Annie Hruschka
Der Feind aus dem Dunkel
Annie Hruschka

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV.

Natürlich veröffentlichten die Zeitungen Gerhard Holzmanns Aussage wörtlich, und sie befriedigte niemanden.

Ja, sie kühlte Sympathie und Teilnahme für die Betroffenen merklich ab. Holzmanns waren in der Stadt zu bekannte und beliebte Persönlichkeiten, als daß nicht jedermanns Interesse durch den Schuß im Schuppen auf das lebhafteste wachgerufen worden wäre. Und man zerbrach sich mehr oder minder den Kopf darüber, wer geschossen habe und warum? Die lächerlichsten Versionen machten die Runde, und die Öffentlichkeit erwartete noch viel gespannter und ungeduldiger als die Polizeibehörde den Augenblick, wo Holzmann selbst so weit sein würde, um alles zu erklären.

Und nun gab es gar keine Erklärungen! Die Sensation, die man erhofft, war ausgeblieben.

Ein Unbekannter? Ein Schuß, der völlig grundlos abgegeben worden war? Das sollte man glauben? Lächerlich! Dieser gute Holzmann mutete einem doch viel zu, indem er solch alberne Kindermärchen auftischte. . . .

Und im Handumdrehen schlugen Mitleid und Teilnahme in eine gereizte Stimmung gegen Holzmann um.

Der lag indessen still und matt, während das hohe Fieber, das plötzlich eingetreten war, seinen Körper durchglühte.

Man ließ Lydia nun willig bei ihm, denn der Arzt erklärte Hartwig Henter unter vier Augen traurig, Holzmanns Leben zähle nur mehr nach Tagen. Jeden Augenblick könne es erlöschen. Die Lungenentzündung, die man von Anfang an gefürchtet, ja fast erwartet hatte, war eingetreten, und es war ausgeschlossen, daß der durch starken Blutverlust geschwächte Körper sie überstand.

Schon zwei Tage später teilten die Blätter mit, daß Ingenieur Holzmann, der Besitzer der Tonwarenfabrik in der Bahnhofsstraße, seiner Verletzung erlegen war. – – –

Inzwischen setzte die Polizeibehörde ihre Nachforschungen nach dem Täter fort. Nur daß Kommissar Heidinger, angesteckt durch die feste Überzeugung des Untersuchungsrichters, es handle sich hier um ein Drama, in dem eine Frau die Hauptrolle spiele, entweder Holzmanns eigene Frau oder eine frühere Geliebte von ihm, nunmehr in andern Kreisen nach dem Mörder suchte.

Holzmanns und seiner Frau Vorleben wurde erforscht, ebenso die Beziehungen, die sie zu ihrem Bekanntenkreis unterhielten. Das war eine lange, mühevolle Arbeit, die nicht so bald Erfolge versprach. Aber Heidinger ließ sich's nicht verdrießen, denn der Polizeidirektor selbst hatte sehr nachdrücklich zu ihm gesagt: »Diese Sache hat so viel Staub aufgewirbelt in der Öffentlichkeit, daß sie unbedingt aufgeklärt werden muß! Geben Sie sich alle Mühe, Herr Kommissar, denn wir wären einfach blamiert, wenn wir den Täter nicht ausfindig machen könnten.«

Also gab sich Heidinger »alle Mühe«.

Silas Hempel war der einzige, der die Meinung des Untersuchungsrichters nicht einen Augenblick teilte. Er war vielmehr fest überzeugt, daß Holzmann tatsächlich die Wahrheit gesprochen hatte.

Aber er hütete sich, diese Meinung laut werden zu lassen. Indessen benützte er jede Gelegenheit und fast seine ganze freie Zeit, um der Sache von seinem Standpunkt aus nachzugehen. Schon in den ersten Tagen, als man noch auf Holzmanns Aussage wartete, war er fieberhaft tätig am Schauplatz des Verbrechens. Er verbrachte viele Stunden in dem Schuppen, dessen Schlüssel er in der Tasche trug.

Mit minutiöser Genauigkeit hatte er die darin vorgefundenen Fußspuren gemessen und in Papier ausgeschnitten. Die eine war, wie er gleich feststellen konnte, die Holzmanns, die andere rührte offenbar vom Täter her, denn nur diese zwei Spuren fanden sich im Raum.

Die des Mörders fand sich am öftesten auf dem Platz vor dem linken Seitenfenster. Hempel stellte fest, daß er auch durch dieses Fenster in den Schuppen gelangt war, denn es fanden sich Fußspuren auf der Fensterbank und außerhalb des Fensters, das in einen abgeplankten kleinen Hof ging.

Dieser Hof, der mit der Fabrik durch eine kleine versperrte Tür in Verbindung stand, schien selten betreten und als eine Art Müllgrube benützt zu werden.

Abfallprodukte aller Art, verrostetes Eisen, zerbrochenes Tongeschirr, Koksreste, Asche und allerlei unbrauchbar gewordene Gegenstände bedeckten den Boden.

