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Dies alles war zwischen acht und neun Uhr abends geschehen, und noch vor zehn Uhr wurde der Mann mit der ungezügelten Phantasie von einem abscheulichen Gedanken heimgesucht. Dieser Gedanke bemächtigte sich so sehr seiner, daß er sogar die Erinnerung an die Tragödie, die sich vor einer Stunde bei ihm abgespielt hatte, und den im oberen Stockwerk liegenden Toten aus seinem Gedächtnis verdrängte, obwohl dessen leise, leidenschaftliche Stimme noch immer in seinen Ohren nachklang. Es war ein Gedanke, der, gleich einem unsauberen Geist, in dem Moment von Langholm Besitz ergriffen hatte, als er die Augen von dem letzten Wort des ihm von dem Toten anvertrauten Schriftstückes erhob.
In dem langen, niedrigen Zimmer, das Langholm bewohnte, brannte bei feuchtem Wetter zu jeder Jahreszeit ein Feuer, und auf dieses Feuer fiel unwillkürlich Langholms Blick, als er die Augen von den Blättern in seiner Hand aufschlug.
Noch kein Mensch hatte sie gelesen, wie ausdrücklich darin versichert wurde. Auch die Hauswirtin ahnte nichts von dem Vorhandensein eines solchen Bekenntnisses, sonst hätte sie es sicherlich vernichtet, und gewisse Einzelheiten, die sich in dem Schriftstück fanden, drängten Langholm die Überzeugung auf, daß die Frau niemals aus eigenem Antrieb sprechen würde. Wunderbare Streiflichter fielen auf die Gefühle, die der junge Italiener in dem Herzen jener Frau geweckt hatte. Keine Mutter hätte zu seinem Schutze mehr tun können als sie. So hatte zum Beispiel Severino, der, als Mrs. Minchin freigesprochen wurde, noch immer in Chelsea seine Genesung abwartete, erfahren, daß seine Wirtin Mrs. Minchin unter dem Vorwand von der Tür gewiesen hatte, sie wisse nicht, wo er sich aufhalte. Er erwähnte dies ausdrücklich, um seine Versicherung zu bekräftigen, daß er die feste Absicht gehabt habe, Rahel die Wahrheit zu gestehen. Sofort, nachdem er wieder zum Bewußtsein gelangt, und lange, ehe ihm etwas von ihrer Verhaftung zu Ohren gekommen sei, habe er diesen Entschluß gefaßt und auch jener Frau davon gesagt. Allein er bezweifle stark, daß man etwas aus ihr herausbekommen werde, obwohl er hoffe, daß sie es um seinetwillen tun würde. Auf Langholms Zügen aber lag ein häßliches Grinsen, als er mit aufeinandergebissenen Zähnen diese Stelle noch einmal las. Er würde also vor einer Entdeckung vollkommen sicher sein.
Dies war nur ein teuflischer Gedanke, den Langholm nicht einmal als eine Versuchung gelten ließ. Und doch, wie er sich festsetzte, wie er anwuchs!
Dort drüben brannte das Feuer, als sei es eigens zu dem Zweck angezündet worden. Im Handumdrehen konnte das schriftliche Zeugnis für immer zerstört sein, und ein andres gab es ja nicht. Tote plaudern nicht aus der Schule, und Lebende nur das, was ihnen paßt.
Wie wunderbar alles sich fügte!
Ein Schurke hätte dieses Zusammentreffen günstiger Umstände sicherlich nicht nur als eine Versuchung, sondern geradezu als eine Aufforderung angesehen, Nutzen daraus zu ziehen. Fast wünschte Langholm, ein Schurke zu sein.
Wie stand es nun aber mit dem Fall Steel? Wohl fehlte noch manches zur Klärung, aber der belastenden Momente gab es trotzdem genug. Ein Schurke würde sie ohne Zögern ans Licht ziehen. Auch Langholm tat dies jetzt in seiner stets regen Phantasie, und das Ende davon war eine Erde ohne Steel, aber nicht ohne dessen Gattin – nur daß sie eben nicht mehr Steels Gattin war.
Diese Folgerung brachte Langholm endlich wieder zur Vernunft. »Du Narr!« rief er und lief hinaus ins Freie auf die nassen Kieswege zu seinen vernichteten Rosen! Allein der häßliche, unmögliche Gedanke verfolgte ihn auch dorthin.
