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XXVI

Der Senat hatte sich endlich bereit erklärt, sich mit einer ausgiebigen Summe an den Wasserwerken zu beteiligen, so daß die Anlage nun ihren Fortgang nehmen konnte. Dies war ohne Zweifel Ezards unermüdlichem Wirken zuzuschreiben; er arbeitete unter den ungünstigsten Sternen wie Herkules, ohne zunächst durch sichtliche Erfolge gestärkt und angefeuert zu werden. Jetzt allerdings, wo ich von meiner Warte aus die Vergangenheit ganz überblicken kann, sehe ich, daß sich unsere allgemeinen Verhältnisse dank Ezards Bemühungen im Aufstiege befanden. Damals aber konnte man nicht wissen, ob das vielleicht nur eine flüchtige, vorübergehende Hebung des Weges war. Und es sollte auch noch eine Schreckenszeit kommen, die unsern Untergang herbeizuführen schien, und von der ich nun zu sprechen versuchen will.

In den östlichen Ländern war die Cholera ausgebrochen. Man las die Berichte in den Zeitungen nicht ohne Mitleid und Schauder, etwa so, wie man furchtbaren Begegnissen auf der Bühne gegenüber erbebt, von denen man mit wohltätiger Bestimmtheit weiß, daß sie einen selbst nicht treffen und nie erreichen können. Als man dann hörte, die Krankheit habe sich in der Hafenstadt Marseille gezeigt - auf ägyptischen Schiffen eingeschleppt -, da überlief es einen dennoch; es war, als habe das Gespenst nun den Boden Europas betreten und hauche seinen giftigen Atem vor sich her. Manche glaubten aber, eine voreilige Angst verlachen zu müssen, oder sie verlachten sie wirklich. Zu denen gehörte mein Onkel Harre. Denn seinen bereits erwähnten Auffassungen ganz entsprechend, pflegte er die Verheerungen, die gewisse Krankheiten anzurichten pflegen, zu einem großen Teil auf die unverständige Furcht der Menschen zurückzuführen. Die ausführlichen Berichte und Schilderungen in den öffentlichen Blättern hielt er für verwerflich, weil sie den Schrecken und die Angst im Volke vermehrten; überhaupt sei es ein Unwesen, von der Cholera in so ganz anderer Weise zu sprechen als von irgend einer anderen Krankheit. Man stelle sich an, als ob etwas Übersinnliches, Geisterhaftes dabei sei, ein Fluch oder ein Verhängnis, dem man nicht entrinnen könne. Man bekreuze sich und erbleiche, wenn man den Namen der Cholera ausspreche, als wäre sie eine leibhaftige Hexe, die jeden, der ihr mißfalle, vergiften und vergeben könne.

Ich erinnere mich mit Deutlichkeit aller Umstände, womit es anfing. Wir waren im Monat Juni und es war so heiß, daß selbst die Nächte unerträglich waren. Ich hatte mich gegen Abend zu Eva geschlichen und atmete mit Begier die Luft eines leidlich kühlen Zimmers, in welchem die Läden den ganzen Tag über geschlossen waren. Heileke, das Kind, saß vor einem Tischchen, auf dem ihr Lieblingsspielzeug stand, eine Art von Musikkistlein mit metallenen Tasten, aus denen sie mit einem winzigen Hammer kleine, klingende Töne hervorlockte. Ganz blond und weiß im kurzen Röckchen erschien sie mir wie ein Blumenelf, der vermittels Staubfäden Musik macht, indem er damit an die zarte Wand des Glöckchens klopft, das er bewohnt. Plötzlich betrat Onkel Harre das Zimmer in einer Art, die sogleich die nicht geringe Erregung verriet, in der er sich befand. Ohne mich zu begrüßen, obwohl er mich gesehen hatte, fing er heftig an zu sprechen. »Im Hafenquartier,« sagte er, »ist ein Todesfall vorgekommen, der der Cholera zugeschrieben wird. Dieser Wittich (der soziale Rheinländer) kam und meldete es mir; nach der Art jener Burschen, die jedes Räuspern einer Fliege sogleich vor das Tribunal des Volkes bringen möchten, verlangte er, daß der Fall sofort öffentlich in den Zeitungen bekannt gemacht werde. Das wäre der Weg, auf dem wir mit Sicherheit die Cholera morgen in der Stadt hätten, wenn wir sie jetzt noch nicht haben.«

