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»Sind die Damen wieder fort?«
Langholm hatte trotz des Regens einen großen Umweg auf seinem Rad gemacht, um ihnen auszuweichen. Und obwohl auf der schmalen Landstraße keine Wagenspuren zu sehen waren, so hatte er doch eben jene Worte Frau Brunton durchs Gitterpförtchen zugeflüstert und den nassen, knirschenden Kiesweg nicht zu betreten gewagt, ehe er sich nicht bei der guten Frau vergewissert hatte, daß die Damen schon seit einiger Zeit fortgegangen waren.
»Seither ist er wie verwandelt,« fügte sie hinzu. »Aber Mr. Langholm, wie haben Sie nur so patschnaß werden können? Du meine Güte, wie unvorsichtig! Schnell, schnell, machen Sie, daß Sie die abscheulichen nassen Sachen vom Leibe bringen, sonst müssen Sie sich auch noch von mir pflegen lassen.«
Damit humpelte die freundliche alte Seele geschäftig davon, um ihm eine große Kanne mit heißem Wasser zu bringen, worauf Langholm rasch ein Bad nahm und die Kleider wechselte, ehe er sich zu dem Kranken begab. Auch er fühlte sich wie verwandelt. Die gründliche Durchnässung hatte auch seinen Geist abgekühlt und seine Nerven beruhigt. Sein Kopf schmerzte ihn zwar noch infolge des lange entbehrten Schlafes, aber war doch wenigstens wieder ziemlich klar. Wenn nur seine Pflicht halb so klar vor ihm läge wie jetzt das Geheimnis – das keines mehr war! Und doch gewährte es ihm eine gewisse Befriedigung, das Rätsel gelöst zu haben – nein, eine volle Befriedigung, denn es überhob ihn sofortigen Eingreifens. Langholm aber hatte ohne seinen kranken Gast gerechnet. Mit der Absicht, nur wenige Minuten zu bleiben, betrat er die Krankenstube, nicht ahnend, was seiner dort wartete.
Lächelnd wie ein glückliches, wenn auch fieberhaft aufgeregtes Kind lag Severino in den Kissen. Mit Besorgnis bemerkte Langholm diese Erregung, und sie bestärkte ihn noch mehr in dem Vorsatz, seinen Besuch so viel als möglich abzukürzen. Einen erfreulicheren Anblick bot ihm das hübsch und behaglich zurechtgemachte Zimmer, das seiner Hände Werk war, und das die Damen nun auch gesehen hatten. Die Habseligkeiten der guten Bruntons waren größtenteils in das jetzt von ihnen bewohnte Zimmer gebracht worden, und an deren Stelle hatte Langholm aus dem Möbelgerümpel im ersten Stockwerk verschiedene hübsche Sachen ausgegraben, sie dann abgestaubt und eigenhändig hinuntergeschleppt. Dicht neben dem Bett stand ein echtes Chippendaletischchen und darauf eine echte Delfter Vase mit Rosen, die den Regen überdauert hatten. Ein Tröpfchen Wasser, das auf den Tisch verschüttet worden war, wischte Langholm in fast hausfraulicher Geschäftigkeit mit seinem Taschentuch weg.
»Sie war ganz verliebt in das Tischchen, das Sie für mich aufgestöbert haben,« sagte Severino, »und Mrs. Woodgate hätte zu gern die Vase gehabt. Beide fragten, ob Frau Brunton sich nicht vielleicht zu einem Verkauf entschließen würde.«
»Sie gehören nicht Frau Brunton,« antwortete Langholm kurz.
