Annie Hruschka
Der Feind aus dem Dunkel
Annie Hruschka

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VII.

Schloß Ybbenburg war einst kaiserlicher Besitz gewesen, der nach dem Umsturz von der republikanischen Regierung beschlagnahmt und in ein Invalidenheim umgewandelt worden war. Der dazugehörige große Park war als öffentlicher Volkspark freigegeben worden, doch wurde er vom Volk seiner entlegenen Lage wegen nur wenig benützt.

Es ging auf sieben. Hartwig Henter schritt in ungeduldiger Erregung die Wege um das kleine Säulentempelchen herum auf und ab. Das Tempelchen lag auf einem kleinen Hügel, war rund und nach allen Seiten offen. Innen stand nach je zwei Säulen eine der neun Musen in Stein gehauen. Dazwischen gab es plumpe Steinbänke.

Es war dunkel und einsam ringsum. Nur vom Schloß, wo jetzt die Invaliden eben beim Abendbrot saßen, fiel ein Schein aus erleuchteten Fensterreihen herüber, der wenigstens die Umrisse der Dinge erkennen ließ. In diesem Dämmerschein sah Hartwig nun eine schlanke verschleierte Frauengestalt auf sich zu kommen.

Rasch ging er ihr entgegen.

»Serena?«

»Ja, ich bin's. Oh Hartwig . . . so lange . . .« Mit einem trockenen Aufschluchzen, das sie nicht zu unterdrücken vermochte, warf sich Serena Eltz an seine Brust. Er schlang die Arme um sie und drückte den schlanken Leib fest an sich, als wolle er ihn nie wieder freigeben. Einen Augenblick lang ruhten sie so stumm Brust an Brust, und alles, was sie bisher bedrückt hatte, ging unter in der Seligkeit des Wiedersehens.

»Du liebst mich also doch noch?« stammelte Hartwig überwältigt vom Glück dieser Erkenntnis.

»Wußtest du das nicht? Immer . . . immer . . . wie könnte ich anders?«

»Und hast mir kein Wort geschrieben! Zwei Jahre lang kein Zeichen dieser Liebe gegeben!«

»Hattest du nicht mein Wort? Fühltest du nicht jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, daß meine Seele bei dir war? Ich glaubte es Papa schuldig zu sein, diese zwei Jahre äußerlich ihm ganz allein zu widmen, eben weil ich dann ja dir angehören will! Glaubst du, es war leicht? Aber nun . . . am 6. Dezember werde ich mündig, dann . . .«

Er verschloß ihr den Mund mit heißen Küssen. Wie unrecht hatte er ihr getan! Wie töricht erschien ihm jetzt jeder Zweifel an ihr!

Aber Serena machte sich plötzlich erschrocken von ihm los.

»Nicht deshalb, Liebster, bin ich gekommen; daß ich dich liebe, weiß du ja längst . . . etwas anderes, Schreckliches führt mich her, und ich habe wenig Zeit. Papa glaubt mich bei Bekannten . . . O, Hartwig, schon als ich nach unserer Heimkehr erfuhr, was mit Herrn Holzmann geschehen ist, packte mich solch innere Unruhe. Er war doch dein Freund, und ich stellte mir vor, wie furchtbar das alles für dich gewesen sein mußte, und dann . . . wie Papa mir erzählte, daß . . .«

Sie vermochte nicht weiter zu sprechen, aber Hartwig sah erstaunt, wie sie heftig an allen Gliedern zitterte, während ihr Gesichtchen, das der eben aufgehende Mond mit hellem Schein überstrahlte, einen Ausdruck von Schreck und Verzweiflung angenommen hatte.

Unwillkürlich legte er den Arm stützend um sie.

»Was ist, mein Lieb? Warum sprichst du nicht weiter? Ja, Gerhards trauriges Ende hat mich furchtbar erschüttert, und ich werde lange brauchen, bis ich darüber hinweg komme. Aber was erregt dich dabei so sehr?«

Sie nahm sich zusammen.