Mir war ein bleicher Schrecken ins Mark gefahren, denn ich hatte ein unbeschreibliches Grauen vor ekelhaften Krankheiten, und ich muß gestehen, daß ich nicht ungern sogleich ein Billett gelöst hätte, um nach dem äußersten Pol unseres Erdballs zu entweichen. Eva war gleichfalls erschrocken, sie hielt aber an sich und fragte, ob es denn wirklich erwiesen sei, daß der erwähnte Todesfall durch die Cholera herbeigeführt sei. Onkel Harre zuckte mit den Achseln und sagte, auf den Wittich könne er sich nicht verlassen; denn diese Sozialdemokraten seien so an Übertreibung und Verdrehung gewöhnt, daß sie einen Rausch oder Katzenjammer für die Cholera ausgeben könnten; er wolle sich noch selbst überzeugen. Nun aber erblaßte Eva doch und bat ihn, das zu unterlassen, indem sie einen besorgten Blick auf das Kind Heileke warf. Onkel Harre lachte und sagte: »Dahaben wir es! Ich hätte auch zu euch nicht davon sprechen dürfen. Die Angst macht jedermann unzurechnungsfähig. Bedenke doch, wie häufig ich zu Kranken komme, die mir die Keime einer tödlichen Krankheit überliefern könnten. Der Tod ist hundertfach in jedem Mundvoll Luft, den wir einatmen. Wir müssen unsern Körper so halten, daß er das verdauen lernt.« Er setzte sich mit diesen Worten zu der Kleinen auf ihr schmales Kindersofa, nahm sie in die Arme und ließ sie tanzen, worüber sie vergnügt auflachte, denn sie liebte ihren Vater mit besonderer Innigkeit. Ich ärgerte mich über diese rücksichtslose Art, Eva zu quälen, sie hingegen mußte ich umsomehr bewundern; sie verriet mit keinem Worte und keiner Miene ihre innerliche Unruhe, gab sich vielmehr Mühe, die Sache nun ruhig zu besprechen und zu erwägen. Onkel Harre wollte indessen nicht viel davon hören, sondern steifte sich mehr und mehr darauf, daß das Ganze eine Bangemacherei sei, woran die Sozialdemokraten stets ein besonderes Vergnügen hätten.

In mir aber saß das Grauen fest, und ich hatte in der Nacht einen gräßlichen Traum, von dem ich noch dies weiß, daß ich alle Straßen unserer Stadt überblicken konnte, und daß sie mondhell und ganz still und leer waren bis auf eine einzige hin und her wandelnde Gestalt, von der ich wußte, daß es die Pest war. Sie sah aus, wie ich es einmal auf einem Bilde gesehen hatte, orientalisch angetan, mit einem feuerroten Turban über dem fahlen Gesicht, fürchterlich schön, tödlich aus den bösen Augen blickend. An viele Türen malte sie ein seltsames Zeichen, und ich wußte, daß alle sterben mußten, die in einem solchen Hause lebten. Zuletzt kam sie auch an unser altes Haus, das in meinem Traume wohl wieder uns gehörte, sonst wäre mein Herz nicht so erbebt, als ich das Gespenst sich ihm nähern sah. Lautlos trat es in die Gartenpforte, glitt an dem Beete vorbei, auf dem ich die Lilien blühen und sich auf merkwürdig bedeutungsvolle Art wiegen und neigen sah, malte aber nichts an die Haustür, sondern glitt hinein, da sie sich plötzlich von selbst öffnete und ebenso wieder hinter ihm schloß. In diesem Augenblick wachte ich auf.

In meiner Besorgnis und Ratlosigkeit begab ich mich zu Ezard, indem ich hoffte, er könne mir etwas Tröstliches mitteilen oder würde doch das Richtige zu unternehmen wissen. Mein Bericht von dem vermeintlichen Auftreten der Cholera machte insofern keinen sonderlichen Eindruck auf ihn, als er selbst von Natur keine Furcht vor Krankheiten hatte, indessen beunruhigte ihn das, was ich ihm von dem Betragen seines Vaters in dieser Angelegenheit sagte, und alles, wessen er ohnehin von ihm gewärtig sein zu müssen glaubte. Sowie er Zeit habe, sagte er, würde er ihn aufsuchen, um sich mit ihm zu besprechen und in ihn zu dringen, daß keine Vorkehrungsmittel, soweit solche bekannt seien, außer acht gelassen würden.

