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Unterdessen war Anna Elisabeth zu Hause angekommen und hatte Galeidens Zimmer bezogen. Ihre Gegenwart machte sich sofort auf das erfreulichste fühlbar. Wo sie war, konnte es weder traurig noch langweilig sein. Ja, bezaubernd konnte sie sein, obgleich sie viel zu träge und zu vornehm war, um es darauf abzulegen. Sie erinnerte mehr als ihre Schwester Eva an meine Mama und an Galeiden, aber sie war schlanker in allen Verhältnissen und ätherischer; ihre Hände waren das Weißeste, Schlankste und Feinste, was man sich denken kann. Sie war einige Jahre älter als ich und liebte es, mich zierlich neckend wie einen Knaben zu behandeln, was mich wohl sehr verdrossen hätte, wenn ich einer gewesen wäre, so aber kam es mir höchst anmutig vor, und ich ließ es mir gerne gefallen. Sie wußte mit allen Menschen in der für sie passendsten Art zu verkehren und zeigte für alle ein gemäßigtes Wohlwollen; niemals war sie, wie so viele Frauen sind, eifersüchtig auf die Vorzüge der andern, sondern freute sich aufrichtig an denselben, was sie wohl konnte, da sie unter den Allerschönsten und Allerliebenswürdigsten noch prächtig zur Geltung kam, und zwar ohne daß sie selbst das mindeste dazu zu tun schien. So war sie die Ursache, daß das Leben in unserem Hause ein gefälligeres Aussehen gewann, besonders nachdem der Weihnachtsbaum entfernt war, der noch immer einen Duft trauriger Erinnerung um sich verbreitet hatte. Als man ihn fortgenommen hatte, sagte der Urgroßvater: Nun sitzt das Kind nicht mehr unter dem Baume; womit er Galeiden meinte, die er wohl im Geiste noch immer dort gesehen haben mochte.
Ezard sahen wir nun nur noch selten; unser Haus mochte ihm öde erscheinen, seit Galeide es verlassen hatte, auch hatte Lucile den Plan gefaßt, ihn durch ein wechselreiches Gesellschaftsleben zu zerstreuen. Hieran fand sie zugleich selbst Vergnügen, was sie aber sich selbst so wenig wie irgend jemand anders eingestanden hätte; mein Vetter dagegen hatte die mäßige Lust, die er an der Geselligkeit gehabt hatte, nun vollends verloren, betrug sich indessen so vergnügt und unterhaltend, wie es anständig war, und lebte überhaupt äußerlich so weiter, als ob die Abreise Galeidens ihn nichts angehe oder doch keinen Einfluß auf ihn habe. Er fuhr noch fort, sich hie und da auf Reisen zu begeben, obwohl kein eigentlicher Grund mehr dazu vorlag; wenigstens in Ansehung der Wasserwerke war man allmählich zu einem Schlusse gekommen, der für uns alle von großer Wichtigkeit war.
Der Norweger, von dessen Beliebtheit in unserer Familie ich gesprochen habe, hatte den Plan zu einer Wasserleitung entworfen, wobei ein von ihm selbst erdachtes System zur Anwendung kommen sollte, das an Güte und Brauchbarkeit, wie er versprach, alles bisher Bekannte übertreffen würde. Es gelang ihm, Onkel Harre vom Werte seiner Erfindung so vollkommen zu überzeugen, daß derselbe sich zu einer gewagten Unternehmung hinreißen ließ. Der Senat nämlich zögerte trotz aller gemachten Vorbereitungen, etwas Gründliches zu tun; besonders aber stieß er sich an dem Umstand, daß Karlsen ein Fremder war, während man den mit dieser Anlage verbundenen Ruhm und Gewinn einem Einheimischen lieber zugewendet hätte. Auch hatte Karlsen nicht verhehlt, daß es großer Summen bedürfte, bis alles in den richtigen Gang gebracht sein