Annie Hruschka
Der Feind aus dem Dunkel
Annie Hruschka

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V.

Acht Tage nach Holzmanns Tod beschäftigte ein neuer Umstand die Behörde, der zu denken gab.

Ein Gastwirt, namens Johann Golzer, dessen Wirtschaft hinter der Holzmannschen Fabrik lag, erstattete die Anzeige, daß ihm, wahrscheinlich in der Nacht vom 3. zum 4. Oktober, eine Summe von 10 Millionen Kronen gestohlen worden sei.

Es hatte am Abend des dritten Oktober ein Hausball in seiner Wirtschaft stattgefunden, der sehr stark besucht gewesen und bis in die Morgenstunden hinein gedauert hatte.

Unter den Gästen befand sich auch ein Freund des Wirtes, der Golzer Geld geschuldet hatte, sechs Millionen Kronen, und von ihm schon wiederholt dringend an die Schuld gemahnt worden war, da der Wirt das Geld für eine demnächst fällige Zahlung brauchte.

An jenem Abend nun brachte der Schuldner das Geld zurück. Golzer bestätigte den Empfang, wollte aber die Summe in dem herrschenden Trubel nicht bei sich behalten, vervollständigte sie aus der Tageskasse auf zehn Millionen, weil seine Zahlung ungefähr so viel betragen würde, und trug das Geld dann hinauf in sein Schlafzimmer, das im Oberstock lag. Dort verwahrte er es in einer Schachtel unter Wäschestücken seines Schrankes, wo er schon öfter größere Summen für kurze Zeit aufbewahrt hatte.

Er war Witwer, bewohnte das Zimmer allein und trug dessen Schlüssel stets bei sich. Eine alte Magd, die schon zwanzig Jahre in seinem Hause war und für deren Ehrlichkeit er sich verbürgte, besorgte morgens das Aufräumen und überbrachte ihm dann immer sogleich wieder den Schlüssel.

Die Zahlung, für die er das Geld zurückgelegt hatte, sollte heute einkassiert werden. Golzer begab sich nach seinem Zimmer, um das Geld zu holen, fand aber zu seinem Schrecken zwar die Schachtel noch am selben Platz, aber – leer.

Eine Stunde später machte er die Anzeige. Er gab an, daß er im Haus nur erprobte, ehrliche Leute habe und auch sonst niemand wüßte, auf den er Verdacht haben könnte. Er hatte die letzten zwei Wochen sein Haus nicht verlassen, und für einen Fremden wäre es während dieser Zeit ganz unmöglich gewesen, in das Zimmer zu gelangen.

Nur am Abend des Balles sei das vielleicht möglich gewesen, denn da habe man alle Hände voll Arbeit gehabt und nicht so aufpassen können. Auch hätten mehrere Gäste gesehen, wie er das Geld in Empfang genommen und damit in den Oberstock gegangen sei. Indes sei das Zimmer ordnungsgemäß versperrt gewesen, als er es um fünf Uhr früh wieder aufsuchte, um noch ein paar Stunden Schlaf zu finden.

Auf dem Weg zur Polizeibehörde habe er die Sache immer wieder durchdacht und sich dabei an die Mordgeschichte im Holzmannschen Schuppen erinnert. Ob der Mann dort, der auf den armen Herrn Ingenieur geschossen hat, nicht am Ende der Dieb gewesen sein könne, der in Holzmann einen Verfolger vermutete?

Die Sache schien nicht unmöglich. Um so mehr, als die Stube des Wirtes nach der Erdmulde zu lag, durch die Holzmanns Mörder zu dem Schuppen gekommen war, wie Silas Hempel festgestellt hatte.

Man bot eine Menge Leute auf, um die Ballbesucher jenes Gasthauses zu ermitteln, forschte überall in der Umgebung des Hauses nach, nahm zahllose Verhöre vor, erreichte damit aber nichts, als daß auch der Diebstahl vollkommen dunkel und unaufgeklärt blieb, wie der Fall Holzmann.

War es ein Wunder, daß die Behörden bei dieser Sachlage immer nervöser wurden? Daß sie immer ängstlicher den Vorwurf der Unfähigkeit, des Versagens fürchteten und darum mit doppelt geschärften Ohren in das Publikum hinaus horchten, das nicht müde wurde, den Fall von seinem Standpunkt aus zu beleuchten?

