Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ab und zu konnte Waldemar es nun doch möglich machen, für ein paar Tage zu seiner Frau auf's Land zu kommen.
Das waren glückliche Stunden für Leonilla, in denen sie selbst für die neue Freundin wenig Sinn hatte. Bettina fühlte auch das wie eine Kränkung und fühlte diese um so deutlicher, wenn Jene, kaum daß der Gatte wieder den Rücken hatte wenden müssen, sich um so herzlicher an sie anschloß und ihr weder den Lobgesang ihres Glückes, noch die Klagelieder der Entbehrung ersparte, zu denen der geliebte Mann die Strohwittwe begeisterte.
Der Major war gegen die Tochter des verunglückten Organisten stets freundlich und rücksichtsvoll. Jedesmal brachte er ihr Nachrichten von ihrem Vater – leider waren es immer dieselben und keine gab zu großer Hoffnung Raum.
Für Musik schien Waldemar alle Neigung in der Ehe eingebüßt zu haben. Er bat nicht nur niemals 210 Bettinen an den Flügel oder an's Harmonium, er verwies es auch mehrmals seiner Gattin, wenn diese in Bettinen drang, sich vor dem Hausherrn hören zu lassen. Und wenn es ja einmal nicht zu vermeiden war, daß die Gesellschafterin vor ihm musizirte, so suchte Herr von Waldenberg ziemlich bald einen Vorwand, der ihn aus dem Salon trieb. Sei's, daß ihm ein Brief in den Sinn fiel, dessen Beantwortung keinen längeren Aufschub duldete, sei's, daß er dem Verwalter über eine Frage Auskunft zu geben hatte, die schon allzu lange ihrer Erledigung entgegensah . . . er fand nie Muße, Bettinens Kunst gerecht zu werden.
Leonilla empfand nicht nur schmerzlich, welch' ein Genuß ihrem Gatten dabei entging, sie empfand auch in der Freundin Seele hinein, wie solche Geringschätzung das aller Kränkung geöffnete Herz der Unglücklichen verletzen mußte.
In diesem Punkte täuschte sich die wohlwollende Leonilla noch mehr, als in dem andern. Es zuckte jedesmal wie ein Freudenschrei durch Bettinens Seele, so oft sie zwischen dem Spiel hörte, daß der Freiherr sich erhob, und stolz begrüßte sie jeden seiner sporenklirrenden Schritte, der ihn aus dem Bereich ihrer Töne trug. Sie hatten also doch nicht allen Zauber eingebüßt diese Töne, denn er entfloh ihrer Wirkung!
O wie gern ließ sich jetzt Bettina von 211 Waldemar's Gattin an's Klavier nöthigen. Sie hätte ihr jedesmal um den Hals fallen mögen, wenn sie ihre schüchternen Weigerungen eine nach der andern beseitigte und sie endlich zum Spielen zwang.
So waren es auch für Bettinen gute Tage, wenn Waldenberg auf seinem Gütchen weilte. Ihr verbittertes Herz bedauerte nur, daß dieser Tage so wenige waren und daß sie immer so rasch verschwanden.
Und dabei ward ihr das alte Räthsel nur immer dunkler, daß jener Mann in jener Zeit an ihr hatte vorübergehen können, als wäre sie eine Todte oder eine Verworfene gewesen. –
Wieder war Waldenberg nach solch' einem kurzen Besuch in die Garnison zurückgekehrt und die beiden Freundinnen saßen beisammen. Es war Leonilla ein Bedürfniß, ihre Herzenstrauer in Bettinens Brust auszuschütten. Sie glaubte ja sicher, daß außer ihrem Gatten kein Mensch so innigen Antheil an ihrem Leben und Empfinden nähme, als diese gute, treue Genossin ihrer ländlichen Einsamkeit.
