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Seit vielen Jahren hatte nichts in der Provinzhauptstadt G. solches Aufsehen erregt und die Gemüter so nachhaltig beschäftigt wie der Mordanfall auf den Ingenieur Holzmann.
Denn nur ein solcher konnte es gewesen sein.
Täglich brachten die Zeitungen spaltenlange Berichte, und wo Menschen zusammentrafen, wurde kaum etwas anderes besprochen als der Fall Holzmann, der so viel Dunkles, Unbegreifliches enthielt und gerade darum der Phantasie so weiten Spielraum ließ.
Man bedauerte die arme junge Frau, die nach kurzem Eheglück so jäh aus allen Himmeln gerissen worden war, man bewunderte in Hartwig Henter das Ideal eines aufopfernden Freundes, denn er war seit dem Unglück noch keinen Augenblick von Holzmann gewichen; aber es gab auch Leute, die sich mit vielsagendem Blick allerlei häßliche Dinge zuflüsterten . . .
Die Polizei wurde täglich nervöser. Denn über den eigentlichen Hergang des Mordversuches wußte man noch nicht mehr als am ersten Tag. So oft man auch Holzmann darüber befragen wollte – immer wurde der Polizeikommissar von den Ärzten im Spital mit der Erklärung zurückgewiesen: Ingenieur Holzmann sei durchaus nicht vernehmungsfähig, sein Zustand sei sehr ernst, er vermöge derzeit überhaupt noch nicht zu sprechen. So lange er zwischen Tod und Leben schwebe, müsse man alle Besuche ausnahmslos vom Kranken fernhalten.
Selbst den Schwiegereltern, ja sogar Frau Lydia verweigerte man den Eintritt ins Krankenzimmer. Ihren Bitten und Tränen gelang es endlich, in Begleitung des Arztes von der Türschwelle aus wenigstens einen Blick auf den Gatten zu tun.
Aber man schärfte ihr vorher ein, daß ihr Gatte sie dabei durchaus nicht sehen dürfe, weil er sich sonst aufregen würde und jede Erregung tödlich wirken könne.
Die arme Lydia fügte sich in alles und verhielt sich bei dem einseitigen Wiedersehen so tapfer und mäuschenstill, daß ihr Mann wirklich nichts von ihrer Nähe ahnte. Aber er war ihr so schrecklich verändert erschienen, daß sie nachher draußen in Weinkrämpfe verfiel und von den erschrockenen Eltern mit in die elterliche Wohnung genommen wurde.
Dort bekam sie solche Nervenanfälle, daß man sie zu Bett bringen mußte und schleunigst um Dr. Wille telephonierte.
Von ihm erfuhr man dann auch Näheres über Holzmanns Zustand. Man hatte Holzmann damals gleich die Kugel auf operativem Weg entfernt, doch war durch den starken Blutverlust nachher ein beunruhigender Schwächezustand eingetreten, der sich nicht sogleich beheben ließ. Die Kugel hatte die Lunge durchbohrt, und was den Ärzten derzeit am meisten Bedenken verursachte, war die Befürchtung, es könnte durch die Schußverletzung eine Lungenentzündung hervorgerufen werden, in welchem Fall der Kranke verloren wäre.
Diese Gefahr zu beschwören, war unbedingte Ruhe erstes Gebot.
Bange Tage verstrichen. Hartwig Henter, der Tag und Nacht unermüdlich, schweigend und mit größter Hingebung um die Pflege des Kranken bemüht war, hielt sich kaum noch auf den Beinen. 5 Tage und 5 Nächte war er nicht aus den Kleidern gekommen, hatte kaum etwas gegessen, keine Minute geschlafen und fühlte nun selbst, daß er am Ende seiner Kräfte war.
Trotzdem konnte er sich nicht entschließen, seinen selbstgewählten Posten zu verlassen und ihn wenigstens vorübergehend einer Pflegeschwester zu übergeben, um sich ein wenig auszuruhen, ehe Holzmanns Zustand sich nicht gebessert hatte.
