Wirklichkeit weg.

Ich weiß nicht, wie wir diesen Zustand der Erregung aushalten konnten fast ohne zu schlafen und zu essen, obwohl es den folgenden Tag in ähnlicher Weise weiterging. Das Furchtbarste aber kam am dritten Tage, als Onkel Harre die Nachricht brachte, daß die Gefahr vorüber zu sein scheine. Denn so sehr auch die Angst vor einem kommenden Schrecknis martern kann, so beginnt doch das unerträglichste Leiden erst dann, wenn eine neue Hoffnung sich in das Herz einschleicht und es in ewig zitternder Bewegung zwischen Höhen und Tiefen hält. Onkel Harre war nach kurzer Rast wieder fortgeeilt, nachdem er versprochen hatte, möglichst bald mit Botschaft zurückzukommen. Während Eva bisher meist still und regungslos und weiß wie eine Tote gewesen war, erhitzte jetzt eine fieberhafte Röte ihr Gesicht, und die Hände bald ineinander reibend, bald die verwilderten Locken damit aus der Stirn streichend, ging sie in allen Zimmern auf und ab, trat dann ans Fenster und wieder zurück oder kniete neben einem Sessel nieder und preßte ihren Kopf in die Kissen. Ihre Unruhe verminderte sich auch nicht, sondern wuchs mit jeder Minute, und sie geriet zuletzt, da sie sich gar nicht mehr zu helfen wußte, auf den Einfall, zu beten, fühlte sich selbst aber wohl zu verworren und bewußtlos dazu und wandte sich deshalb an mich, indem sie bittend sagte: »Bete Ludolf, ja? Bitte, laß uns beten!« Nun wollte mir aber in diesem Augenblick durchaus kein Gebet einfallen, ausgenommen das Vaterunser, welches ich mich noch leidlich herzusagen getraut hätte, doch konnte ich eine bestimmte Abneigung gegen dasselbe nicht überwinden. Indessen sah mich Eva beschwörenden Blickes an und zupfte mich zur Unterstützung ihres Verlangens demütig am Ärmel, so daß ich ihr um alle Welt gern den Willen tun wollte. Da fiel mir ein, daß ich den Anfang des ersten Buches Mosis, für das ich immer eine besondere Vorliebe und Anhänglichkeit gehabt hatte, auswendig wußte, und da es, insofern es aus der Bibel war, immerhin für ein Gebet gelten konnte, entschloß ich mich dazu und sagte einen Vers nach dem andern: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe, und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: es werde Licht. Und es ward Licht. Und Gott sahe, daß das Licht gut war. Da scheidete Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht.

Da ich bemerkte, wie Evas Augen mit Inbrunst an meinen Lippen hingen, denn vermutlich hörte sie nur den biblischen Tonfall, ohne im mindesten die Worte zu verstehen, setzte ich gar nicht ab, sondern fing immer wieder von vorne an, wenn ich nicht weiter wußte: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer. Was sie alles mit derselben Verzückung aufnahm.

Über dem Hersagen hatten wir nicht gehört, wie Onkel Harre die Treppe heraufkam, und so waren wir, obwohl die ganze Zeit über in heißester Erwartung, nun im letzten Augenblick völlig unvorbereitet, als er die Tür aufriß und ein unförmliches Bündel auf den Boden legte: Heileke, das Kind, in viele große Tücher gewickelt, die nun auseinanderfielen, so daß es schneeweiß mit offenen Augen vor uns dalag. Eva stieß einen lauten Schrei aus und warf sich neben dem Kinde zur Erde. Onkel Harre war sogleich schwankenden Schrittes auf einen Stuhl zugegangen und in Tränen ausgebrochen, was eine Folge der übermäßigen Aufregung und Anstrengung dieser Tage sein mochte. Ich hatte Muße, Herr über meine Rührung zu werden, während ich Eva betrachtete, die neben dem Kinde halb lag, halb kniete, es bald ansah, bald an sich drückte mit Ehrfurcht und Scheu, als wäre es etwas Heiliges; und da sie, ohnehin zart und zierlichen Wuchses, in den letzten Tagen bleich und magerer geworden war ebenso wie die Kleine, hatten sie wenig Irdisches an sich und ließen sich wohl mit zwei durchsichtigen, schwesterlichen Engeln vergleichen, die sich oben im Sternenraum auf ebenso lichten Wölkchen schwebend, nach gramvoller Trennungszeit wieder umarmen.

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