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Einundzwanzigstes Kapitel. – – mit Weile

Langholm kehrte in sein Hotel zurück und schrieb einige Zeilen an Rahel. Es war verabredet worden, daß er ihr direkt und so häufig als möglich Bericht über seine Erfolge zukommen lassen solle, ein offenes Übereinkommen, in das Steel mit höhnischem Lachen eingestimmt hatte. Allein so wenig es auch zu berichten gab, so brauchte Langholm doch trotz seiner Federgewandtheit fast eine Stunde, um auszudrücken, daß er bereits einen hochwichtigen Anhaltspunkt gefunden habe, der der Polizei unglaublicherweise entgangen sei, obwohl er sie sozusagen in die Nase gebissen habe. Niedergeschrieben fand Langholm jedoch jene Mutmaßung selbst so ganz unfaßlich, daß er beschloß, den Brief erst nach seiner Unterredung mit der Zimmervermieterin in Chelsea abzuschicken.

Um die Zwischenzeit totzuschlagen, beschloß er in dem einzigen Klub, dem er noch angehörte, zu speisen. Es war ein in der Nähe des »Strand« gelegenes Künstlerheim, wo hauptsächlich die Bohême von London verkehrte. Kaum hatte Langholm jedoch die bekannten Räume betreten, so verwünschte er auch schon seinen Entschluß, hierhergekommen zu sein. Was hatte er, dem eine so ernste heilige Mission anvertraut war, mit dieser ausgelassenen Gesellschaft zu schaffen? Selbst kein eifriger Klubmensch, war er deshalb nicht wenig überrascht, als ein halbes Dutzend junger Leute, von denen er die meisten kaum kannte, sich bei seinem Eintritt ins Rauchzimmer erhoben und ihn begrüßten. Allein diese Begrüßung brachte zugleich auch die Aufklärung und erfüllte den Neuangekommenen mit einem Entsetzen, das zu plötzlich über ihn kam, als daß er es hätte verbergen können.

Es schien, daß Mrs. Steels Identität mit der ehemaligen Mrs. Minchin nicht nur in Delverton bekannt geworden war. Eines der Lokalblätter, in das hineinzuschauen Langholm sich in seinem glühenden Jagdeifer keine Zeit genommen hatte, mußte einen Artikel darüber gebracht haben. Für den Augenblick war Langholm starr vor Schrecken, und dabei nicht wenig ärgerlich über die Ursache der momentanen Wichtigkeit seiner Person.

»Wenn man den Teufel an die Wand malt, so kommt er!« rief einer, mit dem Langholm von früher her wenigstens einigermaßen auf freundschaftlichem Fuße stand. »Eben habe ich der Gesellschaft hier erzählt, daß der ›wohlbekannte Romanschreiber‹, wie er in der Zeitung genannt wird, niemand anders sein könne als du, da dein Landhaus sich ja irgendwo in jener Gegend befindet. Hast du wirklich die Dame zu Gesicht bekommen?«

»Sie zu Gesicht bekommen?« wiederholte ein Journalist, mit dem Langholm noch nie im Leben gesprochen hatte. »Merkt ihr denn nicht, daß er selbst derjenige ist, der sie aufgestöbert hat, und nun hierhergekommen ist, um die Neuigkeit zu Geld zu machen?«

Langholm nahm seinen Bekannten beim Arm und sagte: »Komm da hinein und iß mit mir. Ich kann dieses Geschwätz nicht länger ertragen. Ja, ja, ich kenne sie sogar sehr gut,« flüsterte er, als sie hinter der spanischen Wand angelangt waren, die Rauch- und Speisezimmer voneinander schied. »Und nun laß mal sehen, was dieses gemeine Blatt zu sagen hat. Sei du inzwischen so freundlich und bestelle uns was Ordentliches zu essen und zu trinken, auch eine Flasche Sekt. Das übrige laß meine Sorge sein.«

Das »gemeine Blatt« wußte indes weniger zu berichten, als Langholm gefürchtet hatte. Erleichtert atmete er auf, nachdem er den kurzen aber bedeutsamen Abschnitt gelesen hatte. Mrs. Minchins neuer Name wurde überhaupt nicht genannt, und der Bezirk, wo sie jetzt wohnte, nur angedeutet, während Langholm selbst nur als »ein wohlbekannter Romanschreiber« erwähnt war, »der sich zufällig unter den Gästen befunden habe und so Zeuge eines sensationellen Auftritts gewesen sei, wie ihn sich ein Schriftsteller nicht schöner wünschen könne.« Langholm fing bereits an, zu bereuen, daß er die Beschuldigung, mit der er empfangen worden war, so bereitwillig auf sich hatte sitzen lassen, denn nur in seinem eigenen Klub konnte es ihm passieren, daß man ihn einen »wohlbekannten Schriftsteller« nannte. Nebenbei aber gewährte es ihm keine geringe Befriedigung, daß man auch dort seine Adresse nicht kannte, denn er hatte seinen Anwalt ein für allemal angewiesen, den Jahresbeitrag für den Klub zu bezahlen und ihm dort einlaufende Briefe gelegentlich nachzuschicken.