würde, welche zu wagen unser Rat in allzugroßer Vorsicht und Bedenklichkeit Scheu trug. Dagegen machte er dem Norweger den Vorschlag, er möchte die Ausführung seines Planes auf eigene Hand unternehmen, in welchem Falle er, der Senat, sich zur Übernahme des Ganzen gegen eine beträchtliche Summe und Rückerstattung der Kosten verpflichten wollte, sowie die Brauchbarkeit der Wasserleitung sich erwiesen habe. Ezard war von uns der einzige, der das Technische der Angelegenheit in etwas zu beurteilen verstand, allein er war sich wohl bewußt, daß er einen großen Teil seiner Kenntnisse eben durch des Norwegers Vermittlung gewonnen hatte und kaum befähigt war, ihn zu übersehen. Er verhielt sich deswegen der Sache gegenüber zurückhaltend, während Onkel Harre seinen Glauben an die Persönlichkeit des jungen Ingenieurs unbesehen auf seine Erfindung übertrug, von der er im Grunde so wenig verstand wie vom Ding an sich oder von der Dreieinigkeit. Ohne irgend jemand zu fragen, noch auf jemand zu hören, warf er den größten Teil seines Vermögens in diese Unternehmung, für deren Gelingen er keine andere Bürgschaft hatte als die zuversichtliche Haltung des Norwegers, welcher aus eigenen Mitteln nicht im stande war, seine Erfindung ins Leben zu rufen, aber aufs bestimmteste versicherte, in wenigen Jahren würde Onkel Harre seine Einlage vervielfältigt zurückerhalten. Nachdem mein Onkel einmal diesen Schritt getan hatte, hielt es Ezard für das einzig Richtige, nun alle denkbare Kraft auf ein rasches Vorwärtsschreiten des Werkes zu richten, damit es nicht durch nachlässige Handhabung ins Stocken gerate. Zu dem Zweck beteiligte er sich nicht nur gleichfalls mit Geld an dem Unternehmen, sondern er warf seine übrigen Berufsgeschäfte nunmehr gänzlich beiseite und widmete sich lediglich der Förderung dieser großartigen Anlage. Die lebhafte Tätigkeit, zu der ihn dies veranlaßte, befriedigte ihn zunächst und erfüllte ihn mit Hoffnungen auf Gelingen des Planes und günstige Verwertung des daran gewagten Kapitals. Je nachdem aber Stockungen oder Schwierigkeiten in der Sache an den Tag traten, konnte man ihm auch eine innere Unruhe anmerken; ja, immer häufiger hatte er ein zerstreutes, rastloses Wesen an sich, das durchaus nicht seiner wahren Natur entsprach. Er machte sich dann Vorwürfe, daß er seinen Vater nicht gewaltsam zurückgehalten hatte, sein Vermögen aufs Spiel zu setzen; denn wenn das eingebüßt wurde, so mußte allerdings ein unabsehbares Unglück entstehen.
Onkel Harre nämlich hatte in der letzten Zeit so merklich gealtert, daß es selbst für uns, die wir ihn fast täglich sahen, auffällig war. Zwar erfreute er uns noch immer durch die straffe Haltung und den elastischen Gang, womit er jünglingshaft einherschritt, aber seine Arbeitskraft hatte nachgelassen, und ebenso erlahmte der Übermut seiner früheren Lebensauffassung. Während er sonst meinen Vater gern geneckt hatte wegen seiner Schwarzseherei, vermochte er jetzt oft selbst nicht einen tiefen Trübsinn von sich abzuschütteln, plagte sogar nicht selten seine junge Frau mit solchen düstern Anwandlungen. Freilich bestand noch der Unterschied, daß an ihm krankhaft erschien, was meines Vaters natürliche Art war. Auch verlachte er sich selbst und bekämpfte es mannhaft, und als ihm das auf andere Weise nicht gelang, suchte er es auf dem Wege ärztlicher Behandlung zu bessern. Man