»Ich will es dir sagen, darum bin ich ja gekommen . . . die Leute sagen . . . dein Name wird überall genannt . . . man glaubt nicht an die Wahrheit von Holzmanns Aussage, ein Unbekannter habe auf ihn geschossen . . . man behauptet . . . lieber, lieber Hartwig, die Menschen sind so schlecht . . . sieh, ich weiß doch ganz genau, daß all dies Wahnsinn ist . . . aber ich hab solche Angst um dich! Heute mittag hat Papa, der ja Untersuchungsrichter Wasmut kennt . . . die Nachricht heimgebracht, daß . . . daß man . . . daß auch die Behörde den bösen Klatsch kennt und dich . . .«

Wieder übermannten sie Schmerz und Aufregung, so daß sie nicht weiter zu sprechen vermochte.

Hartwig sah sie unverwandt an – noch begriff er nicht . . .

»Man glaubt Gerhard nicht? Und mein Name wird genannt? Warum? In welcher Beziehung? Ich versteh' dies alles nicht, Serena. Du mußt es mir schon deutlicher erklären!«

Sie nahm seine Hände in die ihren, sah ihm tief, angstvoll, wie beschwörend in die Augen und murmelte tonlos: »Ja, ich muß es dir sagen . . . wer sonst sollte es wagen? Sie sagen, du hättest ein Liebesverhältnis mit Lydia gehabt, Gerhard hätte euch überrascht und da . . . da hättest du ihn niedergeschossen! Alles andere wäre nachträglich erfunden worden . . . von Gerhard . . . um seine Frau zu schonen . . .«

Nun war es heraus. Fast hätte der armen Serena zum drittenmal die Stimme versagt.

Hartwig Henter, der sehr bleich geworden war, stand unbeweglich da, als habe er einen Schlag auf den Kopf bekommen, der ihn aller Denkkraft beraube.

Und doch jagten die Gedanken wirr durch sein Hirn. Es war das erstemal, daß ein Wort von dem Gerede, das über ihn umging, an sein Ohr schlug, und doch wirkte dies Wort wie eine Hand, die einen Schleier zerriß . . .

Das sagte man! Und darum also schienen so viele seiner Bekannten ihn in den letzten Wochen nicht zu kennen, wenn er sie grüßte. Darum grüßten seine eigenen Angestellten ihn mit eisiger Höflichkeit und verschwanden bei Bureauschluß fluchtartig schnell. Darum hatte die Typmamsell ohne ersichtlichen Grund gekündigt. Darum erklärte heute morgen die Aufwartefrau mit scheuem Blick, sie könne morgen am nächsten Tage nicht mehr kommen, ihre Tochter sei krank . . . Darum wandte ihm die Hausbesorgerin schon seit ein paar Tagen grußlos den Rücken, wenn er ihr im Stiegenflur begegnete . . .

Sie alle wußten von dem Gerede und – glaubten . . .

Während diese Bilder blitzartig an ihm vorüberglitten, färbte sich sein blasses Gesicht dunkelrot, preßten sich seine Lippen fest zusammen, und ein zorniges Funkeln trat in seinen Blick.

Seine Hände ballten sich unwillkürlich, als wollten sie alle die niederschlagen, die so Furchtbares von ihm dachten.

Plötzlich durchfuhr ihn ein neuer Schreck. Er nahm Serenas Kopf in seine Hände und starrte angstvoll in ihre Augen, die die ganze Zeit über nicht von ihm gewichen waren.

Glaubte auch sie vielleicht? . . .

Aber nichts als innige, gläubige Liebe strahlte ihm daraus entgegen, und dann sagte sie, die alle Regungen in ihm bis auf die letzte mitempfunden hatte, das lockige Köpfchen schüttelnd, sanft: »Nein, Hartwig, das traust du mir ja doch im Ernst nicht zu! Aber sagen mußte ich es dir doch . . . damit du es nicht unvorbereitet von andern erfährst . . .«

»Ja, natürlich . . . ich danke dir! Aber es ist entsetzlich! Ein solcher Verdacht, und . . . wie soll ich mich wehren dagegen? Ich kann mich doch nicht auf die Straße stellen und meine Unschuld erklären! Ich kann auch niemand niederschlagen, der mich scheel ansieht! Kann's keinem übelnehmen, wenn er mich für einen Mörder hält . . . er tut's ja im guten Glauben . . . die Leute erzählen sich's ja allerorten! . . . ›Die Leute‹, diese Hydra, die man nicht fassen, der man nicht beikommen kann . . .«

Er war außer Rand und Band.

