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Sechsundzwanzigstes Kapitel. Ein Kardinalpunkt

Die gründliche Niederlage dieses Schurken beeinträchtigte den Wert jener freiwillig gegebenen Aussage keineswegs. Langholm aber freute sich gerade darüber, daß sie freiwillig erfolgt war. Den Kerl hatte für seine Bosheit und Habgier die gerechte Strafe ereilt, und selbst Langholm, der Mann des Friedens, dessen sanfte Gemütsart vor jeglichem Streit zurückbebte, durfte sich zu einem unvorhergesehenen Siege Glück wünschen, über den selbst er unmöglich auch nur die leiseste Reue empfinden konnte. Überdies hatte er seinen Zweck erreicht. Ihm genügte es, zu wissen, daß Steels Leben ein Geheimnis barg, das der erbärmliche Abel genau ebenso hatte ausbeuten wollen, wie es offenbar früher schon von dem ihm überlegenen Minchin versucht worden war. Diese beiden schienen die einzigen Mitwisser jenes Geheimnisses gewesen zu sein, und einer von ihnen lebte noch, um es, falls sich eine passende Gelegenheit bieten sollte, zu enthüllen. Auf die Art des Geheimnisses kam es vorläufig nicht an. Jedenfalls war nun jener Beweggrund gefunden, ohne den die Anklage gegen John Buchanan Steel unvollständig gewesen wäre. Langholm fügte diesen Punkt seinen Notizen bei – und zitterte.

Der Haupttriumph, der seiner jetzt zweifellos zu warten schien, beunruhigte ihn doch stark. Je näher der Erfolg ihm winkte, um so weniger vermochte er darüber zu triumphieren und um so tragischer erschien er ihm. Ja, widerspruchsvoll, wie nun einmal die menschliche Natur ist, bemächtigte sich Langholms nun auch noch ganz gegen seinen Willen und zu seiner eigenen peinlichen Überraschung immer mehr ein Gefühl der Sympathie für Steel, was sein Gemüt vollends aus dem Gleichgewicht brachte.

Immer wieder mußte er den Gedanken an Rahel heraufbeschwören, um sein Herz gegen ihren Gatten zu verhärten, und doch war dieses Gebiet für ihn das Allergefährlichste. Dabei berührte es ihn höchst seltsam, sich gerade gegen derartige Versuchungen wehren zu müssen, während er am Bett eines schwächeren Bruders saß, der, ringend mit seinen letzten Lebenskräften, im gleichen Kampfe lag wie er selbst. Und doch verbrachte er die Nacht bei ihm. Die ganze Woche hindurch hatte er fast gar nicht geschlafen, und da gewährte es ihm einen gewissen Trost, sich sagen zu können, daß seine Nachtwache diesmal doch wenigstens von wirklichem Nutzen sei.

Severinos Schlaf war äußerst unruhig, so daß Langholms Gedankengang häufig unterbrochen wurde.

Trotzdem war er noch vor Morgengrauen zu dem Entschluß gekommen, Steel Gelegenheit zur Rechtfertigung zu geben. Feste Gestalt hatte dieser Entschluß indes noch nicht angenommen, da es darauf ankam, ob Steel bei der nächsten Begegnung, die unter allen Umständen stattfinden mußte, sich einer Aussprache nicht entziehen werde. Allein schon der Entschluß an und für sich gewährte ihm eine gewisse Befriedigung, überdies gab er ihm eine Richtlinie, so daß er einem einfältigen und recht überraschenden Besucher, der sich im Laufe des Vormittags bei ihm in Gestalt des obersten Polizeibeamten von Northborough einstellte, in der richtigen Weise zu begegnen wußte.

Dieser Biedermann hatte von Langholms Nachforschungen gehört und wünschte nun zu erfahren, ob und was für Erfolge dieser bis jetzt zu verzeichnen habe.

Erstaunt sah Langholm ihn an.

»Das sind meine Privatangelegenheiten,« wehrte er ihn ab.