»Wenn Steel schuldig gewesen wäre – aber er ist es ja doch nicht, sage ich dir. – Nein – aber angenommen, er wäre es, würde sie mich dann je eines Blickes würdigen? – Still, du einfältiger Egoist! – Nun ja, aber würde sie es tun? Und wenn sie es täte, wärst du fähig, sie glücklich zu machen? – Ach, das ist etwas andres – das fragt sich! – Ja, zweifle nur, du hast allen Grund dazu, du weißt, daß es dir schon einmal mißlungen ist. – Ja, ja, glaubst du, ich hätte es vergessen? – Nein, aber schaden kann es nicht, dich daran zu erinnern. Bist du überhaupt der Mann, der eine Frau – eine bedeutende, feinfühlende Frau – glücklich machen kann? Bist du nicht launisch, mürrisch, reizbar und ganz erfüllt von deiner eigenen Person? – Nein, aber von deiner Arbeit, und das kommt bei einer Frau auf dasselbe heraus. Könntest du sie glücklich machen? Ja oder nein? Lautet die Antwort »Nein«, dann faß dir ein Herz und schleudere solche Gedanken für immer von dir. Ist es denn nicht weit schöner, die Rolle eines guten Freundes zu spielen, als die eines lästigen Gatten, und ihr lieber deine beste Seite zu zeigen, als auch noch alle deine andern? Habe ich nicht recht? Nun dann danke deinem guten Stern – und Punktum.«
So kämpften während dieser Nacht im schwülen Duft des regenfeuchten Gartens, unter dem halbgeschlossenen Auge des abnehmenden Mondes die beiden Stimmen miteinander, und nachdem die des gesunden Menschenverstands den Sieg davongetragen hatte, erinnerte sie zugleich Langholm an seinen Lohn. »Bedenke, daß du versprochen hast, ihr zu dienen, und daß du, wenn auch weniger durch deine Klugheit als durch glückliche Zufälle, das große Wunder vollbracht hast. Geh hin und erzähle es ihr. Noch diesen Abend würde ich es tun. Nein, für eine gute Botschaft ist es niemals zu spät am Abend. Ich würde mich rasch auf mein Rad setzen und sofort losfahren.«
Auch auf Normanthorpe House schaute der alte Mond von einem so klaren Himmel hernieder, wie man ihn seit mehreren Tagen nicht mehr gesehen hatte. Steels schlenderten langsam die Anfahrt vor dem Schlosse auf und ab, um zum ersten Male an diesem Tage etwas frische Luft zu schöpfen und nach einem Monat endlich wieder einmal ungestört beisammen zu sein. Irgend etwas schwebte in der Luft – ein Verdacht war es, und Rahel fing bereits an, zu vermuten, wem dieser Verdacht galt. Auch konnte sie nicht behaupten, daß sie ihn nicht selbst schon öfters gehegt, dann aber immer wieder von sich gewiesen habe. Warum wollte er ihr den wirklichen Grund, der ihn zu einer Heirat mit ihr bestimmt hatte, durchaus nicht eingestehen? Und daß irgend ein abgefeimter Grund vorlag, darüber gab es keinen Zweifel. Warum konnte er ihr nicht reinen Wein einschenken? Da war ferner seine intime Freundschaft mit ihrem ersten Gatten, die er aufs sorgfältigste vor ihr geheimgehalten, und von der sie nur durch Zufall erfahren hatte. Auch die freche Art, wie er Langholm aufgefordert hatte, seine Detektivrolle glänzend durchzuführen, mußte sie befremden.
Anderseits regte sich in ihr der Instinkt des Weibes, den eine kluge Frau niemals verachtet; Rahels Instinkt aber hatte in dieser Sache niemals ihrer Phantasie recht gegeben.
Während der letzten Stunden war jedoch eine vollständige Wandlung mit ihr vorgegangen. Ihr Gatte wurde verdächtigt. Lachend hatte er es ihr selbst erzählt. Er schwebte somit in einer gewissen Gefahr, ihr Platz war also an seiner Seite. Und dann darf nicht unerwähnt bleiben, daß Rahel dieses Normanthorpe House allmählich recht lieb geworden war, wenigstens bis zu dem Augenblick, da Steel so schroff eine Antwort auf ihre Frage nach dem Hauptbeweggrund zu seiner Heirat zurückgewiesen hatte.