»Nicht? Mrs. Woodgate sagte aber doch, sie habe diese Sachen nie in Ihrem Zimmer bemerkt. Wo haben Sie sie denn aufgegabelt?«
Nachdenklich schaute Langholm diese beiden Gegenstände an. »Das Tischchen habe ich in einem kleinen Altertumsladen in Buschey Heath gekauft, wo ich einmal einen Tag zugebracht habe. Ich erinnere mich, daß man sich bücken mußte, um zur Tür hineinzugelangen. Die Vase stammt aus der Great Portland Street in London.« Der Preis schwebte ihm auf den Lippen, denn beides hatte er um ein Spottgeld erworben, worauf er damals nicht wenig stolz gewesen war.
»Wenn die Damen morgen wiederkommen, darf ich nicht vergessen, ihnen davon zu erzählen,« sagte Severino. »Dies sind so recht Dinge, wie die Frauen sie gerne haben.«
»Ja, das ist wahr,« stimmte Langholm zu, die gesenkten Augen noch immer auf Tisch und Vase geheftet. »Dinge wie die Frauen sie gern haben. Die Damen wollen also morgen wiederkommen, sagten Sie nicht so?«
Lebhaft war diese Frage von seinen Lippen geflossen.
»Ja, sie haben es versprochen.«
»Beide?«
»Ja, hoffentlich.«
Der Kranke erging sich jetzt in eifrigen Erklärungen. »Ach, Langholm, ich will sie ja nur sehen, mehr verlange ich nicht. Was würde es mir auch nützen? Sie zu sehen, in ihrer Nähe zu sein, das ist mein einziger Wunsch – jetzt und immer. Ach, wie es mich beglückt hat! Es war auch wirklich besser so, als wenn sie allein gekommen wäre, denn, wissen Sie, so kann ich nichts sagen – nichts von Bedeutung. Verstehen Sie mich?«
»Vollkommen,« antwortete Langholm sanft.
Mit weit geöffneten Augen sah der junge Mann jetzt zu Langholm auf, der sich einbildete, Ungläubigkeit in diesem Blick zu lesen. Bei dem trüben Regenwetter senkte sich die Dämmerung frühzeitig hernieder, die Fenster waren klein und überdies durch Schlingpflanzen halb überwuchert, die zwei großen Augen aber schienen in dem Dämmerlicht nur noch mehr zu leuchten. Nun brachte Langholm es doch nicht fertig, seinen Besuch gar zu sehr abzukürzen, denn er fühlte wohl, daß es grausam gewesen wäre.
»Worüber haben Sie dann mit den Damen gesprochen?« fragte er.
»Über Sie,« lautete die von einem schwachen Lächeln begleitete Antwort.
»Über mich! Was um des Himmels willen hatten Sie denn über mich zu sagen?«
»Sie erzählte mir alles, was Sie in den letzten Tagen unternommen haben.«
»Ach so!«
»Wie Sie sich erinnern werden, hatten Sie mir an jenem Abend in London gar nichts von Ihren Absichten gesagt.«
»Nein, denn damals fing ich mit meinen Nachforschungen ja erst an.«
Jetzt schien es ihm, als seien Monate seit jenem Tag verflossen, und wieder so und so viele Monate seit diesem Nachmittage.
»Haben Sie irgend etwas ausfindig gemacht?«
Langholm zögerte.
»Ja.« Warum sollte er lügen?
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie jemand im Verdacht haben?« fragte Severino, sich auf seinen Ellbogen stützend.
»Mehr als bloßen Verdacht. Ich bin meiner Sache so gut wie sicher. Kein Zweifel kann mehr bestehen. Ein reiner Zufall verschaffte mir den Anhaltspunkt, und nun stimmt plötzlich alles, was ich entdeckt habe, auffallend überein.«
Severino ließ sich auf seine Kissen zurücksinken. Schien es ihm doch, als ob es Langholm wohltue, seinem Herzen durch rückhaltlose Aussprache Erleichterung zu verschaffen. Und er täuschte sich nicht.