pflegt zu sagen, daß die geschicktesten Ärzte in Bezug auf sich selbst blind seien. Dies traf nicht ganz in Bezug auf meinen Onkel zu, wenigstens hatte er Augenblicke, wo er seinen eigenen Zustand aufs deutlichste erkannte. Aber er hatte eine Theorie, wonach man körperliche Leiden mehr als durch Arzneien mit dem Willen bekämpfen sollte und besiegen könnte, eine Auffassung, zu der ihn seine starke und vielvermögende Natur gebracht hatte und die auch manches Korn Wahrheit in sich haben mag, die aber für einen Arzt, wenn er ihr grundsätzlich anhängt, doch mitunter gefährlich werden kann. Es kam auch wirklich vor, daß er darüber die rechtzeitige Anwendung derjenigen Mittel vernachlässigte, welche den Leidenden durch Einwirkung auf den Körper heilen sollen. Als es ihm nun allmählich klar wurde, daß bei ihm der Wille nicht mehr das ausrichtete, was er von ihm verlangte, verzweifelte er im innersten Bewußtsein völlig an einem Wiedererlangen der richtigen Gesundheit und Kraft, fing aber doch an, sich zu den verschiedensten Kuren herbeizulassen, und besuchte bald dieses, bald jenes Bad, kehrte aber, da er ohne rechtes Zutrauen war und sich deshalb gar nicht an die vorgeschriebene Lebensweise hielt, stets mit noch mehr zerrütteten Nerven zurück. Es paßte auch wirklich seine Theorie auf ihn so gut wie vielleicht auf keinen sonst, und daß sein Geist das Krankhafte in ihm nicht bemeistern konnte, war ein Zeichen, daß eben der Geist selbst nicht mehr gesund war, sei es nun, daß Alter, oder daß ein anderes Leiden ihn abschwächte. Diese Erkenntnis war denn auch meinem Onkel viel eher gekommen, als er sich merken ließ, und tat ihm die furchtbare Möglichkeit auf, bei zunehmendem Alter geradezu einer Geisteskrankheit zu verfallen. Er sprach nun sogar zuweilen davon, aber nur dann, wenn er bei sehr lustiger, ja übermütiger Laune zu sein schien, so daß man es für Scherz und Unsinn wie anderen halten konnte. Er pflegte dann etwa zu sagen: »Ihr jungen Leute, du Ezard oder du Ludolf, bewährt euch in einem solchen Augenblicke als wahrhaft freie und groß denkende Menschen und drückt mir eine Waffe in die Hand, damit sich der körperliche Tod dem geistigen sofort anschließt. Denn es ist die Pflicht eines Menschen, der Söhne und Töchter hat, ihnen nicht nur einen guten Namen, sondern auch das Bild eines kräftigen und tüchtigen Vaters zu hinterlassen, damit sie sich seiner erfreuen, und er ihnen eine wohltätige Erinnerung sei, nicht aber ein Popanz, der sie für ihre eigene Zukunft fürchten macht.«
Mit solchen Reden entsetzte er die unschuldige Eva und ebenso Lucile, die sie umsomehr für frevelhaft und vermessen ansah, als sie sie für bloße Worte ohne tiefere Meinung hielt, noch mehr aber den Urgroßvater, nach dessen Ansicht der Selbstmord eine Todsünde war, wovon er nicht einmal reden zu hören ertragen konnte. Der Urgroßvater nämlich, der sich in einem philosophisch verbrämten Christentum gefiel, sah Gott gewissermaßen als die höchste Weisheit und Zusammenfassung alles Guten in der Welt an, dem es vorbehalten bleiben müsse, mit dem Leben der Menschen zu schalten. Der Selbstmörder war in seinen Augen ein ruchloser Aufwiegler, der in die Rechte der Allmacht eingreift, ein Prometheus, der dem Licht- und Lebensverleiher einen Funken entwendet, und für den keine Strafe dort und kein Urteil hier zu schmachvoll sei.