Charles Langholm hatte sich nicht mit halben Maßregeln begnügt und wußte genau, warum er seinen neuen Aufenthaltsort so ängstlich geheimhielt. Der Gedanke, daß dem Ehepaar Steel wenigstens durch seine Schuld voraussichtlich keine neuen Widerwärtigkeiten erwachsen würden, wirkte noch belebender auf ihn, als der Champagner.

»Es ist nicht so schlimm, als ich dachte,« sagte Langholm, die Zeitung wegwerfend, während sein Gefährte, der unter dem Namen Valentin Venn bekannte Schauspieler, soeben das Studium der Weinkarte beendigt hatte.

»Alter Junge,« rief Venn gut gelaunt, »du hast dich ja riesig zu deinem Vorteil verändert. Kaum zum Wiedererkennen! Wenn du nur nicht immer so verflucht geheimnisvoll über deinen neuen Unterschlupf wärst? Wie gern würde manchmal so ein armer Komödiant die Brosamen, die von des berühmten Schriftstellers Tisch fallen, auflesen, besonders wenn er brotlos ist, wie ich in diesem Augenblick! Überdies könnten wir uns zu einem gemeinsamen Theaterstück zusammentun, womit sich in drei Wochen mehr Geld herausschlagen ließe, als einer von uns in einem fetten Jahre verdient. Dein kleines Erlebnis zum Beispiel ...«

»Laß mich mit meinen Erlebnissen in Frieden!« rief Langholm hastig. »Ich bin soeben erst mit einem langen Roman fertig geworden, und allein schon beim Gedanken an Romane und derartiges wird mir übel.«

»Nun, du hast zur Abwechslung ja jetzt Tatsachen, mit denen du hantieren kannst und die mir eben so seltsam zu sein scheinen, als irgend eine erdichtete Geschichte. Du Glückspilz! Hattest du sie wirklich den ganzen Sommer über unter dem Mikroskop? Donnerwetter, was für eine famose Rolle sie abgeben würde, diese Mrs. –«

»Trink!« rief Langholm finster, als der Champagner im richtigen Augenblick erschien, »und sage mir, wer der junge Mann ist, der da das Klavier öffnet, und seit wann ihr euch zu Tafelmusik aufgeschwungen habt?«

In dem Teil des großen Raumes, der durch die spanische Wand vom Rauchzimmer getrennt war, stand ein Flügel, der jeden Samstag abend bei den seit langer Zeit berühmten musikalischen Belustigungen des Klubs benützt, sonst aber kaum geöffnet wurde. Und nun war ein tief brünetter, blasser junger Mann im Begriff, langsam und mühsam den Deckel zu heben, als sei er zu schwer für ihn. Valentin Venn schaute über die Schulter nach ihm hin.

»Gütiger Himmel!« sagte er. »Wieder eine Tatsache, die wertvoller ist als die schönste Erfindung – ein so wunderbarer Zufall, daß du wahrscheinlich gar nicht wagen würdest, ihn in einem Roman anzuwenden.«

»Nun, wer ist es denn?«

Venns Antwort bestand darin, den mageren Jüngling mit derber Lustigkeit zu sich heranzurufen. Der junge Mann zuckte zusammen, zögerte, kam aber schließlich doch schüchtern näher. Langholm bemerkte, daß er sehr krank aussah, daß sein Gesicht ebenso fein als blaß und mager, der Ausdruck aber auffallend sanft und sympathisch war.

»Severino,« sagte Venn mit dem ganzen Pathos des Schauspielers, »gestatten Sie, daß ich Sie dem berühmten Schriftsteller Charles Langholm vorstelle, den nicht zu kennen Ihnen den Stempel der Unwissenheit aufdrücken würde.«

»Und der das Nonplusultra eines modernen Literaten ist,« fügte Langholm mit komischer Arroganz hinzu, während er die Hand des Jünglings herzlich drückte, sie aber gleich wieder losließ, da er sie zu zerquetschen fürchtete. »Mr. Langholm ist überdies,« fuhr Venn fort, »der Held jenes gewissen Artikels« – Langholm stieß ihn unter dem Tisch an – »jenes – jenes Zeitungsartikels über sein letztes Buch,« verbesserte er. »Und du, Langholm, mußt wissen, daß Severino der beste Klavierspieler ist, den wir je im Klub gehabt haben, seitdem ich ihm angehöre. Gleich nachher wirst du dich selbst davon überzeugen können. Er spielt uns jedesmal etwas vor, wenn er sich herbeiläßt, hier zu essen, und du darfst dich glücklich preisen, daß du gerade einen solchen Abend erwischt hast.«

»Aber worin besteht denn das Seltsame an diesem Zusammentreffen?« fragte Langholm, als der junge Mann mit fast schwermütigem Kopfschütteln zum Klavier zurückkehrte.