»Und was haben Sie nun beschlossen?«
»Das ist eben die Schwierigkeit. Sie muß vor allem vor der Welt gerechtfertigt werden. Dies ist die erste Pflicht – – aber wie soll das geschehen, ohne daß sie vom Regen in die Traufe kommt?«
»Vom Regen in die Traufe? Wie wäre das möglich, Langholm?«
Keine Antwort.
»Wer glauben Sie denn, daß es gewesen ist?«
Wieder blieb die Antwort aus, denn Langholm hatte vorläufig durchaus noch nicht die Absicht, jemand in seine Entdeckung einzuweihen.
Severino stützte sich von neuem aus seinen Ellbogen.
»Ich muß es wissen!«
Lachend erhob sich Langholm.
»Ich will Ihnen sagen, wen ich zuerst im Verdacht gehabt habe,« sagte er heiter. »Gerade weil meine Vermutung so unsinnig war, will ich sie Ihnen eingestehen, und Sie werden sicherlich der erste sein, der mich darüber auslacht. Denken Sie sich, so dumm war ich, daß ich eine Zeitlang glaubte, Sie, mein armer, lieber Junge, seien es gewesen.«
»Und nun glauben Sie es nicht mehr?« fragte Severino in fast barschem Ton. Von einem Lachen keine Spur.
»Natürlich nicht, mein lieber Junge.«
»Wollen Sie sich nicht wieder setzen? – So, das ist besser. Sie wissen also, daß es ein andrer war?«
»Soweit man überhaupt etwas bestimmt wissen kann.«
»Und nun haben Sie die Absicht, den Mann anzuzeigen?«
»Das weiß ich noch nicht. Vielleicht nimmt die Polizei mir die Mühe ab. Sie scheint nämlich auf der gleichen Fährte zu sein wie ich. Inzwischen habe ich ihn gewarnt, so offen und ehrlich, als man es nur wünschen kann.«
Schweigend legte Severino sich zurück in den tiefen Schatten. Er atmete schwer. Ein Zittern schien über das Bett hinzugehen.
»Das hätten Sie nicht zu tun brauchen,« flüsterte er endlich.
»Ich hielt es für meine Ehrenpflicht.«
»Trotzdem hätten Sie es nicht zu tun brauchen, weil – weil Ihre erste Vermutung richtig war.«
»Richtig?« wiederholte Langholm, ohne zu begreifen. »Meine erste Vermutung war – richtig?«
»Sie sagten doch, Sie hätten zuerst geglaubt, ich sei es gewesen, der – ihren Gatten getötet hat.«
»Sie konnten es ja gar nicht gewesen sein.«
»Und doch ist es so.«
Schon wieder sprang Langholm auf. Er konnte sich nur eine Erklärung für diese unsinnige Behauptung denken. Severinos Krankheit mußte sich ins Gehirn gezogen haben: Er phantasierte, und dies war das erste Anzeichen.
»Wohin gehen Sie?« fragte der Kranke in kläglichem Ton, als sein Gefährte sich der Tür zuwendete.
»Wann ist der Doktor zuletzt hier gewesen?« fragte Langholm anstatt der Antwort.
Einige Augenblicke war alles still, dann klang ein schwaches Lachen, das in Schluchzen überzugehen drohte, vom Bett herüber.