Kommissar Heidinger war sonst keiner, der sich irgendwie durch Gerüchte beeinflussen ließ; aber Untersuchungsrichter Wasmut, der viel in der Gesellschaft verkehrte, kam jeden Tag mit neuen Einzelheiten, die man ihm da und dort erzählt hatte – immer mit dem gleichen spöttischen Lächeln über die Untätigkeit der Behörden, die niemand begreife . . .

Eines Tages erhielt die Polizeibehörde einen anonymen Brief, der lautete:

»Vielleicht interessiert sich die Kriminalabteilung, die blind für die Wirklichkeit ist, mehr für Märchen, die der Wind rauscht und die Spatzen auf den Dächern zwitschern . . .

›Es war einmal ein Königssohn, den sein Weib mit dessen bestem Freund betrog. Und eines Nachts, als der Königssohn unvermutet heimkam, fand er sein junges Weib in den Armen des Freundes. Kein Wunder, daß er den Revolver zog und . . . schießen wollte. Aber auch der Freund hatte einen Revolver, und dieser ging eher los . . .

Und das junge Weib warf sich weinend dazwischen und bat und flehte. Da erschrak der Königssohn, besann sich und erkannte, daß für ihn alles verloren war, Weib und Leben, und weil er edlen Sinnes war, erkannte er auch, daß jetzt erst recht das Glück des Weibes, das er liebte, allein in seinen Händen lag. Er konnte es durch ein Wort vernichten für alle Zeit und konnte es erhalten durch Schweigen . . .

Da forderte er von Weib und Freund einen Schwur, daß nichts von dem, was geschehen war, je über ihre Lippen kommen solle.

Dann schleppte er sich, die Faust auf der Todeswunde, hinab in den Vorhof seines Palastes, entließ dort den Freund, schloß selber das Tor hinter ihm ab und ging nach einem unbenutzten Nebengebäude, machte darin Licht und schlug jetzt erst Lärm, bis der Palasthüter erschien und ihn zusammengebrochen fand . . .

Und dann erzählte er, ein Unbekannter, den er nie zuvor gesehen, habe im Nebengebäude auf ihn geschossen . . .

Also rauscht es der Wind über Land, zwitschern es die Spatzen von den Dächern; aber die es angeht, wollen nicht hören . . .«

Auf dem Polizeiamt war man so poetische Ergüsse nicht gewohnt und maß anonymen Zuschriften wenig Wert bei. Man lachte also zuerst darüber. Als aber Untersuchungsrichter Wasmut von dem Brief erfuhr, fand er ihn gar nicht lächerlich.

»Diesen Brief«, sagte er mit großer Überzeugung zum Polizeikommissar, »kann nur jemand geschrieben haben, der den wahren Hergang kennt. Ich bin überzeugt, daß er den Tatsachen entspricht, denn so erklärt sich alles. Ähnliches habe ich ja auch immer vermutet. Es war von Anfang an klar, daß Holzmann den Unbekannten nur vorschützte, weil er den Mörder schonen wollte – warum, erklärt sich jetzt: Weil er seiner Frau die Wege für die Zukunft nicht verlegen wollte! Erfuhr die Welt, daß ihr Geliebter der Mörder war, so hätte sie ihn niemals heiraten können. So aber – Gott, man läßt Gras über die Sache wachsen und dann konnte man immerhin wieder heiraten . . .«

Kommissar Heidinger fing während dieser Rede zufällig ein spöttisches Lächeln auf, das blitzschnell über Silas Hempels Gesicht glitt, der eben eingetreten war.

Und er sagte, unwillkürlich davon beeinflußt, bedächtig: »Sie vergessen dabei nur eines, Herr Untersuchungsrichter, daß bei unaufgeklärten Verbrechen die Öffentlichkeit stets eine sehr rege, meist ins Romanhafte spielende Phantasie entwickelt und dann ihre eigene, so gefundene Lösung der Behörde als ›Tatsache‹ übermittelt. Solche Dinge sind wir gewöhnt und messen ihnen keine übertriebene Bedeutung bei. In diesem Fall möchte ich es um so weniger tun, als ich glaube, daß es wohl ausgeschlossen ist, einen, der den wahren Hergang kennt, als Schreiber des Briefes zu vermuten.«

»Wieso?«

»Wer – nehmen wir an, der angedeutete Vorgang habe sich so abgespielt, wie der Schreiber dartut, – könnte das wissen, außer den drei Beteiligten selbst? Holzmann ist tot, die zwei Überlebenden aber würden dann doch nicht selbst gegen sich zeugen! Von allen Hausgenossen aber haben wir klare Aussagen vorliegen, die nebenbei alle darin gipfeln, daß zwischen Frau Holzmann und Herrn Henter niemals Liebesbeziehungen bestanden haben. Es liegt also nach meiner Ansicht die Annahme näher, daß der Brief einfach ein Phantasiegebilde darstellt, entstanden im Gehirn irgendeines hysterischen Frauenzimmers oder überspannten Jünglings, dem leerer Klatsch als Wahrheit erscheint.«

Aber der Untersuchungsrichter war nun einmal nicht zu überzeugen.