»Auch falls Sie den Mann erwischt hätten? Ich möchte doch sehr bezweifeln, daß es dann noch Ihre Privatangelegenheiten wären,« stieß der Polizeibeamte, der von ungeheurer Körperfülle war, keuchend hervor.

»Dann käme der Fall allerdings vor das Kriminalgericht in London,« gab Langholm zu.

»Falls Sie aber den Kerl in unserm Bezirk erwischen,« warf der dicke Beamte ein, »hätten Sie sich doch wohl in erster Linie an mich zu wenden.«

Langholms Augen begegneten denen seines Besuchers. Sie waren auffallend klein und glänzend, wie es diejenigen sehr wohlgenährter Menschen häufig sind, oder wie sie im Gegensatz zu einem dicken Gesicht wenigstens erscheinen. Dabei war es Langholm, als entdecke er darin etwas von seinen eigenen Vermutungen, und so griff er instinktiv zu einer Lüge.

»Es ist wenig Aussicht, ihn in dieser Gegend zu finden,« sagte er. »überall sonstwo würde ich es eher für möglich halten als gerade hier.«

Mit einem verschmitzten Lächeln empfahl sich der Polizeibeamte, so daß es Langholm ganz unbehaglich zu Mute wurde und sich seine plötzlich erwachte Teilnahme für Steel mehr und mehr zu einer förmlichen Besorgnis für dessen Person steigerte. Auch Severino war ihm ein Dorn im Fleisch. Der junge Mann wußte, daß ein Brief an Rahel abgegangen war, und verzehrte sich nun in Ungeduld und Verzweiflung, weil der Vormittag sie nicht an sein Krankenlager gebracht hatte. Es schien, als komme sie überhaupt nicht. Entweder wollte sie nicht kommen, oder aber hatte ihr Gatte ein Veto eingelegt. So mußte der arme Bursche also sterben, ohne sie noch einmal gesehen zu haben! Überdies war er so unvernünftig, wie kranke Menschen meistens zu sein pflegen. Nichts vermochte ihn zu trösten, als Langholms Versprechen, selbst nach Normanthorpe zu gehen und persönlich mit der hartherzigen Dame oder deren tyrannischem Gebieter zu verhandeln. Dieser Vorschlag paßte vortrefflich in Langholms Kram, da vielleicht dadurch der Weg zu einer Rechtfertigung, die er Rahels Gatten ermöglichen wollte, geebnet werden konnte.

Dieser Entschluß wurde später weder durch den Anblick eines in der Nähe des Steelschen Schloßportals stehenden Schutzmannes ins Wanken gebracht, noch durch den eines zweiten Eindringlings in Zivilkleidung, in dem Langholm ebenfalls einen Polizisten witterte, noch auch durch das Zusammentreffen mit Woodgates, die auf dem Rückwege von Normanthorpe House begriffen waren.

Mit unverdienter Herzlichkeit begrüßte ihn das gutmütige Ehepaar.

»Ach, was für ein Glück, daß Sie kommen!« rief Morna, in deren treuherzigen Augen eine verräterische Feuchtigkeit schimmerte. »Gehen Sie, bitte, rasch hinauf und bringen Sie Mrs. Steel bei, daß man wegen einer Sache, die schon Gegenstand eines Strafprozesses gewesen ist und zu einer Freisprechung geführt hat, nicht ein zweites Mal festgenommen werden kann.«

»Natürlich ist das ausgeschlossen,« sagte Langholm. »Wer hat ihr denn so etwas in den Kopf gesetzt, Mrs. Woodgate?«

»Die Wohnung ist ja von Polizisten umlagert.«

»Seit wann?« fragte Langholm rasch.

»Erst seit heute morgen.«

Langholm schwieg. So war also der von dem Amateurdetektiv überlistete Erpresser Abel stehenden Fußes aufs Gericht gelaufen – eine Kühnheit, die ihm der Amateurdetektiv nicht zugetraut hätte.