»Nun verstehe ich, was Sie denken. Wie soll ich Sie überzeugen, daß ich bei gesunden Sinnen bin? Ich möchte zwar lieber jetzt noch kein Licht – trotzdem – sehen Sie, dort in meinem Koffer ist meine Schreibmappe. Sie ist verschlossen, aber die Schlüssel sind in meiner Hosentasche. In der Schreibmappe werden sie ein versiegeltes Kuvert finden, und darin ein ausführlicheres Geständnis, als ich es jetzt ablegen kann. Nehmen Sie es mit hinunter und werfen Sie einen Blick hinein – dann kommen Sie zu mir zurück.«
»Nein, nein,« sagte Langholm mit heiserer Stimme; »nein, ich glaube Ihnen. Ja – es war mein erster Gedanke!«
»Ich wußte ja kaum, was ich tat,« flüsterte Severino. »Damals, ja, da war ich nicht bei Sinnen. Und doch erinnere ich mich des ganzen Vorganges besser als an irgend sonst etwas in meinem Leben. Nicht eine Stunde lang habe ich ihn aus dem Gedächtnis verloren – seitdem er mir damals zum ersten Male wieder zum Bewußtsein gekommen ist.«
»Sie hatten also nachher mehrere Tage lang das Bewußtsein verloren?«
»Sogar wochenlang. Sonst – davon dürfen Sie überzeugt sein – und sie ist sicherlich die erste, die meinen Worten glaubt – sonst hätte ich sie doch niemals –«
»Natürlich – natürlich, mein armer Junge,« unterbrach ihn Langholm, indem er nach der abgezehrten Hand tastete und sie liebevoll streichelte, als sei sie die eines Kindes. Und doch war es die Hand, die Alexander Minchin erschossen hatte! Langholm dachte wohl daran, trotzdem aber lag in der Art, wie er sie berührte, etwas Zartes, Mitleidvolles.
»Ich möchte Ihnen gerne alles sagen,« murmelte der Kranke. »Ach, wie ich mich gesehnt habe, es ihr zu sagen – Gott weiß es! Und deshalb nur bin ich noch in der gleichen Stunde, als ich ihren Aufenthaltsort entdeckte, hierher geeilt. Doch nein, nein, dies war es nicht allein. Ich bin zu krank, um länger heucheln zu können. Es war nämlich durchaus kein Vorwand, als ich Ihnen versicherte, daß meine Liebe mich einzig und allein hierhergeführt habe. Ich glaube, daß ich auch gekommen wäre, wenn ich ihr gar nichts anzuvertrauen gehabt hätte – nur um in ihrer Nähe zu sein, wie diesen Nachmittag. Der andre Grund aber machte mein Kommen zur Pflicht. Als sie jedoch diesen Nachmittag nun endlich vor mir stand, da konnte ich meine Pflicht nicht erfüllen. Der Mut fehlte mir dazu. Ihre Nähe hat mich überwältigt. Und dann war doch auch die andre Dame dabei – ach, ich dankte Gott auch für ihre Anwesenheit, denn dadurch wurde mir ein Geständnis unmöglich gemacht. Sie aber müssen jetzt alles erfahren, besonders nach dem, was Sie mir gesagt.«
Selbst in diesem Augenblick vergaß Langholm seine Aufgabe als Krankenwärter nicht.
»Warten Sie einen Augenblick,« rief er, um nach wenigen Minuten mit einem Becher Champagner zurückzukehren. »Für einen Damenbesuch habe ich immer so etwas vorrätig,« erklärte er lächelnd. »Nun bleibt mir aber leider doch nichts andres übrig, als das Licht anzuzünden, doch werde ich es ans andre Ende des Zimmers stellen. Der Becher ist Ihnen doch nicht unangenehm? So, nun trinken Sie und erzählen Sie mir nur das, was zu sagen Ihnen Bedürfnis ist, weder mehr noch weniger.«
»Alles ist schriftlich niedergelegt,« begann Severino schon nach dem ersten kleinen Schluck mit etwas kräftigerer Stimme. »Wie ich sie zuerst singen hörte im Sommer durchs offene Fenster – ach, erst im letzten Sommer war das! Wie sie mich spielen hörte, und wie wir uns dann schließlich kennen lernten. Sie fühlte sich unglücklich, denn er war ein schlechter Gatte, doch hab' ich dies alles nur erraten. Gegen mich war er übrigens ziemlich artig – in seiner Weise. Wenn sie Gäste hatten, ließ er mich häufig holen, damit ich etwas vorspielte – ein Grund aber nur konnte mich bestimmen, solchen Aufforderungen zu folgen. O ja, der Boden, den ihr Fuß betrat, die Luft, die sie einatmete! Jetzt mache ich kein Geheimnis mehr daraus. Wenn ich es damals tat, so geschah es, weil ich sie zu gut kannte und das Wenige zu verlieren fürchtete, das mir gewährt wurde. Trotzdem hat dieser rohe, brutale Unmensch – dieses Scheusal –«
Mit einer Anstrengung, die sein fahlbraunes Gesicht mit roten Flecken bedeckte, so daß es im schwachen Schein des entfernt stehenden Kerzenlichtes wie gesprenkelt aussah, tat er sich Gewalt an. Langholm reichte ihm von neuem den Becher, und ein kleiner Schluck genügte, ihn wenigstens vorübergehend zu beleben, und ihm die einzige Erleichterung zu verschaffen, deren menschliche Hilfe jetzt fähig war. Nun lag er ruhig und schweigend mit allmählich wieder heller blickenden Augen da und sammelte neue Kraft und Selbstbeherrschung.