Freundlich plaudernd waren sie auf und ab gewandert. Rahel hatte entfernt nicht daran gedacht, ihre Hand auf seinen Arm zu legen, wie es in der letzten Zeit vor ihrer Entfremdung manchmal der Fall gewesen war. Nun tat sie es aber doch wieder, und zwar gerade in dem Augenblick, als Steels schärferes Auge den auf der Straße daherkommenden Radfahrer entdeckte.
»Hoffentlich steckt man mich nicht heute abend noch ein,« sagte er. »Sonst werde ich die hohe Polizei meinerseits wegen Fahrens ohne Licht verklagen. Ach, das ist ja Langholm. Nun, Langholm, haben Sie ihn schon beim Schopf?«
»Wen?«
»Ihren Mörder, natürlich.«
»Ich habe sogar sein Geständnis in der Tasche.«
Noch nie zuvor hatte Rahel ihren Gatten so sehr erschrecken sehen.
»Großer Gott!« rief er. »So glauben Sie also nicht mehr, daß ich es sei?«
»Ich weiß, daß Sie es nicht sind. Trotzdem muß sich Mrs. Steel auf eine schmerzliche Nachricht gefaßt machen.«
Und eine äußerst schmerzliche Nachricht war es in der Tat für Rahel. Allein ihr Entsetzen und ihre Trauer, obwohl tief und aufrichtig, wurden wenigstens in dieser Stunde von dem sie erfüllenden Freudenstrome fortgeschwemmt.
Es war eine doppelte Freude. Nicht nur sollte sie jetzt vor der Welt gerechtfertigt sein, sondern auch ihr Gatte würde entlastet ihr zur Seite stehen. Für immer vorüber war die Zeit der Verdächtigungen, sowohl zwischen ihr und ihrem Gatten, als auch von seiten der Welt.
Das Herz war ihr zu voll, als daß es sie nach weiteren Erklärungen verlangt hätte. Langholms Erzählung von seinem Zusammentreffen mit Abel hörte sie noch mit an, dann aber ließ sie ihn zu weiterer Aussprache mit ihrem Gatten allein.
Nun erst sprach Langholm sich rückhaltlos über die Verdachtsmomente aus, die er gegen Steel zusammengetragen hatte, und dieser gab auch sofort zu, wie schwer belastend sie für ihn hätten werden können.
»Allein ich habe Ihnen noch eine Abbitte zu leisten,« fügte Steel hinzu, »und zwar nicht für etwas, das ich diesen Nachmittag mehr aus Mutwillen als aus Bosheit zu Ihnen gesagt habe, das ich jedoch trotzdem gern ungesagt machen möchte, wenn ich könnte – sondern dafür, weil ich Ihnen absichtlich das letzte noch fehlende Glied zu Ihrer Kette geliefert habe. Ich habe nämlich zufällig sowohl meinen Revolver als auch den Minchins bei einem Trödler in Australien gekauft. Der seinige war ein Geschenk von mir und beide sehen sich zum Verwechseln ähnlich. Als ich nun diesen Morgen merkte, daß unsre Lokalgrößen mich beobachteten, kam mir plötzlich in den Sinn, meinen Revolver an einen recht ins Auge fallenden Platz zu hängen. Heute nachmittag konnte ich dann der Versuchung nicht widerstehen, Sie in jenes Zimmer zu schicken, um Ihren Entdeckungen die Krone aufzusetzen. Sie sehen, ich hätte wenigstens während meines vorjährigen Ausflugs nach London für die Waffe ein Alibi nachweisen können. Der arme Minchin schrieb allerdings an mich, und sofort setzte ich mich in den nächsten Zug, um ihn mit meinem Besuche zu überraschen. Wie Sie etwas von seinem Briefe, der übrigens keinen Erpressungsversuch enthielt, erfahren konnten, ist mir heute noch ein Rätsel. Sie haben wirklich beinahe das Unmögliche geleistet, und ich will nur hoffen, daß Sie mir wegen der kleinen Falle nicht zürnen. Sie war ja auch tatsächlich nicht für Sie gestellt. Es ist ebenfalls vollkommen wahr, daß ich im Hotel Cadogan abgestiegen bin und mich zu der verhängnisvollen Stunde nicht dort befunden habe. Ich wählte dieses Hotel, weil es das einzig anständige in dieser Gegend ist, und machte mich so spät noch auf die Suche nach dem Hause meines alten Freundes, weil ich seine schlechte Gewohnheit, bis tief in die Nacht hinein aufzubleiben, kannte. Auch schien, seinem Briefe nach zu schließen, die Heirat seine schlechten Gewohnheiten nicht gebessert zu haben. Tatsächlich war er ja, wie Sie wissen, gänzlich vor die Hunde gegangen.«
Diese Worte mahnten Langholm an die Zeit.