»Das fragst du noch?« rief Venn mit gedämpfter Stimme. »Du behauptest, ein Freund jener Mrs. Minchin, oder wie sie jetzt heißen mag, zu sein, und nichts von Severino gehört zu haben?«

»Ich weiß nichts von ihm,« entgegnete Langholm, dessen Herz plötzlich fieberhaft zu klopfen begann. »Wer ist er denn?«

»Der Mann, den sie in der Nacht, als ihr Mann ermordet wurde, pflegen wollte – die Ursache des letzten Zerwürfnisses zwischen den beiden Ehegatten! Sein Name ist zwar damals in den Zeitungen nicht genannt worden – dies hier aber ist der Mann – – –«

Langholm lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Da hatte er nun einen ganzen heißen Sommertag diesem Menschen nachgespürt, um dann am Abend durch reinsten Zufall dessen persönliche Bekanntschaft zu machen. Es grenzte in der Tat ans Unglaubliche. Und doch empfand Langholm nicht einmal die schuldige Dankbarkeit für diesen Glücksfall! Er hätte die Erfolge so viel lieber seiner eigenen Geschicklichkeit als dem Glück verdankt. Dazu kamen noch weitere Enttäuschungen, indem sich gleich darauf Dinge ereignen sollten, die noch viel unglaublicher waren, als das zufällige Zusammentreffen mit einer gesuchten Person.

»Das ist also der Mann,« wiederholte er in einem Ton, der seinem Gefährten wohl manches verraten hätte, wenn jene Finger, die Langholm bei seinem Händedruck zu zerquetschen gefürchtet hatte, in diesem Augenblick nicht mit dem kraftvoll-zarten, sicheren Anschlag eines Meisters der Kunst auf die Tasten niedergefallen wären, während der gefühlvolle Künstler sich auf seinem Stuhl hin und her wiegte.

»Gelt, der kann etwas?« flüsterte Valentin Venn, als habe sich die Unterhaltung der beiden nur um das Spiel des jungen Mannes gedreht.

Allein selbst der von seinen Gedanken hingenommene Romanschreiber konnte nicht anders als lauschen und zustimmend nicken, und wieder lauschen, ehe er antwortete.

»Und ob,« sagte er endlich. »Aber warum hat man denn krampfhaft seinen Namen bei dem Prozeß unterdrückt?«

»Das hat man nicht getan, man zog ihn nur nicht mit hinein, weil es doch keinen Wert gehabt hätte. Der arme Kerl befand sich nämlich zur Zeit des Mordes am Rand des Todes.«

»Ist das eine erwiesene Tatsache?«

Verwundert riß Venn die Augen auf.

»Kann man nicht vielleicht annehmen,« fuhr Langholm fort, indem er mit der fatalen Fixigkeit des professionellen Geschichtenerzählers dem andern etwas vorflunkerte, »daß jene Krankheit eine Finte war und er in Wirklichkeit mit der Dame durchgehen wollte.«

»Es war aber keine Finte.«

»Mag sein. Aber wie willst du das so bestimmt wissen? Meiner Ansicht nach hätte man ihn unter allen Umständen auf die Zeugenbank bringen und vernehmen müssen.«

»Er war damals noch viel zu krank,« entgegnete Venn. »Allein ich will dich sofort beim Wort nehmen, lieber Freund, und dir sagen, wie es kommt, daß ich so genau über seine Krankheit unterrichtet bin. Sieh dir mal den brünetten Menschen dort drüben mit der Zigarre an, der eben hereinkommt, um dem Spiel zuzuhören. Das ist Severinos Doktor. Er war es, der den Burschen hier eingeführt hat, und wenn du willst, werde ich ihn dir nach dem Essen vorstellen.«

»Gut,« sagte Langholm nach kurzem Zögern, »das wäre mir in der Tat sehr lieb.« Dann fügte er, sich über den kleinen Tisch beugend, hinzu: »Ich kenne jene Dame nämlich näher, und glaube unbedingt an ihre Unschuld. Allein ich möchte diese Überzeugung auch ihren und meinen Bekannten beibringen –, deshalb bin ich hier, also bitte, verrate mich nicht.«

»Nein, nein, mein Lieber, ich werde schweigen wie das Grab,« antwortete Venn.