»Ich war krank – sie brachte mir Blumen. Eine schwache Konstitution habe ich immer gehabt, nun aber wurde ich sehr schwer krank. Ein Mann wie Sie wäre mit einem Schnupfen davongekommen, bei mir aber zeigte sich schon am nächsten Tag eine heftige Lungenentzündung. Nun besuchte sie mich, beriet sich mit dem Doktor, traf allerlei Vorkehrungen zu meiner Erleichterung und versprach, die nächste Nacht an meinem Bett wachen zu wollen. Gott segne sie allein schon für ihre gute Absicht! Jedermann glaubte, ich hätte keine Ahnung davon und bereits das Bewußtsein verloren. Durch Anspannung meiner ganzen Willenskraft bewahrte ich es mir aber doch, um mir die Wonne ihres Anblicks zu verschaffen, ach, ich weiß nicht, was ich um ihretwillen nicht alles zu ertragen vermocht hätte! ... Sie aber ist niemals gekommen!
»Meine Wirtin übernahm nun an ihrer Stelle wieder die Nachtwache. Auch sie gehört zu den besten, gutherzigsten Frauen, die es auf dieser Erde gibt. Sie hielt viel mehr von mir, als ich verdiente, und sie war es, die mich durch dick und dünn während des nun folgenden Deliriums und auch nachher durch alle Phasen meiner Krankheit pflegte und beschützte. Nicht einmal die volle Wahrheit gestand sie damals vor Gericht. Wer aber könnte ihr dies als eine Schuld anrechnen? Ich will auf die himmlische Barmherzigkeit verzichten, wenn dieser braven Frau keine irdische zuteil wird! Sie hat mir das Leben gerettet – für die heutige Stunde! In jener Nacht aber – es war ihre zweite Nachtwache, und auch den ganzen Tag hatte sie mein Zimmer kaum verlassen – in jener Nacht, da übermannte sie der Schlaf auf dem Stuhl neben mir. Noch heute höre ich ihre gleichmäßigen Atemzüge.
»Arme, liebe Seele! Wie mir dies damals auf die Nerven ging! Um so mehr sehnte ich mich nach – jener andern. Warum hatte sie ihr Wort gebrochen? Ich wußte freilich wohl, daß sie es nicht absichtlich getan hatte. Jemand mußte sie von ihrem Vorhaben abgehalten haben. Am Ende er? Da er sie so viel allein ließ, hatte ich gehofft, er werde auch an diesem Abend fern sein, allein er befand sich in Wirklichkeit nur auf der Lauer, wie Sie bald hören werden. Endlich stand ich auf und ging ans Fenster. Da sah ich, daß außer dem ihrigen alle gegenüberliegenden Häuser in tiefem Dunkel lagen.«
Langholm sprang plötzlich in die Höhe, setzte sich dann aber ebenso rasch wieder.