»Auch jetzt ist es spät,« sagte er, »ich muß mich wirklich auf den Heimweg machen. Der arme Severino hatte, soviel ich weiß, nicht einen einzigen Freund oder Bekannten in diesem Land, da gibt es morgen alle Hände voll für mich zu tun.«
Steel bestand sofort darauf, sämtliche Kosten zu tragen. »Wie wenig ist das im Vergleich zu dem, was Sie getan haben,« sagte er. »Übrigens können Sie doch unmöglich fortgehen, ohne meiner Frau noch ›Gute Nacht‹ gesagt zu haben. Sie hat Ihnen doch auch noch zu danken.«
»Ich wünsche keinen Dank.«
»Und doch wäre die Wahrheit ohne Ihre Hilfe niemals ans Licht gekommen.«
»Trotzdem ist es mir lieber, sie spricht niemals mehr ein Wort mit mir darüber.«
»Gut, ich werde es ihr sagen – aber unter einer Bedingung.«
»Was ist das für eine?«
»Langholm, schon während des letzten Sommers hatte ich gehofft, wir könnten noch einmal Freunde werden. Es sind nicht viele, denen ich ein solches Gefühl entgegenbringe. Darf ich es noch immer hoffen?«
»Wenn Sie wollen, Steel. Ich – ich glaube nicht, daß ich es jemals über mich gebracht hätte, Sie anzuzeigen.«
»Sie haben sich hochanständig benommen, mein lieber Freund. Niemals werde ich es vergessen, ebensowenig als die Art, wie Sie den Erpresser Abel abgeschüttelt haben. Wenn es Ihnen Befriedigung gewährt, so will ich Ihnen sagen, worin sein Geheimnis besteht. Ja, ja, es ist besser, Sie wissen es, und auch meiner Frau will ich es sagen, obwohl ich es die ganze Zeit her vor ihr verborgen habe. Ich bin ohnedies überzeugt, daß jener Schurke eine Anzeige auf der Polizei gemacht hat, nachdem er von Ihnen abgewiesen worden war. Es wird sich also bald genug in der Umgegend verbreiten. Ich aber darf wohl sagen, daß ich das Unrecht, das ich mir einst habe zuschulden kommen lassen, durch mein späteres Leben gutgemacht und reichlich abgebüßt habe. So hören Sie denn, Langholm. Wie vor mir schon so mancher bessere Mann, bin auch ich aus meinem Vaterland verbannt worden. Welcher Art mein Vergehen war, darauf kommt es jetzt nicht an. Ein Neugieriger kann den Fall ja nachschlagen und wird vielleicht zugeben müssen, daß er nicht zu den schlimmsten gehört. Wie dem nun aber auch sein mag, jener Mann und ich wurden im Jahre Neunundsechzig auf demselben Schiff nach Westaustralien transportiert.«
»Und doch,« sagte Langholm, »forderten Sie mich dazu heraus, die Wahrheit ans Licht zu bringen! Ich kann auch jetzt Ihr damaliges Verhalten noch nicht verstehen.«
Steel zögerte einen Augenblick mit der Antwort.
»Eines Tages werde ich Ihnen auch das erklären,« sagte er dann. »Selbst meine Frau befindet sich noch im Dunkeln darüber, und ich bin jetzt im Begriff, mich mit ihr darüber auszusprechen.«
Herzlich schüttelten sich die beiden Männer zum Abschied die Hände.
Dann verließ Langholm auf seinem Rad den Schauplatz, wo sich das einzig wirkliche Drama seines Lebens, das sonst nur von erfundenen Dramen erfüllt war, abgespielt hatte. Und wenn man fragt, was er selbst für einen Vorteil daraus gezogen hat, so kann man die Antwort eines Tages in seinen Werken lesen. Zwar nicht in jenem geplanten Meisterwerk, das er mit Mrs. Steel so häufig zu besprechen pflegte, denn es wird niemals geschrieben werden, auch nicht in einem seiner sonstigen Romane und noch weniger aus der Darstellung irgend eines jener Vorfälle, bei denen er selbst eine ziemlich zweifelhafte Rolle gespielt hatte. Vielleicht aber könnte man die Antwort im tieferen Verständnis des menschlichen Herzens, in einem klareren Erfassen des wirklichen Lebens und in dem wärmeren Empfinden für die Menschen überhaupt und die Frauen im besonderen finden, als seine früheren Werke bekundeten. Auf jeden Fall sind dies Vorzüge, die Charles Langholm nun zur Verfügung stehen, wenn er nur will. Einstweilen aber wollen wir ihn nicht bemitleiden.