Anna Elisabeth hatte einen weit schärferen Blick als ihre Schwester Eva und viel weniger Vorurteile als ihr Großvater und faßte deswegen Onkel Harres Andeutungen einerseits ernster auf als Eva, anderseits beurteilte sie sie weniger streng als der Urgroßvater. Aber sie wandte sich von allem ab, was häßlich und trübselig war, und verstand es, mit großer Geschicklichkeit derartige Gespräche in das Geleise spielender Plauderei überzuleiten und nichts von ihren tieferen Gedanken zu verraten. Indessen bekümmerte sie sich viel um Onkel Harres und Evas Vermögensverhältnisse mit einem Verständnis für Geldangelegenheiten, das mich in Erstaunen und Bewunderung versetzte, und machte Eva Vorstellungen, daß sie sich mit diesen Dingen beschäftigen müsse, da sie nicht erwarten könne, daß ihr Mann das völlige Erwachsensein ihrer Kinder erlebte (freilich hatte sie bis dahin nur eines, und es blieb auch dabei) und sie dann für die fernere Erziehung aufzukommen habe. Zu mir sagte Anna Elisabeth einmal: »Lieber Ludolf, es war recht unklug, daß sich eure Familie mit der unserigen verband. Denn wir Olethurms stellen das weibliche Prinzip dar, ihr Ursleuen das männliche: Nun sagt man, daß der Mann erwerben, die Frau das Erworbene zusammenhalten müsse. Was kann aber wohl Gutes daraus entstehen, wenn beide das sie Treffende gerade am mindesten verstehen? Eigentliches Erwerben, worunter zu verstehen ist, rastlos und fleißig einen gediegenen Taler zum anderen fügen, das könnt ihr nicht; wir aber, wie ich dir gerne zugestehen will, hätten noch längst den einen ausgegeben, ehe der folgende dazukäme. Kurz, wir können nichts, als in ausgesuchter Weise uns zu gegenseitigem Verderben in die Hände arbeiten. Hätte ich euch alle früher so gut gekannt, wie ich euch jetzt kenne, so hätte ich nie zugegeben, daß Eva noch durch den Gemahl an euch gekettet würde.«
Eva suchte sich nun zu verteidigen und kramte die Grundsätze, nach denen sie ihren Haushalt eingerichtet hatte, stolz vor uns aus; sie waren auch nach meinen Begriffen achtbar genug, aber Anna Elisabeth lachte und sagte: »Du Goldkind, jedes deiner Worte bestätigt nur, was ich sage. Das also hältst du Arglose für Sparen und Zusammenhalten? Wenn man dir nun sagen würde: Aber dies und dies und jenes wäre doch überflüssig! so würdest du antworten gerade wie der Großvater: Ja, das muß sein! das ist anständig und menschenwürdig! das ist einfach notwendig!« Ich sah wohl ein, daß Anna Elisabeth gut beobachtete und im ganzen recht hatte, dennoch taten mir ihre Worte weh, und zwar, wie ich jetzt klar sehe, weil sie zu beweisen schienen, wie wenig sie an eine nochmalige Verbindung unserer Geschlechter untereinander dachte. Ich sagte hierauf, daß mir scheine, mit der Erkenntnis dieser Schwächen wäre zugleich der Grund zu ihrer Besserung gelegt, und wenn man einmal wisse, daß man irregehe, könne man auch mit einiger Anstrengung auf den rechten Weg gelangen. Da sah mich Anna Elisabeth mit ihren feinen grauen Augen unbeschreiblich lächelnd an und sagte: »Lieber Junge, wenn du jemals wie ein tauglicher Bürger Geld verdienen und anhäufen kannst, so hast du deine schönsten Talente bisher mit mehr Verstellungskunst vor mir verborgen, als ich dir zugetraut hätte. Ich bekenne von mir, daß ich mehr Kraft in mir fühle, die Schätze des Königs von Siam zu vergeuden, als das Einkommen unseres eben angeführten Bürgers auf den Jahresring zu verteilen; und diese Selbsterkenntnis rechne ich mir zum Verdienst an, denn sie allein unterscheidet mich von den übrigen Olethurms und bewahrt mich vor unklugen und verderblichen Handlungen.«
Es vermehrte meine Bewunderung für Anna Elisabeth, daß sie so außerordentlich recht hatte, aber ich behielt mir vor, ihr einmal durch die Tat zu beweisen, daß sie mich doch nicht so völlig durchschaut hätte, wie sie glaubte, und ich genoß im Geiste schon die bescheidenen Freuden eines schlichten und arbeitsamen Lebens. Allein an dieser Vorfreude ließ ich mir genug sein und verschob den wirklichen Beginn dieses verbesserten Wandels auf einen Zeitpunkt, den ich mir merkwürdigerweise immer in einer gleichbleibenden Entfernung vorstellte. Ich war aber dabei überzeugt, daß ich eines Tages die Welt durch plötzliche Entfaltung der trefflichsten bürgerlichen Tugenden überraschen würde, und freute mich darauf wie auf die Taube, die dem Schlaraffen gesalzen und gebraten vom Himmel her in den offenen Mund fliegt.
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