»Weiter.«
»Was dachten Sie eben, Langholm?«
»Ich glaube zu wissen, was Sie nun taten.«
»Was meinen Sie? Sprechen Sie, bitte, und ich werde dann sagen, ob Sie recht haben.«
»Alle die Gartenmauern – sie hängen doch miteinander zusammen?«
»Gewiß, gewiß.«
»Sie sind aus ihrem Fenster gestiegen, auf ihre Gartenmauer geklettert und auf dieser dem erleuchteten Fenster zugegangen. Diese Idee ist Ihnen plötzlich gekommen, so wie auch mir, als ich neulich durchs Haus ging.«
Verwundert schaute Severino den Mann mit der regen Phantasie an.
»Und doch konnten Sie nachher noch einen andern im Verdacht haben?«
»Auch bei ihm fehlt es nicht an belastenden Momenten, aber es ist allerdings höchst seltsam, daß ich zuerst auf der richtigen Spur war.«
»Ich war mir nicht recht klar, was ich tat,« fuhr der junge Italiener fort, der wie viele begabte Ausländer ein korrekteres Englisch sprach als mancher geborene Engländer, und den nur ein leichter, fremdartiger Akzent, der schriftlich nicht wiedergegeben werden kann, als Nichtengländer verriet. »Auch erinnere ich mich kaum mehr, was sich zwischen dem Hinausklettern aus unserm Garten und dem Hineinsteigen in den ihrigen alles ereignet hat. Ich weiß eigentlich nur noch, daß meine Füße recht kalt waren.
»Es mochte nahezu Mitternacht gewesen sein, und der Schauplatz der Tat – das Studierzimmer – war am hellsten erleuchtet. Eine elektrische Lampe leuchtete über dem Schreibtisch am Fenster und eine zweite auf einem Armleuchter neben den Büchergestellen. Das Fenster war weit geöffnet: es liegt direkt über dem Küchenfenster, das halb unter der Erde liegt und nach außen vergittert ist. Der Sims dieses Fensters reichte mir nur etwa bis ans Kinn. Jetzt kann ich Ihnen das alles ganz genau beschreiben, doch damals kam ich eigentlich erst zu mir selbst, als ich mich schon im Zimmer befand. – Ja, bitte, ich will gern noch einen Schluck trinken. Doch fürchten Sie nichts, die Aussprache tut mir eher gut, als daß sie mir schadet. Übrigens finden Sie ja alles auch schriftlich aufgezeichnet.«
Langholm goß von dem schäumenden Getränk in den Becher. Draußen war inzwischen die Nacht herniedergesunken, und innen im Zimmer, wo das in der Ecke stehende Licht die einzige Beleuchtung bildete, saß der eine Mann am Lager des andern, während die Blicke beider fest aufeinander geheftet waren.
»Beim Hineinsteigen verschüttete ich die Tinte über das Pult. Ich erinnere mich, daß ich im Begriff war, nach etwas zu suchen, um sie aufzuwischen, als ich plötzlich die Stimmen der beiden über mir hörte.«
»Beide Stimmen hörten Sie?«
»Ja, sie zankten sich, und zwar über mich. Das erste, was ich verstand, war mein eigener Name. Dann kam der Mann plötzlich heruntergepoltert. Es fiel mir jedoch nicht einen Augenblick ein, mich wieder davonzumachen, obwohl sämtliche Türen offenstanden. Ich hatte nämlich auch noch etwas andres verstanden, und so erwartete ich ihn, um ihm zu sagen, was für ein gemeiner Lügner er sei. Vorher drehte ich jedoch die Lichter aus, damit sie seinen Ausruf der Überraschung nicht hören sollte, auch machte er tatsächlich beide Türen hinter sich zu – Sie erinnern sich wohl, daß es zwei waren – ehe er das Licht wieder aufdrehte. Und nun standen wir uns gegenüber.