Obwohl nun in den Zeitungen nichts von der Cholera erwähnt war, noch einer von uns darüber gesprochen hatte, war schon am folgenden Tage das Gerücht verbreitet, sie sei in der Stadt. Onkel Harre versuchte es uns gegenüber auch nicht mehr zu leugnen, meinte indessen, das Unglück sei nicht so groß; in vielen größeren Städten sei die Cholera jedes Jahr wie irgend eine andere Krankheit, und man denke sich nichts Besonderes dabei. Er äußerte heftigen Groll über Philipp Wittich, welcher ihn bestürmte, die ganze Angelegenheit nun öffentlich zu behandeln; denn schon herrsche überall, sagte dieser, Aufregung und Unruhe, und gerade weil man nichts Bestimmtes wisse, könnten sich die ungeheuerlichsten Gerüchte ungemaßregelt verbreiten. Aber je dringender er wurde, desto eigensinniger beharrte Onkel Harre auf der gegenteiligen Meinung, behauptete, Wittichs Eifer sei unvernünftig und habe unlautere Gründe, ja, er habe die Gerüchte aus persönlichem Übelwollen selbst verbreitet, und indem er sich mehr und mehr in diese Überzeugung hineinredete, vergaß er selbst, daß es sich um eine allgemeine Sache handelte, die er vorurteilslos, ohne an sich oder andere einzelne Personen zu denken, zum Besten der Stadt hätte führen sollen.

Die Zahl der Todesfälle nahm nun derartig zu, daß ein Verheimlichen nicht mehr möglich war. Wie ein Feuer, das sich lange Zeit im Verborgenen weiterfressen konnte, auf einmal in Flammen von erstaunlicher Gewalt ins Tageslicht hineinschießt, so schien die gefürchtete Krankheit mit einem Schlage übermächtig dazustehen, weil ihre schleichenden Anfänge nicht beobachtet worden waren. Eine rasende Todesangst ergriff nun alle Menschen. Keiner wußte, was er zu tun hatte. Viele ergriffen die Flucht. Die Zurückbleibenden wagten sich zum Teil kaum noch genügend zu ernähren aus Furcht, etwas Schädliches zu sich zu nehmen, teils lebten sie in prahlerischer Tollkühnheit noch unbedachtsamer als zuvor, wie wenn sie einen persönlichen Gegner vor sich gehabt hätten, dem gegenüber man sich nicht auf einer Feigheit ertappen lassen dürfe. Da man sich ein so plötzliches und allgemeines Unglück nicht erklären konnte, richtete man seinen Blick auf die Behörden, und es wurden bereits Vorwürfe laut, als hätten sie, von dem unheimlichen Gaste bestochen, sein fliegendes Gespensterschiff heimlich bei Nacht und Nebel in den schlummernden Hafen einlaufen lassen.