Am sechsten Tag endlich trat diese sehnsüchtig erwartete Wendung zum Bessern ein. Holzmann schien frischer, er nahm zum erstenmal ohne Widerwillen etwas flüssige Nahrung, die man ihm einflößte, und sagte, dem Freund die Hand drückend, ohne besondere Anstrengung: »Danke dir, Hartwig!«
Er sprach dann auch mit dem Arzt und verlangte nach seiner Frau, die sofort von der Besserung und dem Wunsch ihres Mannes verständigt wurde.
Henter, der sich endlich entschlossen hatte, für einen Tag sein Amt Schwester Angela zu übergeben, begab sich nach seiner Wohnung.
Lydia durfte eine Viertelstunde bei ihrem Gatten bleiben. Sie strahlte vor Glück, denn sie fand, Gerhard sähe schon viel besser aus, und in ihrem Glück machte sie tausend Zukunftspläne, die alle darin gipfelten, daß sie fortan nicht mehr in Gesellschaft gehen, sondern nur allein für ihren Gerdy leben wolle. . . . .
Da die Nacht nachher gut verlief und dem Kranken das Sprechen nicht geschadet hatte, auch die Heilung der Wunde einen guten Verlauf zeigte, gestattete man am nächsten Tag endlich auch dem Polizeikommissar eine Unterredung mit dem Kranken.
Am folgenden Tage durfte Lydia, die eben gekommen war, auf Wunsch ihres Mannes der Einvernahme beiwohnen. Sie war wohl ebenso gespannt wie der Kommissar, nun endlich zu erfahren, wie und durch wen ihr Gatte die schwere Verletzung erlitten habe.
Aber seine Mitteilungen enttäuschten sehr. Holzmann erzählte, wie er in jener Nacht den Schuppen, dessen Schlüssel er bei sich trug, nur betrat, um sich zu überzeugen, ob man die neue Maschine genau seinen Anweisungen entsprechend aufgestellt habe.
»Als ich eintrat,« berichtete er, »drehte ich zuerst das Licht an, dessen Schalter sich rechts unmittelbar neben der Tür befindet. Der Raum war nun taghell beleuchtet, und ich erblickte zu meiner Überraschung am linken Seitenfenster einen fremden Menschen, der, mir zugekehrt, mich stumm anstarrte.
›Was tun Sie hier?‹ fragte ich scharf. Der Mann antwortete keine Silbe, erhob aber die Hand, in der ich erst jetzt einen Revolver blitzen sah, und schoß auf mich. Ich fühlte, daß ich getroffen war, und da ich keine Waffe bei mir hatte und auch auf Hilfe von außen nicht rechnen konnte, sah ich mein Heil nur in schleuniger Flucht.
Ich wandte mich also um und verließ den Schuppen, was indes nicht so rasch ging, als ich wünschte, denn ich fühlte mich plötzlich sehr elend und unsicher und hatte Mühe, mich auf den Beinen zu halten.
Knapp vor der Tür strauchelte ich und fiel zu Boden, raffte mich aber rasch wieder auf. Alles in mir drängte instinktiv fort von dem unheimlichen Menschen, der regungslos auf seinem Platz stehengeblieben war und mich nur mit den Augen, die hell und scharf wie Stichflammen nach mir zuckten, verfolgte.
Nur fort aus dem Schuppen . . . hinaus auf den dunklen Vorplatz, wo er mich nicht mehr sehen konnte . . .
Endlich war ich draußen und schwankte auf die Villa zu, um Leute zu holen. Aber mir war todübel. Wie eine Vision sah ich den Hauswart an einem offenen Fenster stehen.
›Rosner,‹ rief ich, . . . ›schnell Rosner . . . mir ist nicht gut . . .‹ Da vergingen mir auch schon die Sinne und ich stürzte zu Boden.«
Der Kommissar starrte den Sprecher ungläubig an.