»›Vorsicht, damit sie uns nicht hört!‹ lauteten meine ersten Worte. Schweigend starrten wir uns gegenseitig einige Augenblicke an, bis endlich in gedämpftem Ton Schmähworte von unsern Lippen flossen. Ich begreife nicht, warum er mich nicht gleich zu Boden schlug, oder vielmehr, ich weiß es, warum er es nicht tat. Ich hatte nämlich sofort meine Hände auf den Rücken gelegt und ihn dadurch aufgefordert, das gleiche zu tun. Dabei war ich nicht weniger wütend als er. Meine Krankheit hatte ich ganz vergessen, und als ich ihm davon sagte, sah er aus, als wolle er mir ins Gesicht spucken. So sprach ich nicht weiter davon, denn er hätte mir ja doch kein Wort geglaubt.«
»Endlich forderte er mich auf, mich auf den ihm gegenüberstehenden Stuhl zu setzen, und ich sagte: ›Mit Vergnügen.‹ Hieraus fuhr er fort: ›Trinken wir noch einen Schluck zusammen, denn nur einer von uns soll dieses Zimmer lebendig verlassen,‹ worauf ich meine vorigen Worte wiederholte. Er war bereits angetrunken, wenn auch nicht betrunken, und in meinem eigenen Kopfe brauste es – ich war zu allem bereit. Nun schloß er eine Schublade auf und nahm zwei alte Pistolen aus einem Kasten. Ich selbst war es, der sie später, ehe ich mich in sinnloser Hast zu all dem hinreißen ließ, was die Polizei auf den ersten Blick durchschaut hat, in den Kasten und die Schublade zurücklegte und die Schlüssel wieder in seine Tasche steckte. – O, bleiben Sie sitzen, Langholm! Ich zäume das Pferd am Schwanz auf. So verdammungswürdig aber, wie Sie jetzt denken, war ich doch nicht. Mag man mich hängen oder nicht, jedenfalls aber trug er ebensoviel Schuld an dem, was nun geschah, als ich.
»Den Rücken mir zugekehrt, stellte er sich vor mich hin und fuchtelte wohl mindestens fünf Minuten lang mit den beiden Revolvern herum. Dann hörte ich, wie er sein Taschentuch in zwei Hälften zerriß, und ich fragte mich verwundert, was er denn um des Himmels willen jetzt vorhabe. Plötzlich drehte er sich um, während er, die Hände noch immer auf den Rücken haltend, sich fortgesetzt mit den Revolvern zu schaffen machte. Hierauf hielt er sie mir, in jeder Hand einen am Lauf haltend, hin und forderte mich auf, einen davon zu wählen. Einer nur sei geladen, er wisse aber selbst nicht, welcher es sei. Überdies hatte er die Kammern der Pistolen derart mit den beiden Hälften seines Taschentuches umwickelt, daß keiner von uns sehen konnte, wann der andre den Hahn spannte.
»Dann warf er das Los um den ersten Schuß und ich gewann. Nun setzte er sich wieder in seinen Stuhl, trank sein Glas aus und hieß mich von dem Platz aus, wo ich saß, feuern. Gern hätte ich mich jetzt noch aus der Sache herausgewickelt. Einerseits, weil ich in den letzten zehn Minuten mehr Gutes an Minchin zu entdecken geglaubt hatte, als in den langen Monaten unsrer Bekanntschaft – er mochte ja wohl ein roher Patron sein, jedenfalls aber war er ein ehrlicher Gegner – andrerseits konnte ich in diesem Augenblick kaum daran glauben, daß es ihm Ernst sei, ja, daß sein Zorn überhaupt echt sei. Ich selbst aber mußte damals wie von einem Traum befangen gewesen sein, sonst hätte er mich nicht in dieser Weise nach seinem Willen zu lenken vermocht. Er brach jetzt wieder in Schmähungen gegen mich und seine Frau aus und schwur, daß er sie ebenfalls erschießen wolle, falls ich die Sache nicht sofort zum Austrag brächte. Sie machen sich keinen Begriff davon, was für abscheuliche Dinge er mir sagte – aber er tat es wohl absichtlich, um mich zu reizen. Wie dem nun auch sein mochte, ich drückte endlich ab, allein nur ein Knacken ließ sich vernehmen, das er jedoch blitzschnell beantwortete. Dies zeigte mir deutlicher als alles andre, wie ernsthaft er es meinte. An ein Ausweichen war nicht zu denken. So biß ich denn die Zähne aufeinander und feuerte wieder.«
»Also nur Säbelgerassel,« flüsterte Langholm, während der entstandenen Pause.