Steel begab sich direkt zu seiner Frau. Noch schimmerten Tränen in ihren Augen, aber was für Tränen und was für Augen! Es kostete ihn nicht wenig Überwindung, ihr das zu sagen, was gesagt werden mußte – ein bei ihm seltener Fall.
»Rahel,« begann Steel endlich mit einem Tone, der ebenso ungewohnt war als sein bisheriges ängstliches Zögern, »ich will dir nun die Frage beantworten, die du so oft an mich gestellt hast. Ganz offen will ich es tun, wenn ich auch fürchten muß, daß du dann nie wieder ein Wort mit mir sprichst. Für uns beide wäre es mir leid, wenn du vorschnell handeltest, jedenfalls aber sollst du tun, was du selbst für das Beste hältst. Du weißt, daß ich eine große Zuneigung zu Alexander Minchin gefaßt hatte, als dieser noch ein junger Mann war. Es passiert mir nun aber nicht häufig, jemand meine besondere Zuneigung zu schenken, wie du vielleicht inzwischen selbst bemerkt hast. Vor deinem Prozeß war ich nun fest davon überzeugt, du habest meinen alten Freund erschossen. So sehr hatte ich mich gefreut, ihn wiederzusehen, daß ich nach Empfang seines Briefes mit dem ersten abgehenden Zuge nach London eilte. Du hattest mich des einzigen Freundes, den ich damals in England hatte, beraubt, und zwar in dem Augenblick, als er meiner Hilfe bedurfte und ich mich auf dem Wege zu ihm befand. Ich hätte sein Schiffchen retten können, du aber hast ihn in den Grund gebohrt! Das war es, offen gesagt, was ich damals dachte.«
»Ich verdenke dir nicht, daß du das vor dem Prozeß geglaubt hast,« sagte Rahel. »Es scheint ja die allgemeine Ansicht gewesen zu sein.«
»Ich hatte mir die meinige aber ohne fremde Beeinflussung gebildet, und hatte auch eine ganz besondere Berechtigung dazu,« fuhr Steel mit einem auffallenden Beben in der gewöhnlich so ruhigen Stimme fort. »Womit soll ich beginnen? Ich weiß es wahrhaftig nicht. Nun also, du erinnerst dich, daß du in der Nacht des Mordes die Treppe heruntergekommen und ins Studierzimmer getreten bist, oder eigentlich mehr nur hineingeschaut hast. Es mochte etwa ein Uhr gewesen sein.«
Rahel fuhr erschrocken in ihrem Stuhle auf.
»Großer Gott!« rief sie. »Wie kannst du das wissen?«
»Hast du kein Geräusch gehört, als du die Treppe wieder hinaufgingst?«
»Ich erinnere mich nicht.«
»Auch kein Klirren des Briefkastens?«
»Doch, doch, nun erinnere ich mich wieder. Und das solltest du gewesen sein?«
»Ich war es in der Tat,« sagte Steel ernst. »Ich sah dich herunterkommen, sah dich, von Furcht und Widerwillen gepackt, hineinschauen. Ich sah dich auch zurückweichen und bemerkte den Ausdruck des Entsetzens auf deinem Gesicht, als du jene beiden Türen wieder schlossest und die Lichter auslöschtest. Später erfuhr ich dann durch die Aussage des Arztes, daß dein Gatte um diese Zeit gestorben sein mußte. Daß er während der nächsten Stunden nicht erschossen worden war, das wenigstens wußte ich genau, denn ich wartete bis etwa halb drei Uhr in der Hoffnung, er möchte herauskommen. Obwohl ich die ganze Zeit über bei dir oben Licht brennen sah, wollte ich doch nicht läuten und dich veranlassen, die Treppe noch einmal herunterzukommen, denn ich hatte dein entsetztes Gesicht gesehen und sah im obern Stock noch immer Licht.«
»So glaubtest du also, ich sei heruntergekommen, um mir meiner Hände Werk anzusehen?«
»Um zu sehen, ob er wirklich tot sei. Ja, so dachte ich später. Ich mußte das denken, Rahel.«
»Kam es dir denn aber niemals in den Sinn, ich könne heruntergekommen sein, um zu sehen, ob er eingeschlafen sei?«