Außerhalb des Plankenzaunes senkte sich ein steilabfallender Rasenhang nach einer langgestreckten Erdmulde, in der ein schmutziges Wasserrinnsal träge hinzog. Man sah die Rückseiten vieler Häuser aus angrenzenden Straßenzügen, deren Abfälle vielfach kurzweg in die unten sich hinziehende Erdmulde geworfen wurden, so daß sich hier dem Auge ein wüstes und häßliches Bild bot.

Der Detektiv hatte in dem kleinen Abfallhof vorsichtig jeden Zollbreit Boden untersucht und auch hier die Fußspuren des Mörders feststellen können. Sie führten bis an den Plankenzaun, der überstiegen worden war. Außerhalb desselben erloschen sie in dem trockenen, fahlen Rasen.

Der Mörder war also von rückwärts über den Rasenhang gekommen, hatte den Zaun überstiegen, den Hof durchschritten und war durch das Fenster, das, wie Hempel sich überzeugte, von außen leicht zu öffnen war, in den Schuppen gestiegen. Dort blieb er unmittelbar an dem Fenster stehen, ging dann eine Weile auf und ab – immer zwei Schritt nach rechts, zwei nach links – blieb wieder stehen und rauchte dabei Zigaretten, deren Reste ringsum verstreut lagen.

Aus ihrer Zahl schloß der Detektiv ungefähr auf eine halbe Stunde Aufenthalt. Dann hatte der Mörder sich wieder entfernt – nicht durchs Fenster, wie er gekommen, sondern durch die Schuppentür, wie eine vom Seitenfenster zu dieser führende, schnurgerade, deutlich ausgeprägte Spur bewies.

Hempel dachte viel darüber nach, was den Mann in den Schuppen geführt haben mochte und worauf er dort eine halbe Stunde lang gewartet hatte? Aber er fand keine Erklärung dafür.

Daß es aber kein Mensch niederen Standes gewesen sein konnte, glaubte Hempel mit Bestimmtheit annehmen zu müssen.

Die Fußabdrücke deuteten auf einen zwar großen, aber elegant beschuhten Fuß hin. Der Schnitt der Schuhe war nach der allerletzten Mode. Die Zigarettenreste aber gehörten einer hierzulande gar nicht in Handel kommenden Sorte an. Es waren türkische Zigaretten, sehr stark und von feinstem Aroma. Silas Hempel hatte einmal ein paar davon von einem vornehmen Türken bekommen und dabei erfahren, daß es teuerste Luxusware sei, die auch im Orient nur unter der Hand zu bekommen war.

Wie kam der Mann zu diesen Zigaretten? Auch dafür fand der Detektiv keine glaubwürdige Erklärung.

Er verfaßte schließlich über alles, was er festgestellt hatte, einen schriftlichen Bericht, mußte aber zu seiner Enttäuschung erkennen, daß man bei der Behörde wenig Wert darauf legte.

Die Sache mit den Zigaretten, die ihm selbst so wichtig erschien, weil man daraus Schlüsse auf Lebensstellung und Verhältnisse des Mörders ziehen konnte, wurde nur belächelt.

»Nicht die Zigaretten des Mörders sind uns wichtig, sondern der Mann selbst! Bringen Sie uns diesen oder auch nur eine Spur, die zu seiner Entdeckung führt, und Sie erringen Lob und Auszeichnung! So aber . . .« Kommissar Heidinger zuckte die Achseln.

Für Silas Hempels brennenden Ehrgeiz war das Wort wie ein Peitschenschlag. Aber er zuckte mit keiner Wimper, sondern schwor sich, nicht zu ruhen, noch zu rasten, bis er den Mörder gefunden habe.

Frau Lydia lag durch die Aufregungen der letzten Wochen und den Schmerz über des geliebten Gatten Tod bei ihren Eltern krank darnieder. Die Villa Holzmann war versperrt, und die Dienstboten waren, so weit sie nicht im Marchstätten'schen Haus Aufnahme gefunden, entlassen worden.

In der Fabrik, die zum Verkauf ausgeschrieben war, wurde unter Aufsicht eines Betriebsleiters, den Hartwig Henter empfohlen hatte, gearbeitet. Aber der Schuppen, der Holzmanns eigenste Arbeitsstätte gewesen war, blieb abgesperrt, und außer Silas Hempel hatte ihn seit der Mordnacht am 4. Oktober niemand mehr betreten.

Silas aber zog es immer wieder dahin zurück. Er hatte sich sehr mit dem alten Hauswart Rosner angefreundet, der allein noch als Aufsichtsperson in der Villa belassen worden war, sich dort aber sehr vereinsamt fühlte.

Rosner, der noch unter dem alten Herrn Holzmann im Hause gedient hatte, war das tragische Ende seines jungen Herrn sehr nahe gegangen und er kam noch immer nicht darüber hinweg.