Onkel Harre in seiner Stellung an der Spitze des Medizinalwesens wurde von diesen Vorwürfen besonders betroffen. Ich erinnere mich eines Abends, wo er uns noch zu später Stunde besuchte, was uns umsomehr überraschte, als er nicht die Gewohnheit hatte, sich häufig bei uns sehen zu lassen. Der Urgroßvater saß träumend in einer Sofaecke, während ich im dunklen Nebenzimmer Klavier spielte. Wir empfingen ihn beide mit Teilnahme, die seiner jetzigen schweren und bedrängten Lage galt. Noch sehe ich ihn vor mir mit seiner hohen, schlanken Gestalt, die zwar so aufrecht dastand wie immer, aber weniger durch natürliche Schwungkraft als durch angestrengten Willen gehalten zu sein schien. Ehe er sich setzte, fragte Onkel Harre, ob wir auch keine Angst vor Ansteckung hätten, da er sonst sogleich wieder gehen würde; sie würde zwar unbegründet sein, indem er stets ausreichende Vorsichtsmaßregeln treffe. Der Urgroßvater verneinte und bat ihn zu bleiben; auch war er in Wahrheit so furchtlos wie der ewige Jude, der mit der Pest ins Bett steigen konnte, wie es heißt, ohne zu siechen. Greise pflegen den Erscheinungen der Welt stets eine erhabene Gelassenheit entgegenzusetzen, was sich leicht daraus erklärt, daß sie schon so viele herankommen und auch die furchtbarsten an sich vorübergehen gesehen haben. Ich hingegen setzte mich in nicht allzu auffälliger Entfernung von Onkel Harre. Er fing nun mit außerordentlicher Klarheit von den Zuständen in der Stadt, vom Ursprung und Gang der Krankheit zu reden an. Das Grundübel, sagte er, sei die schlechte Wasserleitung, welche den Krankheitsstoff in jedes Haus einschleppe. Es würde alles anders sein, wenn die neue Anlage bereits fertig und in Gebrauch wäre; die Stadt würde jetzt infolge der Epidemie weit größere Summen ausgeben und verlieren müssen, als eine rechtzeitige, gründliche Anhandnahme der Wasserwerke sie gekostet haben würde. Ferner sprach er davon, wie es an allem Nötigen fehle: an Häusern, wo die Kranken abgesondert werden könnten, an Krankenpflegern, um sie zu pflegen, dazu an nützlichen Bestimmungen, die sogleich in Kraft treten könnten, damit auch die Privatpersonen wüßten, wie sie sich zu verhalten hätten und in ihren Maßregeln überwacht würden. An alledem, sagte er, sei er zum Teil selbst schuld, indessen mehr noch die übergroße Sparsamkeit des Senates, welcher gemeinnützige Einrichtungen meist nur dann gutgeheißen habe, wenn Glanz nach außen damit verbunden gewesen sei, und vollends, wenn kein augenblicklicher Vorteil dabei abzusehen gewesen sei, sie von einem Jahre zum andern verschoben habe. Er erzählte dies alles mit so viel Ruhe, Ernst und Einfachheit, wie es bei ihm nicht gewöhnlich war. Der Urgroßvater hörte gern und mit aufmerksamer Teilnahme zu und erkundigte sich, was mein Onkel nun zu tun gedenke, um das Versäumte wieder gut zu machen.

Onkel Harre sagte: »Ich tue wenig, aber doch alles, was ich kann. Ich stehe mit meiner Person auf dem gefährlichsten Posten. Im Volke heißt es, die Großen dächten nur an sich und ihr ungestörtes Wohlleben und ließen die Armen umkommen in ihren elenden Quartieren. Wer begriffe nicht, daß sie so denken, die Unglücklichen, die ja wirklich die ersten hilflosesten Opfer sind! Retten kann ich die wenigsten. Aber ich bin den ganzen Tag über in den Spitälern; nach Hause komme ich nur auf Augenblicke und zwinge mich, Eva und die Kleine nicht zu sehen, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Eva hat es nicht haben wollen, aber sie gibt mir nach, weil sie meine Angst sieht. Vieles, ja das meiste überlasse ich Ezard. Denn mir fehlt die Überlegenheit, die aus innerer Ruhe entspringt, die Sicherheit im Entscheiden, was mit Nutzen zu ergreifen ist, und was mehr ist, die Sicherheit es zu ergreifen. Ich bin alt geworden. Früher waren mir Anfeindungen ein willkommener Stachel, der mich zu frischerem Handeln spornte; jetzt lähmen sie mich. Aber diese sind auch anderer Art. Jetzt fühle ich einen stetigen, nie weichenden Druck auf mir, und wenn ich mich besinne, was es ist, so klingt mir das Wort Schande im Ohre. Alle Kraft, die ich noch in mir habe, gebrauche ich, um diese ungewohnte Last weiter zu tragen - so weit, wie es gehen will.«