»Dieser Gedanke ist mir allerdings seither öfters gekommen.«
»Du hast mich aber doch nicht die ganze Zeit über für schuldig gehalten?«
»Nein, nicht die ganze Zeit.«
»Tatest du es noch während meines Prozesses?«
»Gott verzeihe mir, ja, das tat ich. Und gerade während dieser Zeit wurde ich durch eine Aussage von dir mehr als durch alles andre in meiner Ansicht bestärkt. Es war in dem Augenblick, als du den Geschworenen sagtest, du habest Alexander Minchin damals, ehe du die Treppe wieder hinaufgegangen seiest, zum letzten Male am Leben gesehen.«
»Aber es war ja doch wirklich so,« sagte Rahel. »Ich erinnere mich jener Frage sehr wohl. Auch wußte ich zuerst nicht, wie ich sie beantworten sollte. Ich konnte doch unmöglich sagen, daß ich ihn tot gesehen, ihn aber für schlafend gehalten hätte; das hätte man mir ja niemals geglaubt. So sagte ich eben die einfache Wahrheit. Aber dieser ganze Zwischenfall hat mich furchtbar aufgeregt.«
»Das sah ich dir an. Du fürchtetest wohl ein Kreuzverhör?«
»Ja, denn ich wußte wirklich nicht, ob ich mich an die Wahrheit halten oder lügen sollte.«
»Ich habe die Gabe, auf den Gesichtern der Menschen zu lesen,« fuhr Steel nach einer Pause fort. »So erriet ich auch deinen Kampf. Du siehst aber doch auch gewiß jetzt ein, daß ich nur eine einzige mögliche Folgerung daraus ziehen konnte?«
»Ja, ich sehe es ein.«
»Und nun du es einsiehst, willst du mir verzeihen?«
»Ja, das verzeihe ich. Aber wie ist es möglich, daß du mich heiraten konntest, obwohl du mich für schuldig hieltest? Daß du mir damals deine Ansicht verheimlicht hast, begreife ich, denn die Umstände erforderten es wohl. Aus welchem Grunde du es aber getan, das hast du mir noch immer nicht gestanden.«
»Aufrichtig gesagt, Rahel, weil du mich bezaubert hast.«
»Aber doch nicht gleich von Anfang an.«
»Nein.«
»Dann sage mir doch endlich deinen ursprünglichen Beweggrund, denn ich bin des Ratens wirklich müde.«
Steel stand vor seiner Frau, wie er noch nie vor ihr gestanden hatte, mit vorgeneigtem Kopf, die dunkeln Augen gesenkt, die Hände flehend ineinander verschlungen – das Bild eines Bittenden und Büßenden zugleich.
»Bestrafen wollte ich dich,« sagte er. »Ich fand, daß doch jemand es tun müsse, denn ich wußte, daß, wenn ich das zur Anzeige bringen würde, was ich gesehen hatte, du unrettbar gehängt worden wärest. Und so – so heiratete ich dich statt dessen.«
Seine Augen waren noch immer auf den Boden geheftet. Als er sie endlich aufschlug, lächelte Rahel durch Tränen. Gesprochen hatte sie aber schon vorher.
»Das war aber doch kein gar so fürchterlicher Grund,« kam es von ihren Lippen; »jedenfalls ist es keine schwere – Strafe gewesen!«
»Nein, das kam aber daher, weil etwas in mir vorging, was ich am wenigsten für möglich gehalten hätte.«
»Und was war das?«
»Mich gleich von Anfang an in dich zu verlieben.«
Rahel zuckte leicht zusammen.
»Trotzdem du mich für schuldig hieltest?«
»Das hatte nicht den geringsten Einfluß auf meine Gefühle. Übrigens bezweifelte ich das mit der Zeit mehr und mehr, bis schließlich an jenem Abend, als du zuerst mich und dann Langholm auffordertest, nach dem wahren Mörder zu fahnden, eine Schuld deinerseits überhaupt nicht mehr für möglich zu halten war.«
Mit tief geröteten Wangen, zitternden Lippen und ausgestreckter Hand erhob sich Rahel.
»Du hast dich in mich verliebt?« murmelte sie.
»Ja, Gott ist mein Zeuge, Rahel, ich liebe dich – auf meine Weise.«
»Wie glücklich macht mich das!« flüsterte sein Weib.
Ende.