»Ich glaube nicht, daß es Mrs. Steel angeht,« sagte er endlich. »Ich glaube sogar, zu wissen, was es bedeutet, und werde mein Möglichstes tun, um Mrs. Steel zu beruhigen.« Sein eigenes Gesicht aber sah nichts weniger als beruhigend aus, wie Hugh Woodgate ihm in seiner gewohnten Offenheit sofort versicherte.

»Ich habe allerlei ausgekundschaftet – ganz erfolglos war meine Reise zwar nicht, aber es ist alles noch ziemlich wirr in meinem Kopf,« erklärte der Schriftsteller. »Beiläufig gesagt, wie faßt eigentlich Steel den Fortgang der Angelegenheit auf?«

»Als einen Scherz!« rief Morna voller Empörung, und ihr Gatte stimmte ihr in Wort und Ton bei. Langholm aber war sprachlos vor Erstaunen.

»Ich muß ihn unbedingt sprechen,« rief er entschlossen. »Wissen Sie vielleicht zufällig, Mrs. Woodgate, ob Mrs. Steel heute früh einen Brief von mir erhalten hat?«

»Ja, gewiß,« antwortete Morna sofort, und ihr Ausdruck bewies deutlich, daß ihr der Inhalt jenes Briefes nicht fremd sei.

»Und will sie den armen Burschen nicht besuchen?« fragte er.

»Doch, doch, gleich nachher,« antwortete Morna, »und ich werde sie begleiten. Um drei Uhr will sie mich mit dem Phaethon abholen.«

»Wissen Sie Näheres über ihn, Mrs. Woodgate?«

»Ja, alles.«

»Dann kann ich ihn ja nur einer Teilnahme empfehlen, die er bereits gewonnen hat. Solange Sie bei ihm sind, werde ich dann zu Mr. Steel gehen.«

Den ersten Satz hatte Langholm fast mechanisch gesprochen, denn sein ganzes Sinnen und Denken war jetzt von der ihm bevorstehenden Unterredung erfüllt. Sich hastig verabschiedend, lüftete er den Hut, aber anstatt sein Rad zu besteigen, schob er es langsam vor sich hin. Der Phaethon stand schon vor der Tür, als Langholm anlangte, und Rahel eilte die Stufen herunter, um ihn zu begrüßen. Groß und schlank, in einem hellen Staubmantel und einem reizenden Hute kam sie auf ihn zu. Unter dem Hut aber schaute ein Gesicht hervor, das um Jahre älter aussah als dasjenige, das er in seinem Herzen trug, das aber mit seinem kummervollen Ausdruck nicht weniger schön war.

»Ich wage kaum, Sie zu fragen,« stammelte sie, während ihre Hand in der seinigen erbebte. »Haben Sie irgend etwas entdeckt?«

»Ja, wenn auch nur wenig,« antwortete er, ihre Hand loslassend.

»Wenig ist besser als nichts. O, kommen Sie ins Haus herein und sagen Sie mir rasch alles.«

»Bravo!« rief da plötzlich eine belustigte Stimme von der Haustür her.

Es war Steel, wie immer heiter aussehend und tadellos gekleidet, mit einem rosigen Schimmer auf dem beweglichen Gesicht, einer rosa Blume im Knopfloch des enganliegenden Rockes, einem leichten Panamastrohhut auf dem weißen Haar und Lederschuhe vom selben schneeigen Weiß an den wohlgeformten Füßen. Langholm begrüßte nun auch ihn, wobei er hoffte, daß das Zittern, das zarte Finger soeben auf seine Rechte übertragen hatten, von der Hand nicht bemerkt werden möchte, die er jetzt zu erfassen gezwungen war.

»Ich bin gekommen, um mit Mr. Steel zu sprechen,« sagte Langholm etwas verlegen.

»Famos!« murmelte dieser mit seinem selbstgefälligen Lächeln.

»Aber darf ich denn nicht auch dabei sein?« fragte Rahel.

