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Zwanzigstes Kapitel. Eile – –

Wohl gibt es Männer von hervorragender Tatkraft, die sich zugleich auch auf literarischem Gebiete mit Ruhm und Ehre bedecken, wovon einige der besten, während der letzten Jahre erschienenen Bücher beredtes Zeugnis ablegen. Anderseits aber ist ein Mann der Feder, der sich zugleich durch frische Tatkraft auszeichnet, eine recht seltene Erscheinung. Langholm nun war vorwiegend ein Mann der Feder. Unter seinen Rosen und Büchern da zeigte er sich in seinem besten Lichte, in seinem schlechtesten bei unvorhergesehenen Konflikten mit der rauheren Wirklichkeit des Lebens. Ließ man ihm jedoch genügend Zeit zur Überlegung, so war er auch nicht der Mann, der feige davonläuft, weil seine Ausrüstung zum Kampfe ebenso gering ist, als sein Selbstvertrauen. Vielleicht mußte ein solcher Mut erst recht Mut genannt werden, weil er bei ihm immer erst eine gewisse Feigheitsschranke – wenigstens in moralischer Hinsicht – zu durchbrechen hatte.

Langholm konnte übrigens auch noch eine weitere Befähigung für das schwierige Unternehmen aufweisen, zu dem er sich verpflichtet hatte, und für das er sich im Grunde sowohl seiner Naturanlage als auch der ganzen Art seines Einsiedlerlebens nach so gar nicht eignete. Außer einer originellen Einbildungskraft (eine Eigenschaft, die auch ihre Schattenseiten haben kann, wie die Folge zeigen wird), hatte er nämlich auch die Fähigkeit, ein einmal begonnenes Werk mit Energie und Zähigkeit durchzuführen, eine Eigenschaft, die im allgemeinen ja ein Vorzug, gewöhnlich aber nicht das Kennzeichen eines Genies ist.

Es war Montag nachmittag drei Uhr fünfundvierzig Minuten, als er in London auf der Station King's Cross ausstieg, nachdem er in aller Frühe Abschied von William Allen Richardson und seinen übrigen Rosen genommen und Northborough mit dem Neun-Uhr-dreißig-Zug verlassen hatte. Rasch verglich er noch seine Uhr, ehe er die Station verließ und ein Cab bestieg.

»Fahren Sie so rasch als möglich nach der Provinzialbank in der Oxford Street,« rief er dem Kutscher durch das Fensterchen im Wagendache zu.

Gerade noch vor Bankschluß hielt der Wagen vor dem Gebäude.

»Ich wollte gern mein genaues Guthaben wissen, falls es Ihnen nicht zu viel Mühe macht, die Abrechnung noch vor Bureauschluß vorzunehmen.«

Gleich darauf wurde Langholm eine Nota überreicht, und als er einen Blick darauf warf, errötete er bis unter den Hut vor Vergnügen und Überraschung. Mit strahlendem Gesicht langte er wieder bei seinem Cab an. »Hotel Cadogan in der Sloane Street!« rief er, »nun hat's keine Eile mehr, Sie können fahren, wie Sie wollen.«

Langholms Besorgnisse waren verflogen. Sein Guthaben betrug reichlich hundert Pfund mehr, als er erwartet hatte, und aus vollem Herzen sang er ein heimliches Loblied auf das Landleben. Unpraktisch und ungeschäftsmäßig, wie er in allem, außer in seinen Manuskripten war, hätte er bei einem Leben in der Stadt, wo seine Ausgaben stets gleichen Schritt mit seinen bescheidenen Einnahmen hielten, niemals eine solch erfreuliche Entdeckung machen können.

»So kann es auch jetzt wieder werden,« sagte er sorglos vor sich hin, nachdem er sich anstatt für eine möblierte Wohnung für das beste auf seinem Untersuchungsgebiet gelegene Hotel entschieden hatte. »Gott sei Dank, ich habe genug, um diesem Spitzbuben mindestens bis zum Schluß des Jahres nachspüren zu können! Wenn ich bis dahin auf keine Fährte gekommen bin ...«