Seine einzige Freude war nun, wenn Silas Hempel ihn abends besuchte und er mit ihm ein paar Stunden verplaudern konnte. Der Gegenstand war immer der gleiche: Das Verbrechen, dem Gerhard Holzmann zum Opfer gefallen war.

Rosner grübelte beständig darüber nach und vertraute dann seinem neuen jungen Freund seine Mutmaßungen an – die allerdings ins Blaue gingen und nie an ein Ziel gelangten. Auch von der Familie Holzmann im allgemeinen, dem jungen Paar im besonderen, seinen Lebensgewohnheiten, Neigungen und Beschäftigungen erzählte er viel und ausführlich, weil er sich glücklich fühlte, darüber mit einem Menschen reden zu können.

Manchmal konnte er auch zornig werden, wenn er in der Zeitung immer wieder las, daß man Holzmanns Aussage nicht glaubte und nach ganz andern Erklärungen für die Vorgänge der Nacht des 4. Oktober suchte.

Und geradezu wütend wurde er, wenn die Leute ihm von den seltsamen Gerüchten erzählten, die in der Stadt über seinen toten Herrn und dessen junge Frau umgingen. Eine steinunglückliche Ehe sollte es gewesen sein und Hartwig Henter wäre nicht nur der beste Freund Holzmanns, sondern auch der Verehrer und Tröster Frau Lydias gewesen. . . .

»So eine gemeine Bande!« rief Rosner rot vor Zorn, wenn er dem Detektiv solche Dinge berichtete. »Dem armen Herrn noch ins Grab hinein solch schmutziges, erlogenes Zeug nachzureden! Davon hätte man doch nur ein einzigesmal ein Tüpfelchen bemerken müssen – ich meine, wenn's so gewesen wäre – schließlich waren Leute genug im Haus, die weder taub noch blind waren. Aber nie, nie in den ganzen zwei Jahren, sah man etwas Unrechtes!«

Silas Hempel nickte vor sich hin. Auch er glaubte nicht an die Klatschereien der Leute. Auch er war überzeugt, daß Holzmann die Wahrheit gesprochen hatte.

Dem alten Rosner hörte er still zu, wenn dieser von vergangenen Tagen berichtete. Aus der Vergangenheit lernte man die Gegenwart verstehen, und mancher Weg von dort führte vielleicht herüber in die Dinge von heute. . . .

Ab und zu fiel auch ein Wort, das Hempels Gedanken beschäftigte und ihm wie ein Blitzlicht erschien, das neue Möglichkeiten in dem herrschenden Dunkel aufleuchten ließ.

So hatte Rosner einmal, als er von seines Herrn Fleiß und Tüchtigkeit sprach, erwähnt, daß Gerhard Holzmann meist der erste im Haus war, der an die Arbeit ging.

Da er abends fast täglich seine Frau in Gesellschaften oder an Vergnügungsorte begleitete und tagsüber, soweit sie ihn nicht auch da zu Autofahrten, Konzerten usw. überredete, in der Fabrik beschäftigt war, blieb ihm für private Arbeit nur der Morgen.

Er hatte immer den Kopf voll Ideen und Plänen, die er ausführen wollte. Meist galten sie Betriebsvereinfachungen oder Verbesserungen, oft auch Erfindungen, die viele Versuche und Berechnungen erforderten, ehe sie praktisch ausgeführt und verwertet werden konnten.

Diesen Arbeiten waren die frühen Morgenstunden gewidmet. Meist stand Holzmann zu diesem Zweck um sechs Uhr auf, oft schon um vier; immer aber war er der erste, der den Schuppen betrat, wo er seine Versuche und Berechnungen ausführte.

Jeder, bis zum letzten Arbeiter in der Fabrik, wußte das und alle bewunderten ihn darum. Um neun Uhr, wo seine Frau gewöhnlich aufstand, kehrte Holzmann dann zum gemeinsamen Frühstück für kurze Zeit in die Villa zurück. Nach seiner Wiederkehr begab er sich erst in sein Bureau in der Fabrik, und verblieb daselbst bis Mittag.

Die Tatsache, daß Holzmann täglich so früh allein den Schuppen betreten hatte, und daß dies allgemein bekannt war, gab Hempels Vermutungen eine neue Richtung.

Man hatte bisher annehmen müssen, – und Holzmann selbst hatte dies getan – daß das Eindringen des Unbekannten, der auf ihn geschossen hatte, in keinem Zusammenhang mit seiner Person stehen könne, da der Eindringling durchaus nicht ahnen konnte, daß Holzmann nachts den Schuppen betreten würde.

Aber nun? Es war halb drei Uhr morgens gewesen und um vier war Holzmann dort schon öfter zur Arbeit erschienen. Wenn der Mörder dies gewußt und eigens darum gekommen wäre, um ihn dort zu erwarten? Mindestens das Unsinnige, Unbegreifliche, daß ein Fremder gedankenlos einen ihm Fremden niederschoß, wäre dadurch weggefallen, wenn auch die Gründe dafür trotzdem im Dunkeln blieben.

 


 << zurück weiter >>