Severinos auf dem Kissen liegender Kopf bewegte sich lebhaft verneinend von einer Seite zur andern.
»Nein, Langholm, diesmal nicht. Ein Knall folgte, der die ganze Nachbarschaft hätte aufschrecken müssen. Allein ich vergaß, Ihnen zu sagen, daß er Fenster und Läden geschlossen, ja selbst die dicken Vorhänge zugezogen hatte, so daß der Schall nach den andern Häusern hin ebenso abgedämpft war, als nach seinem eigenen. Nachdem der Rauch sich verteilt hatte, lag Minchin in seinen Stuhl zurückgelehnt, als ob er schliefe – –
»Nun kamen für mich die schlimmsten Augenblicke, diejenigen, während derer ich auf sie wartete. Ich öffnete beide Türen – sie aber kam nicht. Dann machte ich die Tür vorsichtig wieder zu – und verlor nun gänzlich den Kopf. Sie wissen, was ich tat. Ich selbst erinnere mich nur dunkel an die listigen Anschläge eines Verrückten, zu denen ich meine Zuflucht nahm, an das zerbrochene Fenster und die im Kamin versteckten Sachen. Auf demselben Weg, den ich gekommen war, kehrte ich dann zurück, auf jenem Wege, der Ihnen bei Ihrer Anwesenheit dort als möglich erschienen war. Beim Hineingehen weckte ich meine Wirtin auf. Soviel ich weiß, gestand ich ihr sofort alles ein, und dies waren auf Wochen hinaus meine letzten, mit Bewußtsein gesprochenen Worte. Tag und Nacht pflegte sie mich, damit ich in meinen Fieberphantasieen keinem andern das Geheimnis verriete.«
*
So endete die Geschichte und damit auch, wie zu erwarten war, die unnatürliche Kraft, die den Erzähler bis zuletzt aufrecht erhalten hatte. Nun war jedes Quentchen davon verbraucht, und erschöpft und in sich zusammengesunken lag er da. Langholm bekam plötzlich Angst, denn Severino vermochte den Champagner, den der Freund ihm in den Mund goß, nicht mehr zu schlucken.
Von höchster Besorgnis erfaßt, holte Langholm das Licht herbei, und seine Besorgnis steigerte sich noch beim Anblick dessen, was das Licht enthüllte.
Severino versuchte, sich in die Höhe zu richten; fahle, tödliche Blässe lag auf seinem Gesicht.
»Aufrichten – aufrichten!«
Mit seinen beiden Armen hob Langholm ihn in die Höhe.
»Wieder – ein Blutsturz!« stieß Severino atemlos flüsternd hervor.
Zugleich tropfte das Blut ihm aus dem Munde.
Langholm schob ihm Kissen hinter den Rücken, dann stürzte er hinaus und rief laut nach Frau Brunton, nach ihrem Mann, kurz, er alarmierte das ganze Haus. Beide waren zu Hause, und ohne ein Wort zu sagen, eilte die gute Frau die Treppe hinauf.
»Ich will selbst den Arzt holen,« sagte Langholm. »Bei mir geht es am raschesten.« Ohne Hut, mit unangezündeter Laterne, jagte er auf seinem Rade davon.
Der Doktor aber kam zu spät.