»Wie – das ist alles? Er schoß auf Sie, ohne daß vorher ein Streit oder Wortwechsel stattfand?«
»So war es. Meine Frage an ihn waren die einzigen Worte, die fielen, und seine Antwort war der Schuß.«
»Und wer war der Mann?«
»Ich habe ihn nie zuvor gesehen!«
»Wie sah er aus?«
»Es war ein schlanker, großer, noch junger Mann mit bartlosem Gesicht und unheimlich hellen, stechenden Augen – wenigstens erschienen sie mir in diesem Augenblick seltsam stechend. Auf dem dunklen Haar saß ein weicher, breitkrämpiger Hut. Der Anzug des Menschen, der offenbar besseren Kreisen angehörte, war dunkel und wirkte elegant.«
»Würden Sie den Mann wiedererkennen, wenn Sie ihn sähen?«
»Unbedingt! Sein Bild, wenn ich es auch nur auf Augenblicke sah, hat sich mir durch die Umstände unauslöschlich eingeprägt.«
»Hatten Sie den Eindruck, daß der Mann Sie dort erwartete, um Sie zu töten?«
»Nein! Wie könnte das sein, da niemand wußte, daß ich um halb drei Uhr morgens den Schuppen betreten würde? Mir selbst kam ja der Gedanke dazu erst ganz plötzlich auf dem Heimweg.«
»Aber wie erklären Sie sich dann, daß der Fremde im Schuppen war und sogleich schoß, als er Sie erblickte? Erstens hält man doch nicht ohne Grund einen Revolver in der Hand und zweitens würde man einen Wildfremden doch nicht ohne Grund einfach niederschießen!«
»Ich kann es nicht erklären, ich berichte nur die Tatsachen.«
»Vielleicht erschien Ihnen der Mann nur in der Aufregung fremd? Vergegenwärtigen Sie sich seine Erscheinung nun in Ruhe noch einmal. Konnte es nicht doch ein Mensch sein, den Sie kannten?«
»Ausgeschlossen! Das Gesicht steht seit Tagen vor mir, ich sehe es immer wieder, und es ist so charakteristisch, daß man es nie vergessen würde, wenn man es auch nur ein einzigesmal gesehen hat!«
Der Kommissar warf einen Blick nach seinem Protokollführer, der niemand anders war als Silas Hempel, der ausdrücklich gebeten hatte, in dieser Eigenschaft unauffällig der Einvernahme Holzmanns beiwohnen zu dürfen.
Aber der junge Detektiv blickte nicht auf, sondern starrte nachdenklich auf die von ihm beschriebenen Bogen.
Alle Anwesenden fühlten: Es ist eine seltsame Aussage, die da abgegeben wurde, und sie verwirrte den Fall mehr, als daß sie aufklärend gewirkt hätte.
Und eben weil sie gar nichts erklärte, enttäuschte sie.
Heidinger fragte noch, ob Herr Holzmann sich je bewußt war, einen Feind zu besitzen.
»Nein,« lautete die ohne Zögern erteilte Antwort.
Darauf ließ der Kommissar das Protokoll vorlesen und seine Richtigkeit durch Holzmanns Unterschrift bestätigen. Damit war die Einvernahme beendet, und Heidinger entfernte sich mit seinem Begleiter.
Die Sache hatte den Kranken weniger angegriffen, als die Ärzte gefürchtet. Sein Befinden blieb auch den Rest des Tages über gut und Lydia durfte bis zum Abend bleiben, worauf sie in das Haus ihrer Eltern zurückkehrte. Denn da ihr die einsame Villa Holzmann unheimlich war, hatte man beschlossen, daß sie bis zur Genesung ihres Mannes bei den Eltern wohnen solle.
Kurz ehe sie das Krankenhaus verließ, traf Hartwig Henter dort ein, um neugestärkt seinen Pflegeposten bei dem Freund wieder zu übernehmen.
Am nächsten Tag erschien Untersuchungsrichter Dr. Wasmut, dem man den Fall Holzmann übergeben hatte, im Krankenhaus und verlangte eine Unterredung mit dem Kranken. Er hatte vorsorglich einen Gerichtsarzt mitgebracht, um im Fall einer Weigerung amtlich die Einvernehmungsmöglichkeit des Kranken feststellen zu lassen.
Aber man weigerte sich gar nicht, nachdem die gestrige Einvernahme dem Kranken nicht geschadet hatte.