Er überließ sich schönen Erinnerungen und baute noch schönere Luftschlösser, deren Schauplatz zweihundert Meter nördlicher lag. Kaum aber wurde er sich solch nutzloser Träumereien bewußt, so schüttelte er sie auch sofort wieder energisch ab. Rasch warf er einen prüfenden Blick in den kleinen Spiegel der Droschke. Es war ein ehrliches Gesicht, das ihm da entgegenschaute, und auf ehrenwerte, rechtschaffene Weise wollte er auch seine Rolle durchführen. Nun lehnte er sich über das Spritzleder und betrachtete das ihm noch immer so vertraute Londoner Leben und Treiben. Es war ihm, als sei er kaum länger als einen Tag fortgewesen, und doch hatte gerade die tatsächliche Abwesenheit von mehreren Wochen zur Folge, daß die Umgebung jetzt eine solche Wirkung auf ihn ausübte. Das Holzpflaster strömte in der glühenden Augusthitze einen scharfen, wenn auch nicht gerade unangenehmen Geruch aus, den die Nase des einstigen Londoners sogar mit Genuß einsog. Je weiter er auf seiner in südwestlicher Richtung gehenden Fahrt kam, desto verödeter waren die wohlbekannten Hauptstraßen. In St. James Street sah es aus, als sei sie für den Verkehr gesperrt, und die Klubhäuser in Pall Mall waren fast alle geschlossen. Auf den Trottoirs schleuderten Leute dahin, wie man sie nur im August und September dort sieht: ganze Familien vom Lande, weniger begüterte Amerikaner mit dem Reiseführer in der Hand, auch der für London charakteristische ausdauernde Straßenbummler, und hin und wieder ein blasser Schauspieler mit weichem Filzhut und glattrasiertem Gesicht. Langholm aber hätte sich am liebsten jedem einzelnen zugesellt, so groß war die Anziehungskraft der Stadt für diesen Mann, der doch so viel besser unter seine nordischen Rosen paßte. London ist aber eben eine gar despotische Herrin über solche, die einmal ihren Zauber gefühlt haben. Du kannst sie wohl jahrelang vergessen, im ersten Luftzug aber, der dir den Geruch des Holzpflasters in die Nase bläst, auf dem ersten flatternden Zeitungsblatt, das dir angeboten wird, lauert ihr Zauber schon wieder auf dich, und sitzt du erst in einem Cab, so begreifst du nicht, wie du das Dasein so lange irgendwo anders hast ertragen können.

Das Hotel war zu dieser Zeit sehr wenig besucht, so daß Langholm dort nicht nur die besten Zimmer zur Auswahl vorfand, sondern auch jene schmeichelhafte Aufmerksamkeit, wie sie einem Ankömmling zu einer Zeit zu teil wird, wo nur wenige Gäste zu erwarten sind. Langholm erfrischte sich mit einem Bad und einer Tasse Tee und machte sich dann auf den Weg, um den Schauplatz des schon halb vergessenen Mordes in Augenschein zu nehmen. In seiner sanguinischen Weise wiegte er sich bereits in die allerdings noch unbestimmte Hoffnung ein, sein phantasiereiches Beobachtungsvermögen werde ihn gewiß auf irgend eine Spur führen, die der fachmännischen Klugheit der Polizei entgangen war.

Ohne Schwierigkeit fand er die Straße, und auch das Haus entdeckte er sofort, obwohl er die Nummer vergessen hatte. Die Straße bestand überhaupt nur aus ein paar Häusern, und nur eines davon war unbewohnt und zu vermieten. Es war ganz verklebt mit Plakaten verschiedener Kommissionsbureaus, und Langholm schrieb sich den Namen des zunächstwohnenden auf, dessen Bureau in der Kingstreet lag. Dort wollte er sich einen Erlaubnisschein geben lassen, um das Haus noch am selben Abend besichtigen zu können. Allein Bad und Tee hatten doch fast eine Stunde in Anspruch genommen, und so schlug es sechs Uhr, noch ehe Langholm das Bureau erreicht hatte, das denn auch schon geschlossen war.

Ruhig und mit dem Gefühl, doch einen Anfang gemacht zu haben, speiste er in seinem Hotel und verbrachte dann den Abend damit, seine in Chelsea wohnenden Freunde aufzusuchen, die mit den Einzelheiten der Ermordung Minchins und der Festnahme von dessen Witwe ohne Zweifel mehr vertraut sein mußten, als er selbst. Aber wie sich eigentlich im voraus erwarten ließ, war keiner von ihnen zu Hause.

Am andern Morgen änderte er seine Pläne etwas. Es war unbedingt notwendig, über jene Einzelheiten, die er von seinen Freunden zu erfahren gehofft hatte, wenigstens so weit unterrichtet zu sein, als sie durch die öffentliche Verhandlung bekannt geworden waren. Wohl hatte Langholm den Fall damals mit regem, immerhin aber doch jenem unpersönlichen Interesse verfolgt, wie es ein Fernstehender zu tun pflegt. Nun mußte er ihn mit ganz anderm Eifer studieren, und zu diesem Zweck begab er sich früh am Morgen in den Zeitungssaal des Britischen Museums.