»Meine liebe Mrs. Steel, es ist zu wenig, um es Ihnen jetzt schon mitzuteilen. Wie gerne möchte ich, daß es mehr wäre! Doch sind einige Punkte zu erörtern, die ich, wenn Sie gestatten, zuerst Ihrem Gatten allein anvertrauen möchte.«

»O natürlich!«

Keine Kränkung klang aus ihrem Tone, nur Enttäuschung und – Verzweiflung.

»Sie verstehen es ja recht hübsch, die Frauen zu nehmen,« bemerkte Steel, während die beiden dem auf der schmalen Fahrstraße allmählich verschwindenden Phaethon nachschauten.

»Sie sind der erste, der mir das sagt,« entgegnete der Romanschreiber mit einem ziemlich schweren Seufzer.

»Nun also, rauchen wir eine Zigarre miteinander, während Sie mir Ihre Neuigkeiten erzählen. Ich muß gestehen, daß ich recht gespannt bin. Was halten Sie von einem kleinen Bummel, Langholm? Ich meine, es wäre besser, als im Zimmer zu sitzen. Die dicksten Mauern haben Ohren, besonders wenn sämtlichen Dienstboten im Hause gekündigt ist. Wundert Sie das? Jawohl, der ganzen Gesellschaft. Es ist wahrhaft drollig, alle möchten jetzt zu gern, daß man ihnen verzeiht und sie behält, und auch die Nachbarn benehmen sich kaum besser. Ich sage Ihnen, die Entschuldigungen, zu denen sie sich herbeigelassen haben, sind teilweise geradezu großartig. Ich glaube, die Leute hatten angenommen, wir würden entweder aus dem Lande fliehen, oder ihnen die blutige Befriedigung eines doppelten Selbstmordes gewähren. Daß weder das eine noch das andre geschehen soll, darüber wenigstens sind wir beide einig. Meine Frau hat sich übrigens in der ganzen Sache tadellos benommen, obwohl sie davon nichts hören will. Ihr Wunsch ist es, daß wir noch fester hier aushalten sollen, als wenn nichts geschehen wäre, so daß wir jetzt nicht einmal die beabsichtigte Reise in die Schweiz ausführen werden. Wir suchen also eine neue Dienstbotenschar, und übernächste Woche werden wir zum Diner nach Ireby fahren. Wir erhielten zwar die Einladung noch ehe hier das Unwetter losbrach, aber ich glaube, man darf den Invernesses schon zutrauen, daß sie uns keine unliebsame Überraschung bereiten. Trotzdem bin ich recht neugierig, wie sie sich benehmen werden. So oder so wird es ein Vorbild für die ganze Umgegend abgeben.«

Während dieses Monologs waren die beiden Herren mit ihren Zigarren feldeinwärts gewandert, und je weiter sie kamen, desto wütender blies Langholm den Rauch in die Luft. Zuerst hatte er die Kaltblütigkeit des andern nur angestaunt, nun aber war er durch die Gefühllosigkeit, Geschwätzigkeit und den Cynismus seines Gefährten bis ins Innerste verletzt. Es gab Augenblicke, wo Langholm all dies kaum länger ertragen konnte. Schien es doch, als ob Steel geneigt sei, jenes Thema nach allen Richtungen hin zu erörtern, ohne auf die von Langholm gemachten Nachforschungen, von denen möglicherweise doch sein Leben abhing, eingehen zu wollen. Mit einem Ausdruck des Entsetzens streifte Langholms Blick seinen Begleiter. Die breite Krempe seines Panamahutes warf einen bis zum Nacken reichenden Schatten über sein Gesicht. Langholms erhitzte Phantasie aber glaubte darin bereits den Schatten der schwarzen Mütze und des Strickes zu sehen, denselben Schatten, der während des vergangenen Jahres auf Steels Frau gelegen hatte, um glücklicherweise für immer von ihr zu verschwinden. Nun ließ er sich auf den Gatten nieder, und dieser war in Langholms Hand gegeben. War es denn auch wirklich so? Hatte er Gewißheit? Im Nu waren seine Gedanken abgelenkt. Er hörte nicht mehr, was Steel sagte, und plötzlich unterbrach er ihn ohne weiteres.

