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Seit der Taufe des kleinen Harre feierten wir kein Familienfest wieder, keine Zusammenkunft, mein' ich, die wahrhaft festlich gewesen wäre. Denn obwohl die Sorge uns damals schon angefaßt hatte, so trug sie doch noch ein jeder vor dem anderen verborgen, und wenn sie auch der eine vom anderen wußte, so hatte doch noch keiner davon gesprochen, und deshalb konnte man auf Stunden so tun, als wäre nichts gewesen. Auch waren wir damals noch friedfertig untereinander und fühlten uns als eine Einheit, so daß, gerade wenn wir beisammen waren, das Gefühl unseres Zusammenseins tröstlich und ermutigend war; denn als Ganzes waren wir ein trutziges Häuflein, das sich den Anprall eines widrigen Geschicks aufzufangen wohl getrauen durfte. Nun aber fiel unserm Trupp ein neuer Angriff in den Rücken und trieb ihn auseinander, plötzlich, ungeahnt, daß kein Schirm und Schild zur Abwehr da war.
Wie der kleine Harre gesund weiterwuchs, faßte er eine herzliche Liebe zu Galeiden und sie zu ihm, so daß sie alle andern Menschen und Dinge darüber vernachlässigte. Denn das war ihre Art: wenn sie einmal etwas mit Neigung ergriff, so geschah es mit einer Kraft und Ausschließlichkeit, die etwas Hinreißendes an sich hatten und alles überwältigten. Der kleine Harre wachte und träumte von ihr, ließ sich von ihren Augen leiten, an denen doch eigentlich nichts Besonderes zu sehen war, lachte, wenn sie kam, und ließ die Mundwinkel erbärmlich hängen, wenn sie ging. Lucile duldete das hauptsächlich deshalb ohne Eifersucht, weil es Galeiden betraf, die sie vergötterte, dann aber auch, weil sie das kleine Mädchen, das sie hernach zur Welt brachte, dem Knaben vorzog. Vielleicht hätte sie ihn lieber gehabt, wenn er nicht Harre geheißen hätte, nun aber betrachtete sie ihn ganz als zu dem Großvater gehörig, der sie nicht sonderlich anerkannte; denn von solchen geringen und äußerlichen Dingen ließ sie sich mitunter beeinflussen. Dagegen war mein Vetter Ezard nicht zufrieden, daß der Kleine so gänzlich in Galeidens Gewalt war, obwohl er als der einzige fast zu gleichem Recht mit ihr in seinem Herzen herrschte. Er mochte fürchten, daß sie ihn allzusehr verwöhne; was er sonst daran auszusetzen haben konnte, weiß ich nicht, denn das kleine Geschöpf war im Grunde gut bei meiner Schwester aufgehoben, und er war zu gerecht, als daß er das nicht hätte einsehen müssen. Übrigens brachte es der höfliche Ton, in welchem Ezard und Galeide miteinander verkehrten, mit sich, daß er ihr niemals etwas Ernstliches darüber sagte, doch war es seinem Benehmen hie und da anzumerken und verursachte wohl einmal eine kleine Verstimmung. Mein Vater, der, wie seine Sorgen sich vermehrten, immer schwermütiger und immer mißtrauischer wurde, beobachtete dieses Verhältnis mit einer Aufmerksamkeit, deren es uns andern allen ganz unwürdig schien. Er gab sich der seltsamen Meinung hin, Ezard und Galeide seien sich einer strafbaren Neigung füreinander bewußt, und dies sei die Ursache ihres veränderten Benehmens (das überhaupt vielmehr als in der Wirklichkeit in seiner Einbildung bestand). Mit dieser merkwürdigen Verblendung peinigte er sich und uns alle und ging sogar, was er für seine Pflicht hielt, mit der vermeintlichen Hiobspost zu Lucile. Er trug dabei eine pathetische Feierlichkeit zur Schau, die Mama und mich halb belustigte, halb ärgerte. Lucile aber lachte ihn aus und nahm das ganze als einen köstlichen Spaß auf, wie denn häufig einer selbst Furcht vor Gespenstern hat, aber gleich nichts mehr davon verspürt, sowie ein anderer anfängt zu zittern und sagt: sieh, da hockt es im Winkel.
Sie erzählte die Unterhaltung, die sie mit unserem Vater gehabt hatte, nicht nur mir, sondern auch Galeiden wieder, wobei wir alle den immer schlimmer werdenden Zustand des unglücklichen Mannes beklagten, nicht minder aber uns, die wir darunter zu leiden hatten. Ob Lucile auch ihrem Manne davon sagte, weiß ich nicht oder habe ich vergessen; es ist aber gewiß, daß er und meine Schwester sich in vollständiger Unbefangenheit gegenüberstanden oder, wie man ebensogut sagen könnte, in der Befangenheit, die für Lucile immer ein Gegenstand des Bedauerns und der Verwunderung gewesen war.