Da legte sich eine weiche kühle Mädchenhand beruhigend auf seine brennende Stirn.

»Du mußt es nicht so schwer nehmen, Liebster! Es tut mir weh, wenn ich dich leiden sehe. Was ist es denn weiter als haltloses Geschwätz, das kommt und wieder geht . . . Laß uns lieber beraten, was zu tun ist! Papa erzählte mir, daß man dich wahrscheinlich eine Zeitlang beobachten wird . . ., dem mußt du zuvorkommen. Ich dachte, es wäre am besten, du verreistest für eine Weile, bis sich die Gemüter hier beruhigt haben. Heute noch, Hartwig . . . man kann ja nicht wissen . . . wenn du z. B. nach Italien gingest . . . nein, das geht nicht wegen der Paßgeschichten. Aber nach Tirol vielleicht . . . in ein kleines stilles Bad . . . wo du Ruhe hast und arbeiten kannst? Geld habe ich mitgebracht, du kannst es mir später einmal zurückgeben . . . lieber Hartwig, bitte, tu es mir zuliebe!«

Er hatte sich kerzengerade aufgereckt.

»Unmöglich! Fliehen vor einem leeren Gerede? Wie kannst du mir das zumuten?«

»Nicht vor dem Gerede, vor einem Verdacht, dessen Auswirkungen unerträglich werden können . . .«

»Nein! Nimmermehr! Bin ich nicht ein Mann, der sich wehren kann und wird, der überhaupt bloß seine Unschuld darzutun braucht? Außerdem, Serena, bedenke das: Fliehen hieße in diesem Falle doch, sich schuldig bekennen! Und ich bin doch an der ganzen Sache so unschuldig wie der Mond da oben am Himmel! Nein, nein, mache dir keine Sorgen meinetwegen! Es hat mich nur im ersten Moment niedergeworfen . . . Du begreifst . . . ein solcher Verdacht, daß man ihn überhaupt fassen konnte . . . aber nun lache ich darüber und warte ruhig alles Weitere ab. Morgen, übermorgen, wenn man erst wieder zur Vernunft gekommen ist, lacht alle Welt darüber, du wirst schon sehen!«

»Und wenn nicht?«

»Dann kann's höchstens ein paar Tage länger dauern, und das werde ich ertragen. Glaub' mir, Liebstes, zu Besorgnissen ist wirklich kein Grund vorhanden . . .«

Sie fuhren beide zusammen. Irgendwo im Schlagschattendunkel der Hainbuchenalleen, ganz in ihrer Nähe, hatte der Kies geknirscht, wie unter leisen vorsichtigen Tritten . . .

Einer der Invaliden aus dem Schloß drüben, der hier einen Mondscheinspaziergang machte?

»Natürlich – wer sollte es sonst sein?« dachte Hartwig, aber sein Herz klopfte laut und schnell, und eine angstvolle Stimme in ihm setzte hinzu: »Wenn es aber jemand ist, der Serena gefolgt ist? Ihr Vater vielleicht . . .