»Ich dachte, Sie seien hier herausgekommen, um mich anzuhören?«

»Gewiß, mein lieber Langholm!« rief Steel. »Warum ließen Sie mich auch immer weiter drauf los schwatzen? Also warten Sie mal, daß ich mich besinne. Ja, richtig, nun weiß ich's wieder. Natürlich haben Sie mir im Grunde nichts von Belang mitzuteilen, mein lieber Langholm. Als ich Sie Ihre Forschungsreise antreten sah, hielt ich Sie für einen Don Quichotte. Wenn Sie aber behaupten wollen, binnen einer Woche irgend etwas Wichtiges entdeckt zu haben, so muß ich ja fast glauben, Sie wollen mich mit einer Münchhausiade traktieren.«

»Und doch habe ich etwas entdeckt,« sagte Langholm bedeutsam.

»Etwas, das des Entdeckens wert ist?«

»So glaube ich.«

»Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie einen wichtigen Anhaltspunkt gefunden haben?«

»Ich glaube sogar, daß ich den Schuldigen überweisen kann,« sagte Langholm so ruhig, als er es vermochte. Trotzdem war er der Erregtere von den beiden.

Steel blieb nur einfach stehen und starrte den andern ungläubig an, bis schließlich der Ausdruck des Staunens in ein Lächeln überging.

»Aber, mein lieber Langholm!« murmelte er mit einer Mischung von Entsetzen und Vorwurf im Ton, als habe Langholm eben behauptet, die vierte Dimension entdeckt zu haben.

Den »Entdecker« aber kostete es keine geringe Anstrengung, seinem Gegner nicht sofort ins Gesicht zu rufen, daß er ihn sogar auf der Stelle verhaften lassen könnte. Die unausgesprochenen Worte wurden jedoch hinuntergeschluckt, und an ihre Stelle trat endlich eine einfache Wiederholung des vorhergehenden Ausspruches.

»Ich selbst könnte auf seine Schuld schwören,« fügte Langholm hinzu. »Es handelt sich jetzt nur noch darum, ob die Beweise zu einer Verurteilung stark genug sind.«

»Haben Sie sich schon mit der Polizei ins Benehmen gesetzt?«

»Noch nicht.«

»Es muß den Kerls hier aber doch irgend eine absonderliche Idee im Kopfe herumspuken.«

»Von mir haben sie nichts erfahren.«

Noch länger daran zu zweifeln, daß Langholms Auftreten einen ernsten Hintergrund habe, war ausgeschlossen. Wohl gab er sich alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, was jedoch den Eindruck, daß er in der Tat etwas entdeckt habe, an dessen Wichtigkeit er selbst aufrichtig glaubte, nur verstärkte. Auch machte sich plötzlich eine Veränderung in Ton und Haltung seines Begleiters bemerklich.

»Mein lieber Langholm,« sagte er, »verzeihen Sie, daß ich die Sache zu leicht nahm. Wenn Sie wirklich irgend etwas entdeckt haben, so ist es ein Wunder, aber hin und wieder geschehen ja auch noch Wunder. Sehen Sie, hier ist der Teich und hinter jenem Rhododendrongebüsch liegen die Boote. Wie wäre es, wenn Sie mir das übrige im Kahne anvertrauten? In der Mitte des Sees brauchen wir dann nicht ängstlich hinter uns zu schauen.«

Wie der Blitz durchzuckte Langholm der Gedanke an das abscheulichste aller Hilfsmittel, allein schon im nächsten Augenblick kam ihm nicht nur seine Schwimmkunst zum Bewußtsein, sondern auch die ungerechtfertigte Sympathie für diesen Mann, die ihm ein gemeiner Schurke ins Herz gepflanzt hatte. Dort war das Samenkörnchen aufgeschossen wie der Kürbis des Propheten Jonas. Nur Steels Geschwätzigkeit hatte seinem Wachstum Eintrag getan, und Steel war in diesem Augenblick alles, nur nicht geschwätzig. Langholm machte ihm jetzt ein Zeichen, voranzugehen, und wenige Minuten später scheuchten sie die Wasserhühner in die Mitte des Sees, während Steel von der hinteren Bank aus ruderte und Langholm ihm gegenüber auf dem roten Kissen saß.