Kalt lächelnd erwiderte er: »Und wenn? Wo Rauch ist, muß Feuer brennen, und die Wahrheit des Spruches ›Volkesstimme – Gottesstimme‹ hat sich von alters her als richtig erwiesen!«

Der Kommissar verbeugte sich achselzuckend.

»Wenn ich Sie recht verstanden habe, Herr Untersuchungsrichter, so wünschen Sie also, daß man auf diesen anonymen Brief hin Herrn Henter als Mörder verhaftet?«

»Das geht wohl nicht an, solange noch kein Beweismaterial gegen ihn gesammelt ist, aber ich erwarte allerdings, daß Sie Ihre Kräfte nunmehr sehr energisch in dieser Richtung hin arbeiten lassen, Herr Kommissar. Henter muß beobachtet und sein Vorleben auf das genaueste erforscht werden; dann werden sich ohne Zweifel Dinge feststellen lassen, die seine Verhaftung rechtfertigen würden. Ich bitte Sie ernstlich, diesen Wink zu beachten, sonst müßte ich die Sache selbst in die Hand nehmen!«

Er grüßte steif und entfernte sich, vom Kommissar, der sich stumm verbeugte, bis an die Tür begleitet.

Silas Hempel stand während dieses Gespräches unbeachtet im Hintergrund des Zimmers.

Jetzt wandte sich der Kommissar, der, obwohl er sich seinerzeit über Hempels Bericht etwas belustigt gezeigt hatte, doch eine hohe Meinung vom Scharfsinn des jungen Detektivs besaß, an ihn.

»Was sagen Sie dazu?«

»Ich? O, ich wundere mich ein bißchen über den Ton Dr. Wasmuts. Er spricht gerade so, als hätte er Ihnen zu befehlen! Bei uns in Wien gehen Polizeibehörde und Untersuchungsgericht stets in schönstem Einvernehmen vor.«

»So soll es auch sein; aber Dr. Wasmut, den ich sonst ja als geschickten und tüchtigen Juristen hochschätze, hat den Fehler, seine Meinung als unfehlbar zu betrachten. Es ist nicht das erstemal, daß wir verschiedener Meinung sind . . . und nun in diesem Falle gar! Ich glaube nicht, daß er recht hat, und es widerstrebt mir, mich vom Klatsch des Publikums vorwärtsdrängen zu lassen; indes wird mir nun doch nichts übrig bleiben, als Hartwig Henter zu beobachten. Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich dazu nicht meine diskretesten Leute nehme, daß er wenigstens nichts davon merkt!«

»Nehmen Sie mich, Herr Kommissar!«

Heidinger sah den Detektiv überrascht an. Dann sagte er langsam: »Ich dachte, Sie seien ehrgeizig? Oder meinen Sie am Ende auch, daß da etwas herauszuholen ist?«

»Nein, ich habe dabei nur im Auge, daß ich, wenn mir eine bestimmte Arbeit zugewiesen wird, vielleicht länger hier bleiben könnte als meine Kollegen, und das wäre mir lieb; denn der Fall Holzmann interessiert mich sehr. Anderseits hörte ich gestern, daß Ihre Leute hier nun alle wieder Dienst machen, wir also in den nächsten Tagen nach Wien zurückbeordert werden sollen.«

»Das stimmt. Aber Sie möchte ich gerne zurückbehalten und werde eigens darum ansuchen. Nicht, weil ich Sie für Henter brauche, sondern, weil es für Sie hier eine viel wichtigere Aufgabe gibt: den Mörder Holzmanns ausfindig zu machen. Wollen Sie diese übernehmen?«

»Von ganzem Herzen, und ich danke Ihnen, daß Sie Vertrauen in mich setzen. Was an mir liegt, es zu rechtfertigen, soll gewiß geschehen!«

 


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