Es kam aber noch etwas dazu, was meinen Vater in seinem Wahne bestärkte. Damals bewarben sich zwei junge Männer um meine Schwester, von denen der eine ihm als Schwiegersohn sehr zugesagt hätte. Es war ein Bürger unserer Stadt, nicht übel im Äußeren, geschmeidigen Geistes, so daß er, obwohl von anderem Schlage als wir, sich ganz in unsere Art hineingelebt hatte und dem Urgroßvater sowie meinen Eltern stets in der Weise zu begegnen wußte, die ihnen am besten zusagte. Er tat das aber nicht aus Berechnung allein, sondern es war auch eine natürliche Freundlichkeit der Gesinnung, die ihm ein richtiges Verständnis der Menschen vermittelte. Auch Galeiden und mir behagte er ausnehmend, da er, was wir vorzugsweise liebten, einen gutartigen und dabei feinen Witz in der Unterhaltung entfalten und bei anderen entfesseln konnte. Je trüber die Stimmung in unserem Hause zu werden drohte, sobald wir allein waren, desto mehr waren wir erfreut über die Zerstreuung und Ablenkung, die er uns brachte, und wir ermutigten ihn, seine Besuche recht oft zu wiederholen, ohne daran zu denken, welche Folgen das nach sich ziehen konnte. Er war auch musikalisch, was bei uns, da wir alle die Musik leidenschaftlich liebten und betrieben, einen jeden gut einführte und beliebt machte. Er war nämlich berufsmäßiger Cellospieler und hatte eine gute und angesehene Stellung im Orchester unserer Oper. Er hieß Georg Wendelin. Galeide war ihm sichtlich sehr zugetan, aber ebenso deutlich war ihr anzumerken, daß sie nichts für ihn empfand, was Liebe hätte erwarten lassen können. Sie war ihm auch, so reich wie er ausgestattet war mit Geist und Talent, dennoch überlegen, insofern als sie einen stärkeren, ausgeprägteren Charakter hatte als er, was sich auch bald zeigte; denn er ließ sich blindlings von ihr beherrschen, ohne auf die mindeste Gegenseitigkeit in dieser Hinsicht Anspruch machen zu können.
Der andere, ein Rheinländer, stand ihrem Herzen noch ferner, aber beschäftigte sie mehr durch die fremdartigen Ideen, die er in unseren Kreis brachte. Denn dieser war ein Jüngling nach der neuesten Mode, hatte alles gelesen und über alles nachgedacht, fand alles schlecht, was war, und vermaß sich, alles besser machen zu können, hing auch, wie man sich hiernach schon denken kann, dem sozialistischen Glauben an und übertrug seine Neuerungssucht auf alle Gebiete, als Poesie, Musik, Malerei und so weiter. Solche Dinge hatten starke Anziehungskraft für Galeiden, aber da sie sich nie von anderen etwas einreden ließ, sondern, und das sage ich zu ihrem Lobe, alles selbst eingesehen und erfahren haben wollte, bevor sie es als ihre Meinung vertrat, setzte sie dem jungen Manne zunächst noch ihre alten Ansichten entgegen, die großenteils nichts als überkommener Hausrat waren, den sie kaum einmal auf seine Brauchbarkeit geprüft hatte. Der junge Rheinländer gereichte mir wegen seiner Ansichten zu unausstehlicher Widerwärtigkeit, dagegen gefiel er meiner Mutter recht wohl, und sie erbaute sich höchlich an seinen überspannten Äußerungen. Sie war nämlich von so urwüchsiger Frische des Geistes, daß nichts Formelhaftes an ihr blieb und sie beeinflußte, darum störte sie das Ungewohnte einer Idee nicht, sondern sie brachte ihr immer wenigstens den Geschmack entgegen, den man am Durchstreifen einer unerforschten Gegend findet, auch wenn sie einem an sich nicht würde gefallen können. Der Urgroßvater vollends war durchaus für den Rheinländer, der nebenbei ein gefälliger und genialisch zugestutzter Mensch war; er bildete sich unvermerkt zum Sozialisten und Umstürzler heran, was er so prächtig mit seinen aristokratischen Vorurteilen zu vereinigen wußte, daß es mir ein psychologischer Hochgenuß gewesen wäre, wenn nicht der junge Mensch, Philipp Wittich hieß er, ganz aufgebläht durch diesen Erfolg geworden wäre. Deswegen machte es mir Verdruß. Galeide verkehrte mit ihren beiden Verehrern in aller Behaglichkeit; sie ließ sich überhaupt nicht ungern und recht anmutig den Hof machen, zumal wenn es die betreffenden Leute auf eine kurzweilige und nicht alberne Art anzustellen wußten.