Mich ergriff ein grenzenloses Mitleiden, das noch zunahm, als ich des Urgroßvaters bewegte Miene sah und seine gütige Freundlichkeit gegen Onkel Harre, die zum ersten Male seit langer Zeit die alte Abneigung überwand. »Solche Ereignisse,« sagte der Urgroßvater milde, »haben ihr Gutes für die Menschen neben dem Übel. Im gewöhnlichen Lebensgange überläßt sich jeder nur allzusehr dem Alltäglichen und läßt sich gehen, denn das, was täglich von uns gefordert wird, bedingt nur mäßige Kraft, die man leicht in genügendem Maße aufbringen kann. Kommen aber außergewöhnliche Schicksale mit ihren außergewöhnlichen Anforderungen, dann langt der Mensch einmal in seine Brust und holt den Hort hervor, den sonst vielleicht nie jemand zu sehen bekäme. Jede Empfindung und jedes Vermögen wird gesteigert; und ist es nicht zuletzt das Höchste im Leben, wenn man seiner selbst bewußt werden und seine inneren Kräfte ganz entfalten kann?«

In Onkel Harres Augen leuchtete es einen Augenblick auf wie in alten Zeiten, und er sagte feurig: »Ja, das ist schön und ist wahr;« sodann fügte er langsam hinzu: »Aber für mich ist es zu spät. So mag es einem Baume zu Mute sein, wenn im März die lauen Winde und die starke Sonne kommen, und er kann nicht mehr grünen und knospen wie die andern, weil der Winter ihm zu übel mitgespielt hat. Ich bin alt geworden.« Er sank, nachdem er dies gesagt hatte, in sich zusammen und stützte den Kopf in die Hand. Der Urgroßvater rückte immer näher und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Harre,« sagte er gerührt, »du bist vom Schöpfer so verschwenderisch, so groß, so glänzend ausgestattet. Wenn du erkennst, oder zu erkennen meinst, daß du diese Gaben nicht immer so weise verwendet hast, wie du hättest können, machst du dir mit einem Male zu eigen, was dir vielleicht noch fehlte. Du bist noch nicht zu alt, um dich nach einer Niederlage noch einmal aufrichten und besseren Tagen entgegensehen zu können.«

»Nicht zu alt,« entgegnete Onkel Harre; »ich bin erst fünfundsechzig, also habe ich mehr als fünfundzwanzig Jahre weniger als du. Aber ich bin anders als du und lebte anders. Du kennst uns ja! Ja, wir sind ein reiches, glänzendes Geschlecht, aber es fehlt uns etwas. Wie soll ich es nennen? Ist es das Maßhalten? die menschliche Bescheidenheit? Ja, das ist es! Das ließ uns das Alltägliche zu sehr geringschätzen. Wir wollten immer nur auf den Höhen sein; wir wollten nicht von unten herauf dienen. So habe ich mich aufgerieben und überspannt; ich habe schlecht gewirtschaftet mit meinem Kopfe. Mein Gott, mit welchen Hoffnungen stürmte ich in das Leben! Und so lange ich noch kräftig war, bemerkte ich nie, ob sie sich erfüllten oder nicht, ich hoffte und stürmte weiter. Gleichzeitig sehe ich nun sie und mich selbst zusammenbrechen. Wie hat mein Bruder geendet? Wie wird mein Sohn enden? Nichts als Trümmer liegen hinter mir, und ich lasse nichts als Trümmer zurück.«

Der Urgroßvater saß sinnend still in einem Stuhle, nachdem Onkel Harre ausgesprochen hatte. Es schien, als blicke er in jenen Born der Erinnerung aller Dinge, der der Sage nach an den Wurzeln der Weltesche ewig murmelnd entspringt. »Ja,« sagte er nach einer geraumen Weile, »es ist kein Glück mehr bei euch und bei uns. Und da es nach meiner heiligen Überzeugung eine über uns waltende, zwar unbegreifliche, aber unbestechliche Gerechtigkeit gibt, so mögen wir diesen Untergang wohl selbst verschuldet haben.«