Gegen Mittag hatte er sich dann genau über die näheren Umstände des verwickelten Falles orientiert und sich die Namen und Adressen der in den Zeitungen genannten Personen notiert. Einen Namen aber fand er in keinem einzigen Bericht erwähnt. Vergebens suchte ihn Langholm in den vielen dickleibigen Bänden, bis endlich sogar die langmütigen Aufwärter, die die schweren Bücher vermittels kleiner Wagen von ihren Regalen herbeirollten, anfingen, den anspruchsvollen und dabei so übermütig dreinschauenden Leser, der alle fünf bis zehn Minuten einen neuen Band verlangte, mit scheelen Blicken zu mustern. Bei jedem Mißerfolg wurde das Gesicht des Lesers strahlender. Warum war der Name, den er suchte, niemals vor Gericht erwähnt worden? Wo blieb die Aussage des Mannes, der all das Unheil zwischen dem Ehepaar Minchin angestiftet hatte? Langholm beabsichtigte, zuerst das eine, dann das andre zu erfahren, und schon war er auf dem Sprunge, einen voreiligen Schluß zu ziehen. Aber mit einer Vorsicht, die seiner impulsiven Natur alle Ehre machte, beschloß der Amateurdetektiv, vorher noch etwas Umschau zu halten, ehe er selbst in Gedanken diesen Sprung tat.

Früh am Nachmittag fand er sich wieder in Chelsea und in dem Kommissionsbureau ein, wo er dem Agenten allerlei Wünsche vorschwindelte.

»Also nur neunzig Pfund im Jahre?« wiederholte dieser Herr, während er seine Verzeichnisse nachsah und dabei über verschiedene, in dieser Preislage stehende Häuser einige nähere Angaben vorlas. Aber das Haus, auf dessen Besichtigung Langholm brannte, befand sich nicht darunter.

»Ich wünsche eine ruhige Straße,« sagte der hinterlistige Schriftsteller, und nannte diejenige, wo das betreffende Haus stand. »Gibt es dort nichts?«

»Eines hätte ich wohl,« antwortete der Agent mit Zurückhaltung, »und das kostet sogar nur siebzig.«

»Je weniger, desto bester,« rief Langholm erleichterten Herzens. »Dieses möchte ich gern sehen.«

Der Agent zögerte, sah dann schließlich Langholm offen ins Gesicht und sagte: »Es ist besser, Sie erfahren es gleich, denn wir haben schon genug Widerwärtigkeiten damit gehabt. Im vergangenen Jahr war es für neunzig Pfund vermietet, jetzt aber verlangen wir nur siebzig, weil in jenem Haus Mr. Minchin erschossen worden ist. Wünschen Sie es trotzdem zu sehen?« fragte der Kommissär mit bedenklichem Gesicht.

Langholm hatte alle Mühe, sein Ungestüm zu bemeistern, schließlich aber entkam er doch glücklich mit mehreren Erlaubnisscheinen für die Besichtigung von Wohnungen und den Schlüsseln für das Haus aller Häuser in der Tasche. Nicht einmal einen Verwalter hatte man finden können, der sich herbeigelassen hätte, dort zu wohnen, auch schien der Kommissionär fast erstaunt über Langholms Bereitwilligkeit, es allein in Augenschein zu nehmen.

Etwa eine Stunde darauf stand der Romanschreiber in der Straße und vor der Tür eines Hauses, das der Kommissionär weder genannt noch empfohlen hatte. Es war eine Tür, die eines neuen Anstrichs wohl bedurft hätte, und an einem Fenster des Erdgeschosses hing ein ins Auge fallendes Plakat: Zimmer zu vermieten. In seiner Ungeduld zog Langholm zweimal die altmodische Klingel. Wenn sein Gesicht auch schon den Tag über vergnügt ausgesehen hatte, so strahlte es jetzt vollends vor Seligkeit, denn durch wohlüberlegte Schritte war er nun zu derselben Schlußfolgerung gelangt, die er anfänglich etwas voreilig hatte ziehen wollen. Endlich kam eines jener schlampigen Dienstmädchen zum Vorschein, wie sie für derartige Logierhäuser so charakteristisch sind.

»Ist Ihre Herrin zu Hause?«

»Nein.«

»Wann erwarten Sie sie zurück?«

»Nicht vor dem Abend.«

»Haben Sie eine Ahnung um welche Zeit etwa?«

Das unordentliche Mädchen wußte es nicht, schließlich aber konnte Langholm doch aus ihr herausbringen, daß sie den Befehl hatte, das Feuer für das Abendessen der Hauswirtin zu unterhalten. Langholm überlegte. Vor neun Uhr hierher zurückzukehren, wäre zwecklos. Fünf Stunden mußte er also warten! So warf er denn vor dem Weggehen noch einmal seine Angel aus.

»Sind Sie schon lange hier im Dienst, Kleine?«

»Seit bald drei Monaten.«

»Aber Ihre Herrin wohnt doch wohl schon einige Jahre hier?«

»Ja, ich glaube.«

»Sind Sie ihr einziges Dienstmädchen?«

»Ja.«

Es half alles nichts. Fünf Stunden mußte er warten!

Wie eine Ewigkeit lagen sie vor Langholm, als er sich wieder auf den Weg machte. Allem Anschein nach hatte wenigstens das Haus seinen Mieter nicht gewechselt. Die Frau aber, die Langholm unbedingt zu sprechen wünschte, war diejenige, die ein so wichtiges Zeugnis in Old Bailey abgelegt hatte.


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