»Es ist spät, mein Herz,« sagte er dann scheinbar ruhig, »und du erwähntest, daß du nicht viel Zeit hast?«

»Ja, natürlich, ich muß fort. Gewiß ist es schon höchste Zeit! Laß uns gehen!«

»Wie bist du hergekommen? Mit der Straßenbahn?«

»Nein, ich nahm in der Stadt ein Auto. Es erwartet mich draußen am Parkeingang.«

Sie schritten diesem auf dem kürzesten Wege zu. Hartwig spähte verstohlen, um Serena nicht zu beunruhigen, aber scharf umher. Ein paarmal glaubte er auch tatsächlich einen Schatten zu sehen, der in gleicher Richtung mit ihnen hinglitt. Als sie aber das Parktor erreicht hatten, wo keine Bäume standen, sondern nur ein großer, mondbeleuchteter Kiesplatz sich ausbreitete, konnte er den Schatten nirgends mehr entdecken. Auch trug ja Serena einen weiten Staubmantel aus schwarzer Seide, der ihre Gestalt nicht erkennen ließ, und um den kleinen Seidenhut einen dichten dunklen Autoschleier, den sie wie beim Kommen auch jetzt herabgeschlagen hatte, so daß er Gesicht und Hals ganz unsichtbar machte. Kein Fremder konnte sie so erkennen. Freilich der Vater . . .? Aber das würde der stolze Oberst ja doch nicht tun, daß er seiner Tochter heimlich nachspionierte . . .

Hartwig beruhigte sich bei diesen Gedanken. Noch ein paar zärtliche geflüsterte Worte – dann half er ihr in das Auto hinein und blickte dem fortrollenden Wagen noch eine Weile nach, ehe er sich auch auf den Heimweg machte.

Dieser führte zunächst durch eine lange Kastanienallee, dann ein Stück Landstraße bis zur Endhaltestelle der Straßenbahn.

Während Hartwig nun langsam in der Allee dahinschritt, glaubte er mehrmals auf der andern Seite einen Menschen zu hören, der genau mit ihm Schritt hielt. Auf der Landstraße, wo es hell war, sah er ihn dann auch. Es war ein mittelgroßer Mann mit dunklem, steifem Hut, der weiter nichts Auffälliges an sich hatte. Er ging nun schneller, so daß er Hartwig ein Stück voran kam, blieb aber dann wieder stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Damit verfuhr er so umständlich, daß er später wieder hinter Hartwig zu gehen kam.

Und da endlich durchfuhr es diesen wie ein Blitz: Dieser Mann war der Schatten aus dem Park, aber nicht Serena war er dorthin gefolgt, sondern ihm selbst!

Was Serena ihm als beabsichtigt mitgeteilt hatte, das war bereits Tatsache: Er, Hartwig Henter, wurde polizeilich überwacht!

Es traf ihn doch tiefer, als er gedacht hätte. Welche Schmach! Welche Schande, wenn es jemand bemerkte! Er überlegte hin und her, was er dagegen tun könnte. Sollte er vielleicht morgen zum Untersuchungsrichter gehen und klipp und klar fragen, was man gegen ihn habe? Nein, das könnte wie Schuldbewußtsein gedeutet werden. Je länger er überlegte, desto klarer wurde ihm, daß es am klügsten war, sich den Anschein zu geben, als merke er nichts. Mochten sie ihm nachspionieren, dabei würde sich am besten herausstellen, daß er nichts zu verbergen hatte.

Serena konnte unmöglich erkannt worden sein. Wenn man ihn fragen sollte, würde er einfach sagen, er habe sich mit einer fremden Dame unterhalten, die ihn im Park angesprochen habe, wo sie einen andern Mann erwartete, der nicht gekommen sei.

Er hatte inzwischen die Endstation erreicht, und es entging ihm nicht, daß sein Verfolger, während er selbst den ersten Wagen der Straßenbahn bestieg, sich auf den Beiwagen schwang.

Er fuhr bis zum Hauptplatz der Stadt. Als er dort ausstieg, stieg auch der Mann im Beiwagen aus. Er aß in einem Restaurant zu Abend. Als er das Lokal um zehn Uhr verließ, sah er seinen Verfolger auf der gegenüberliegenden Straßenseite sich eine Zigarette anzünden . . .

Er kümmerte sich nun nicht weiter um den Menschen, ging nach seiner Wohnung, die im selben Hause wie das Bureau lag, und legte sich sogleich zu Bett. Aber die Nacht verging, ohne daß er auch nur für eine Stunde Schlaf fand.

 


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