»Ich hielt es für das Richtige,« begann der letztere, »Ihnen zu sagen, welcher Art die Beweise sind, die ich gegen jenen Mann vorzubringen habe, ehe ich weitere Schritte tue. Ich – ich – ich hielt es für anständiger.«

Kaum merklich zog Steel die Augenbrauen in die Höhe.

»Wieso anständiger? Vielleicht für Sie, das mag sein, denn zwei Köpfe wissen mehr als einer, und – natürlich lasse ich mich gerne überzeugen.«

Langholm hatte sein Notizbuch herausgezogen und suchte mit nervöser Hast nach den Blättern, die er beim Morgengrauen im Eisenbahncoupé beschrieben hatte.

»Sogar aufgeschrieben haben Sie alles?« sagte Steel.

»Ja,« antwortete Langholm, ohne aufzusehen. »Ich habe mir einige Notizen über eine mögliche, wenn nicht geradezu vernichtende Anklage gegen – gegen den Mann, den ich im Auge habe, gemacht.«

»Und worin mag der erste Punkt bestehen?« fragte Steel, allmählich wieder in jenen Ton verfallend, der Langholm, ehe sie ins Schiff gestiegen waren, so sehr verletzt hatte, den er aber in diesem Augenblick nicht beachtete.

»Der erste Punkt,« sagte Langholm langsam, »besteht darin, daß er sich während der Nacht des Mordes in Chelsea oder wenigstens eine Meile im Umkreis von dem Ort der Tat befunden hat.«

»Das trifft für noch viele andre Leute auch zu,« bemerkte Steel lächelnd, indem er die Ruder mit seinen geschmeidigen Handgelenken hob und senkte, als rudere er wirklich.

»Allein er verließ sein – – er war ausgegangen zu jener Zeit,« fuhr Langholm fort, der seine etwas abgeänderten Aufzeichnungen mit all jener schwerwiegenden Bedeutung, die sie für ihn selbst hatten, vortrug.

»Deshalb können Sie ihn aber doch noch lange nicht an den Galgen bringen.«

»Er wird den Beweis zu liefern haben, wo er sich während jener Zeit aufgehalten hat.«

»Ich dächte doch, daß Sie selbst vorher noch einige Beweise zu erbringen hätten.«

Langholm war so ganz in seine Aufzeichnungen vertieft, daß er weder die Pause, die Steel seiner Bemerkung vorangehen ließ, noch den veränderten Klang in dessen Stimme wahrnahm. Auch sah er nichts von dem rasch wechselnden Ausdruck auf dem Gesicht seines Gegners, der das seinige scharf beobachtete. Das Wichtigste von allem entging ihm dadurch.

»Der nächste Punkt ist, daß er Minchin unzweifelhaft in Australien gekannt hat –«

»Aha!«

»Ferner, daß er ein reicher Mann war und noch ist, während Minchin damals dicht vor dem Ruin stand, und daß Minchin erst sechsunddreißig Stunden vor seinem Tode die Anwesenheit seines alten Freundes in England erfuhr, dem er dann schrieb und ihn um Geld anging.«

»Können Sie denn dies alles beweisen?«

Steel hatte jetzt auch das scheinbare Rudern vollständig aufgegeben. Aus seinem Tone klang unverhohlene Bewunderung, während seine dunklen Augen bis ins Innerste von Langholms Hirn dringen zu wollen schienen.

»Ich kann es beweisen,« lautete die Antwort.