Sie war dabei ihres Herzens ganz sicher; denn das blieb kalt wie Marmelstein, und es bekümmerte sie wenig, welches die Gefühle der armseligen Jünglinge sein mochten, wenn sie so zutraulich und geschwisterlich mit ihnen umging. Sie erinnerte in dieser Hinsicht an die Kinder, die zufriedenen Gemütes den Fröschen und Käfern Beine ausreißen und sie zappeln sehen, welche Grausamkeit uns wohl mit Abscheu erfüllt, aber den Kindern billigerweise nicht zur Last gelegt werden darf, da sie ohne Absicht und man möchte sagen unbewußt handeln.
Wir suchten es zu vermeiden, daß Wendelin und Wittich bei uns zusammentrafen; denn wegen der Nebenbuhlerschaft, dann aber auch wegen der Verschiedenheit ihrer Naturen und Ansichten, waren sie einander spinnefeind und erregten einen feindselig unruhigen Ton in der Unterhaltung, der die Gemütlichkeit verscheuchte. Allen beiden war wiederum mein Vetter Ezard nicht gewogen, und das war es eben, was meinen Vater in der Ansicht unterstützte, er gönne meine Schwester niemandem, trachte überhaupt danach, daß sie, wenn er sie nun auch nicht für sich haben könne, doch wenigstens keinem anderen angehöre. Da nun mein Vater, immer seine furchtbare Vermögenslage im Sinn, auf das heißeste wünschte, meine Schwester verheiratet und gut versorgt zu wissen, war er für eine Heirat mit dem Cellisten sehr eingenommen, wenn er auch zu zartfühlend war, um Galeiden mit der geringsten Andeutung beeinflussen zu wollen.
Daß Ezard dem Rheinländer nicht gewogen war, schrieb sich mehr von der Verschiedenheit ihrer Naturen als ihrer Ansichten her; denn obwohl er die Sucht nach Neuerungen, und noch dazu gewaltsam herbeigeführten, mißbilligte, suchte er doch nach seiner großen Gerechtigkeitsliebe stets die Person von ihren Meinungen zu trennen und bemühte sich oft, einen Menschen zu schätzen, indem er seine Ansichten bekämpfte. Aber bei der Jugendlichkeit des Rheinländers streiften dessen wie Offenbarungen verkündigte Behauptungen oft an Unbescheidenheit, denn er konnte sie kaum gründlich erfahren und erprobt, nur eben von der Straße aufgelesen haben. Man merkte ihm an, daß er auf trockenem, sandigem Boden erwachsen, zum Ungewöhnlichen und Überschwenglichen hinstrebte, ohne etwas Entsprechendes in seiner eigenen Natur zu haben, in der Art, wie verwachsene Menschen oft eine Sucht haben, sich mit buntem, auffälligem Flitter aufzuputzen. Weniger gut kann ich mir erklären, warum Ezard gegen Wendelin zurückhaltend war. Es scheint mir das Glaublichste, daß eine gewisse Unkraft und Mittelmäßigkeit in der Natur des Cellisten ihn zu dem Ausspruch bewog, er wolle zwar gern mit ihm scherzen und musizieren, halte ihn aber für keinen wünschenswerten Zuwachs unserer Familie.
Mein Vater bildete sich nun nicht nur ein, Ezard rede und handle so im Hinblick auf Galeiden, sondern ebenso glaubte er von ihr, sie verschmähe ihre Freier um Ezards willen; wenn sie ihn auch nicht liebe, obwohl dies wahrscheinlich sei, so könne sie es doch nicht übers Herz bringen, seinen Wünschen zuwiderzuhandeln. In dieser irrigen Meinung war er vollständig befangen und vertiefte sich mit der Vorliebe gewisser Menschen für ihr eigenes Leiden absichtlich immer mehr hinein, indem er Ezard und Galeiden, wo er nur konnte, unablässig beobachtete und stets neue Bestätigungen seiner Vermutung wahrzunehmen glaubte. Sich selbst aber machte der Unselige mit seinen schwarzen Befürchtungen und Verkündigungen bei uns allen so unwillkommen, wie die Propheten des alten Bundes dem Volke von Jerusalem waren, und er litt wie diese zwiefach Unerhörtes, einmal durch den Schmerz über das bevorstehende Unglück, an das er selbst fest glaubte, sodann durch die Kaltherzigkeit derer, die ihm nahe standen, und die sich nun, in ihrem bequemen Dahinleben gestört, ihm mehr und mehr entfremdeten.
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