Schon eine kurze Unterhaltung mit dem Doktor genügte, Langholms Neugierde zu befriedigen und das tolle Vorurteil, das er während dieses ganzen verlorenen Tages gehegt hatte, zu verscheuchen. Auch der Doktor gehörte zu der Künstlerkolonie von Chelsea und war durchaus nicht abgeneigt, sich über eine Begebenheit zu unterhalten, die er ganz besonders gut kannte, da er in all den verschiedenen Stadien des Prozesses als ärztlicher Sachverständiger zugezogen worden war. Überdies hatte er durch die spanische Wand gehört, daß Langholm der in dem Zeitungsartikel erwähnte Romanschreiber sei, und da er sich begreiflicherweise für den Fall interessierte, so begann er nun auch seinerseits, Langholm auszufragen. Dieser aber lohnte das freundliche Entgegenkommen des Doktors schlecht, denn er wich mit großer Geschicklichkeit allen Fragen aus und verließ bald den Klub. Ehe er fortging, begab er sich noch ins Lesezimmer, wo er einen Brief in Fetzchen zerriß und diese im Papierkorb zurückließ.

Der kleine Zwischenfall aber, der sich, unmittelbar nachdem Langholm den oberen Saal verlassen hatte, ereignete, hätte diesen nicht wenig in Erstaunen versetzt. Severino, der eine ganze Stunde lang anscheinend vollständig von seinem eigenen hinreißenden Spiel gefesselt gewesen war und die um ihn her mit Essen und Rauchen beschäftigten Kameraden ganz vergessen zu haben schien, hatte, nachdem Langholm fort war, sein Spiel plötzlich unterbrochen und sich der von dem Schriftsteller soeben verlassenen Gruppe zugesellt.

»Wer war der Herr?« fragte Severino in so tadellosem Englisch, daß der leichte italienische Akzent seiner weichen Stimme nur noch einen Reiz mehr verlieh. »Ich verstand den Namen nicht.«

Man wiederholte ihn mit Bemerkungen, wie man sie unbedenklich hinter dem Rücken eines Menschen machen kann.

»Ein verflucht anständiger Kerl, der verdammt schlechte Romane schreibt,« lautete eine davon.

»Und nicht zu vergessen,« sagte ein andrer, »er ist jener wohlbekannte Schriftsteller, der als Nachbar und Freund jener Mrs. Minchin gegenwärtig viel genannt wird.«

Abwehrende Blicke von Venn und dem Doktor schnitten ihm das Wort ab, doch erst nachdem dem jungen Italiener bereits ein Licht aufgegangen war, und sofort stieg in dessen hohle Wangen ein dunkles Rot, während es in seinen eingesunkenen Augen leidenschaftlich aufblitzte. Im Nu stand er auf den Füßen, ohne auch nur einen Versuch zu machen, seine Erregung, oder vielmehr die tiefe Gemütsbewegung, die dieser Erregung zu Grunde lag, zu verbergen.

»Sagten Sie nicht, er kenne sie? Er kenne Mrs. Minchin?«

»Oder wie sie jetzt heißen mag: ja, ja, so sagte er.«

»Und wie heißt sie jetzt?«

»Er will es nicht sagen.«

»Auch nicht wo sie wohnt?«

»Nein.«

»Und wo wohnt denn er?«

»Auch das weiß keiner von uns. Er steckt voll Heimlichkeiten.«

Venn stimmte dem Sprecher mit einer gewissen Bitterkeit im Tone bei, worauf der andre Langholms Partei ergriff.

»Es wäre besser, wir machten es ebenso,« sagte er. »Denkt doch nur, wenn einer von uns zum Beispiel eine Balletttänzerin geheiratet hätte, sie ihm aber davongelaufen wäre und er fürchten müßte, sie käme eines schönen Tages zurück!«

Man pflegt in derartigen Klubs die Tragödien des Lebens etwas cavalierement zu behandeln!

»Was die Frauen anbelangt, so war Langholm immer ein wunderlicher Heiliger,« entgegnete derjenige, der auch vorhin so rasch über den Schriftsteller abgeurteilt hatte. »Diesmal ist es nun also Mrs. Minchin!«

Wie Zauberei wirkte dieser Name auf Severino. Seine Aufmerksamkeit war etwas eingeschlafen, nun wurde sie reger als zuvor.

»Wenn Sie nicht wissen, wo er auf dem Lande wohnt, so können Sie mir vielleicht sagen, wo er in der Stadt abgestiegen ist?«

»Auch das wissen wir nicht.«

»Nun, dann will ich ihn schon aufspüren!«

Damit rannte der blasse Musiker aus dem Zimmer, um den Mann zu suchen, der während des ganzen Tages nach ihm gesucht hatte.


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