»Nun, ich finde in der Tat, daß Sie Wunder vollbracht haben. Immerhin aber wird Ihnen doch noch manches zu tun übrig bleiben, ehe man Sie vor Gericht anhört. Und wie steht es mit einem Beweggrund zu der Tat?«

»Ich war eben im Begriff, davon zu sprechen. Es ist der letzte Punkt, mit dem ich Sie vorläufig belästigen werde.«

Langholm warf noch einen raschen Blick auf seine Notizen, dann klappte er das Buch zu und steckte es ein. »Der Beweggrund,« fuhr er dann fort, indem er Steel endlich mit auffallend kühnem Blick in die Augen schaute, »der Beweggrund ist: Selbstverteidigung. Darüber kann kein Zweifel sein. Ebensowenig kann auch nur der leiseste Zweifel darüber herrschen, daß Minchin die Absicht gehabt hat, bei jenem Mann einen Erpressungsversuch zu machen, das heißt, das erforderliche Geld von ihm zu verlangen, um damit seinen Verpflichtungen in der City von London nachkommen zu können.«

»Einen Erpressungsversuch zu machen?«

Wieder veränderte sich Steels Stimme und Ausdruck, was Langholm diesmal nicht entging.

»Ebensowenig kann bezweifelt werden,« fuhr dieser fort, »daß Minchin im Besitz eines Geheimnisses war, das den Mann, den ich im Auge habe, betraf, und dieses Geheimnis für seine Zwecke ausnützen wollte.«

Unbeweglich, die Augen auf den Boden des Kahns geheftet, saß Steel da. Ein Forschen in dem vorgeneigten Gesicht war vollständig unmöglich. Aber auch als Steel es endlich in die Höhe richtete, und Langholm von neuem in die Augen schaute, war die diesem Manne eigene Verschlossenheit und Unergründlichkeit nur noch ausgeprägter als gewöhnlich.

»Das ist also Ihre Anklage?« sagte er, und selbst aus seinem Tone konnte man nicht schließen, ob ihm Bewunderung oder Verachtung zu Grunde lag.

»Mir wären dies, weiß Gott, genug Belastungsgründe,« bemerkte Langholm, »wenn ich an seiner Stelle wäre.«

»Und ich würde vorher noch nach weiteren suchen, wenn ich an Ihrer Stelle wäre,« lautete die Entgegnung.

»Und was dann?«

»O, dann würde ich meine Pflicht tun, wie es einem Ehrenmann zukommt, und alle sich darbietenden Vorteile ausnützen, so gut ich könnte.«

Dieser Spott war unerträglich. Langholms Gesicht wurde rot wie ein Backstein.

»Das will ich auch!« stieß er durch seinen Bart hervor. »Ich habe Sie um Ihren Rat gefragt, ein zweites Mal aber kann ich mir diese Mühe sparen. Der Augenblick wird kommen, wo ich Sie beim Wort nehme. Wollen Sie jetzt vielleicht so freundlich sein, mich ans Ufer zu setzen?«

Einige Regentropfen fielen, als sie den Landungsplatz erreichten, und als sie vor das Haus geeilt kamen, fanden sie, daß Langholms Rad von dem Platz am Haupteingang, wo er es zurückgelassen hatte, weggenommen worden war.

»Es braucht sich niemand zu bemühen,« sagte er ziemlich unfreundlich, denn noch wirkte die Verletzung durch des andern höhnisches Wesen in ihm nach, »ich werde es schon allein finden.«

Die nachtschwarzen Augen, in denen ein kaum merkliches Lächeln funkelte, auf Langholm geheftet, stand Steel auf der Freitreppe.

»Gut denn,« sagte er, »Sie kennen ja wohl die Seitentür, die beim Billardzimmer ins Haus führt? Wahrscheinlich hat man das Rad in das erste Zimmer links gestellt, da dort auch die unsrigen aufbewahrt werden. Wir haben nämlich jetzt endlich auch angefangen, Rad zu fahren. Auf Wiedersehen also, Langholm, und vergessen Sie meinen Rat nicht!«

Damit drehte sich der Hausherr auf dem Absatz um, verschwand durch den Haupteingang und ließ Langholm höchst aufgebracht draußen im Regen stehen.