Auch diesmal gelang es Lydias Bitten, die Erlaubnis zu bekommen, daß sie im Krankenzimmer verbleiben durfte.
Anfangs wiederholten sich Fragen und Antworten genau wie tags zuvor. Im weiteren aber begnügte sich Dr. Wasmut durchaus nicht mit dem früheren negativen Endresultat. Sein Ton wurde plötzlich schärfer, sein Blick durchdringender, als er, den Kranken fest ins Auge fassend, unvermittelt sagte:
»Mein lieber Herr Direktor Holzmann, lassen wir nun das Possenspiel beiseite! Es liegt ja klar auf der Hand, daß Sie bisher nicht die Wahrheit sprachen! Sie haben den Mann, der auf Sie schoß, ganz genau erkannt und wissen auch, warum er schoß!«
Holzmann starrte den Untersuchungsrichter einen Augenblick verständnislos an, dann stieg eine heiße Röte in sein bleiches Gesicht und er wandte den Kopf zur Wand, ohne auch nur mit einer Silbe zu antworten.
Der Untersuchungsrichter nahm das für ein stummes Eingeständnis, daß Holzmann sich durchschaut sah. Er fuhr fort: »Noch kenne ich die Gründe Ihres Schweigens nicht. Vermutlich haben Sie die Absicht, den Angreifer zu schonen, aber das können wir natürlich im Interesse der Wahrheit nicht gelten lassen. Ich fordere Sie also auf, mir nun vollkommen wahrheitsgetreu zu sagen, wer der Mann war, der auf Sie schoß, und was sich zwischen ihm und Ihnen vor Abgabe des Schusses abspielte!«
Holzmann machte eine zornige Bewegung. Dann aber entschloß er sich doch, sich wieder dem Untersuchungsrichter zuzuwenden und ihm einen empörten Blick zuzuwerfen.
»Das ist schmählich!« stammelte er dann sichtlich außer sich und nach Atem ringend. »Bin ich denn ein Lügner? . . . Ich habe die Wahrheit gesagt . . . wenn Sie es nicht glauben wollen . . . es tut mir leid . . . aber anderes habe ich nicht zu sagen . . . und werde kein Wort . . . mehr sprechen. . . .«
Die Aufregung hatte ihn total erschöpft. Seine Wangen brannten. Ein trockener Husten erschütterte seinen Leib.
Trotzdem machte der Untersuchungsrichter noch einen Versuch, aus dem Kranken eine andere Erklärung herauszupressen. Aber da stand Frau Lydia plötzlich mit flammenden Augen vor ihm.
»Gehen Sie, Herr Untersuchungsrichter! Ich dulde nicht, daß Sie meinen armen Mann noch länger quälen! Er ist kein Lügner . . . sehen Sie doch nur, wie er leidet!«
Sie drückte entschlossen auf die Klingel neben dem Bett. Henter erschien. »Rufen Sie den Arzt, Hartwig . . . schnell . . . Sie sehen. . . .«
Sie sank auf die Bettkante und ohne vor Schreck recht zu wissen, was sie tat, drückte sie ihr Taschentuch auf Holzmanns Mund, in dessen Winkel blutiger Schaum stand.
Dr. Wasmut, der es auch gesehen, zog es nun doch vor, mit seinem Protokollführer zu verschwinden.
Der im selben Augenblick eintretende Arzt machte ein ernstes Gesicht, als er einen Blick auf den Kranken warf, der nun kalkweiß und regungslos in den Kissen lag. Dann ordnete er an, daß alle das Zimmer bis auf weiteres zu verlassen hätten, da der Kranke mehr denn je absoluter Ruhe bedürfe. . . .
Als Hartwig Lydia hinausführte, flüsterte sie ihm in höchster Erregung zu: »Lassen Sie niemanden vom Gericht mehr zu ihm! Sagen Sie es auch dem Arzt . . . diese Leute töten ihn ja!«
Sie merkten beide nicht, daß der Untersuchungsrichter, noch in der Türe des Vorzimmers stehend, sie scharf beobachtete, wenn er Lydias geflüsterte Worte auch unmöglich verstehen konnte.