Ich war aufgestanden, während der Urgroßvater diese Worte sagte, und stellte mich im Nebenzimmer an das offene Fenster, um eine große Bewegung zu verbergen. Ich hörte von da die beiden leise weitersprechen, ohne aber zu verstehen, was sie sagten. Draußen war es ganz still, es hatte sich seit Wochen kein Luftzug geregt, die Hitze brütete in sich hinein. Nach einiger Zeit ertönte das langsame Rollen eines der Krankenwagen, die beständig in der Stadt hin und her fuhren, um die von der Seuche ergriffenen in die für sie bestimmten Baracken zu führen. Obwohl man sich an das dumpfe Geräusch und den Anblick dieser Wagen bereits hätte gewöhnen können, berührte es mich doch immer noch in unheimlicher Weise, zum Teil da es mich an eine Vorstellung aus meiner Kinderzeit erinnerte. Ich hatte mir nämlich als Kind, wenn ich Nachts aus der Ferne Räderrollen hörte, ich weiß nicht mehr warum, eingebildet, das sei der Totenwagen; auf dem Bock säße der Tod in einem schwarzen, flatternden Mantel, auf seinem klappernden Schädel einen blanken, niedrigen Hut, wie ich solche an unseren Droschkenkutschern zu sehen gewohnt war, und hole die Menschen ab, da helfe kein Widerstreben, sausend in die schwarze Nacht hinein. Diese Phantasie hatte ich längst vergessen gehabt, bis sie mir nun auf einmal wieder in den Sinn gekommen war, so daß ich die Krankenwagen besonders in der Nacht nie ohne einen ähnlichen Schauer hören konnte, wie ich damals als kleiner Junge empfunden haben mochte; wozu freilich jetzt mehr Ursache war als damals, indem in der Tat nicht viele von denen wiederkehrten, die in die unheilvollen Wagen steigen mußten.

Der Wagen hielt in unserer Straße an, was mir wohl auffallen konnte, da in unserem Quartier die Erkrankungen immerhin noch selten waren. Ich hörte eine Tür gehen und ein Geräusch von wimmernden Stimmen. Onkel Harre, der es auch vernommen haben mußte, trat plötzlich zu mir und bog sich aus dem Fenster, um zu sehen, was es gebe. Ich sagte: es scheint, daß man ein Kind holt; vielleicht will die Mutter es nicht von sich lassen. Er war ganz fahl im Gesicht geworden; ohne ein Wort zu sagen, begab er sich wieder in das andere Zimmer, stürzte schnell ein Glas Wein hinunter, das der Urgroßvater ihm eingeschenkt hatte, und verabschiedete sich dann. Es war ersichtlich, daß er infolge der gegen ihn erhobenen Anklagen, vielleicht auch geheimer Vorwürfe, die er selbst sich machte, anfing, sich gleichsam als Mitschuldiger der Cholera zu fühlen, so daß ihm jeder Laut des Jammers, der durch sie hervorgerufen wurde, so ins Herz traf, als habe er selbst ihn verschuldet. Vielleicht auch hatte er an sein eigenes Kind gedacht, die zarte Heileke; denn er schien die unglückselige Einbildung gefaßt zu haben, dies von ihm am meisten geliebte Leben werde als ein Sühnopfer durch die Krankheit von ihm genommen werden. Ich sah ihm nach, wie er so aufrecht, wie er gekommen war, die Straße hinabging und einen langen schwarzen Schatten nach sich zog.

Der Urgroßvater saß noch in Gedanken versunken auf demselben Platze, als ich wieder zu ihm trat. »Es ist nur gut,« sagte er, den Kopf erhebend, da er mich gewahrte, »daß Galeide so weit fort ist. Sollte die Krankheit auch in die Schweiz kommen, so könnte sie wohl noch tiefer in die Berge flüchten, wo keine Gefahr mehr ist.« Obwohl ich nun Galeiden ihre Sicherheit wohl gönnte, so entrüstete es mich doch, daß der Urgroßvater, anstatt Mitleiden für so viele Bedrohte, die ihm nahe standen, zu empfinden, sich aus dem Gedanken Genugtuung schöpfte, daß doch Galeiden nichts geschehen könne. Ja, ich bin gewiß, wenn er uns alle hätte hinsterben sehen, so würde neben billigem Bedauern seine nächste Beobachtung gewesen sein, wie groß doch die Gefahr sei, und wie Gott es gut gemacht habe, daß er ihr Galeiden gütig entrissen habe. Umsomehr nahm ich mir vor, über Eva und ihr Kind zu wachen. Wie es in der Vorzeit üblich war, daß an der Schuld eines einzelnen jeder aus seinem Geschlechte Anteil hatte und sich verpflichtet fühlen sollte, sie mit seiner Kraft zu sühnen, so nahm ich mir nun vor, mich an Onkel Harrens Seite zu stellen und allem Ekel und Grauen zum Trotz das mörderische Gespenst, das uns ans Leben wollte, zu bekämpfen.

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