Zorn aber war die in einer solchen Stunde am schlechtesten angebrachte Gemütsbewegung, denn Zorn wäre in seinem Fall ebenso nutzlos gewesen als bei einem Richter dem Angeklagten und bei einem Henker dem armen Sünder gegenüber. Langholm wünschte nur, er könnte wenigstens einen Augenblick lang die traurige Angelegenheit ebenso einfach und unpersönlich auffassen wie jene. Aber er wußte wohl, daß er das nicht konnte, sondern daß bei jedem ihm bevorstehenden Kampfe seine eigene Seele den Schauplatz abgeben würde.

Inzwischen aber lag ihm vor allem daran, sein Rad zu finden, und diesem ihm so lieb gewordenen und zugleich verwünschten Ort so rasch als möglich den Rücken zu kehren. Denn lieb war er ihm ja in der Tat geworden während dieses nur allzu denkwürdigen Sommers. Nun aber brütete der Fluch Kains über seinen kalten weißen Mauern und tiefliegenden Fenstern, die Langholm wie die eingesunkenen Augen in einem Totengesicht erschienen.

Bald hatte er das ihm bezeichnete Zimmer gefunden, das er übrigens schon längst kannte. Dort standen auch wirklich die beiden von Steel neu angeschafften Räder. Allein ihre blitzende Vernickelung und ihr nagelneuer Emailglanz konnten sein schweres, vielbenütztes Reiserad nicht in den Schatten stellen, da es sich überhaupt nicht in diesem Zimmer befand. Schon wollte Langholm wieder hinausgehen, als sein Blick auf den verglasten Waffenschrank fiel. Richtig, dies war ja das Zimmer, wo die Gewehre und Jagdgeräte aufbewahrt wurden. Häufig hatte Langholm sie dort gesehen; da er aber selbst nicht Jäger war, so hatten sie ihn nicht weiter interessiert. Nun warf er aber doch einen Blick durch das Glas – fuhr jedoch plötzlich entsetzt zurück und öffnete dann mit zitternder Hand eine der Schiebetüren.

Dort, ganz vorn an einem Haken hing ein Revolver alten Stils, der demjenigen im Londoner Kriminalmuseum so ähnlich sah wie ein Ei dem andern. Um vollkommen sicher zu gehen, nahm Langholm ihn herunter und sah nun auch, daß der auf den Lauf eingravierte Name des Büchsenmachers derselbe war, den er im Kriminalgebäude aufnotiert hatte. Nun war ja auch der letzte Punkt gefunden – jener von dem Beamten, der Langholm herumgeführt hatte, geforderte Hauptpunkt.

Schon wollte der Entdecker sich wie ein Dieb davonschleichen – denn mehr und mehr kam er sich selbst wie der Verbrecher vor – als sich die nach dem Innern führende Tür öffnete und Steel mit höhnischem Lächeln vor ihm stand.

»Verzeihen Sie, Langholm, eben merke ich, daß ich Sie wegen Ihres Rades irregeführt habe. Die Leute haben es in die Ställe getragen. Nun habe ich befohlen, es vor den Haupteingang zu bringen.«

»Danke sehr.«

»Wollen Sie denn den Regen wirklich nicht abwarten?«

»Nein, ich danke.«

»Aber so kommen Sie dann doch wenigstens hier durchs Haus.«

»Nein, ich danke.«

»Nun, dann also nicht. Auf Wiedersehen, Langholm, und denken Sie an meinen Rat.«

Wenig ruhmvoll war der Auszug, den Langholm hielt, und er selbst fragte sich, ob wohl überhaupt schon einmal jemand einen so unrühmlichen Triumph gefeiert habe als er. Was er alles gesagt hatte, wußte er nicht mehr – nur über einen Punkt war er sich im Klaren. Aber wer weiß, ob selbst das Gericht im stande war, den Kampf mit einem solchen Manne aufzunehmen.


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