Sie plauderte sich so von mancher Angst und Sorge frei, als Bettina sie auf einmal unterbrach:
»Darf ich eine recht unbescheidene Frage thun?«
»Fragen Sie, was Sie wollen, liebe Freundin,« sagte Leonilla arglos, »ich kenne Sie besser, als Sie glauben. und weiß, daß Sie keiner Unbescheidenheit 212 fähig sind. Von Ihrer Natur ist eher das Gegentheil zu befürchten.«
Bettina lächelte und betrachtete mit gespannter Aufmerksamkeit das Endchen eines Fadens, den sie just abgebissen hatte. »Nun denn, ich möchte wissen, ob Herr von Waldenberg seiner Frau niemalen zugemuthet hat, mich aus ihrem gastlichen Hause zu entfernen.«
»Bettina, wo denken Sie hin?!«
»Das ist keine Antwort,« sagte Diese trocken, als wäre sie schwer beleidigt. »Ich weiß nun, was ich zu denken habe, auch was von Ihrer großen Freundschaft zu denken . . .«
»Das wissen Sie nicht. Und wenn ich sage: ja, mein Gatte hat Ihre Entfernung für wünschenswerth gehalten, er hat sogar alles Ernstes neulich darauf gedrungen, so kann Sie das nicht kränken, denn er meint's im schönsten Sinne . . .«
»O, deß bin ich überzeugt!«
»Spotten Sie nicht! Waldemar schätzt Ihr Talent viel zu hoch, als daß er mir ein Recht zusprechen möchte, es für mich allein auszunützen. Er glaubt. daß Sie sich nach einem größeren Wirkungskreise sehnen, daß Ihnen diese Sehnsucht nach Ruhm und Anerkennung nur allzu bald das stille Landhaus Ihrer Freundin verleiden wird und daß ich mich dann um so schlechter in meine Vereinsamung gewöhnen werde, 213 je mehr ich mich an Ihre liebenswürdige Gesellschaft gewöhnt habe. Es ward mir nicht schwer, ihm solche Skrupel für den Sommer auszureden. Ach Gott, wo könnten Sie, Arme, jetzt besser aufgehoben sein, als bei mir! Verzeihen Sie mir diese zärtliche Prahlerei. Aber für den Winter fürcht' ich selbst, Bettinchen, Sie werden den großen Konzertsaal meinem stillen Musiksalon vorziehen . . . Aber« (fügte Frau von Waldenberg hinzu und wie sie dabei die Augen erhob, waren sie feucht), »ich denke mir, das Eine schließt das Andere nicht aus. Sie können konzertiren, so viel Ihr Herz begehrt, und brauchen darum unsere stille Hausgenossenschaft nicht zu verlassen . . .«
»Ich denke nicht im entferntesten an etwas, wie eine Künstlerlaufbahn. Das ist mir ein für allemal verleidet worden,« sagte Bettina und nähte emsig weiter, ohne die Augen von ihrem Knie zu erheben.
»Und denken auch hoffentlich nicht daran, mich zu verlassen?«
»Wenn Ihr Gatte mich nicht zum Hause hinausjagt . . .«
»Schalk!« rief Leonilla und gab der Widerstrebenden einen Kuß auf die Wange.
Eine Zeitlang nähten Beide so fort, ohne weiter zu sprechen. Dann fing auf einmal das Mädchen wieder zu fragen an. Es klang recht arglos. »Sie lieben wohl Ihren Gatten sehr?« 214
»Sie wissen das etwa noch nicht? Warum fragen Sie so?«
»Vielleicht weil ich die Antwort gern höre.«
»Nun dann. Mehr ihn lieben ist menschenunmöglich!«
Bettina riß unwillkürlich einen Faden ab. Warum zuckte sie auch so zusammen ohne alle Noth. In jener Antwort war nichts, das sie überraschen konnte. Ueberrascht sah sie auch gar nicht drein, sondern ganz gelassen, wie sie jetzt, blinzelnd, frisch einzufädeln sich anschickte und dabei wie von ungefähr fragte:
»Wie lange ist das eigentlich denn her, daß Sie Beide sich so ganz unmenschlich lieb haben?«
»Wie lange?« antwortete Leonilla, von der Arbeit ablassend und die schöne Stirn auf ihren Zeigefinger senkend. »Das weiß Niemand. Bei mir, dünkt's mich, war's schon immer so. Wenn ich vordem etwas Anderes zu lieben geglaubt habe, so weiß ich's entweder nicht mehr oder es hat in der Erinnerung seine Züge angenommen.«
Bettina seufzte ganz leise, aber ihre Freundin hörte es doch und sagte: »Sie verstehen mich ja.«
»Ich glaube zu verstehen!« antwortete Bettina, die sich im Arbeiten nicht stören ließ. »Allein die Männer sind nicht wie wir. Wann fing's denn bei ihm zu brennen an, daß man's merkte?«
»Haben Sie denn nie etwas davon gemerkt?« 215
Bettina sah sie seltsam an und sagte: »Nein!«
Leonilla lächelte. »Das war dumm gefragt von mir. Sie waren ja damals noch ein Kind, dem man nichts dergleichen merken ließ – und wenn er auch mit Ihnen schwatzte, wird er Ihnen nicht davon erzählt haben, ob er Jemand lieb hatte und wen!«
Bettina schwieg. Es kostete sie etwas, jetzt zu schweigen. Aber sie wollte durchaus mehr erfahren.
Und sie erfuhr's auch. In ihrer frohsinnigen, fast übermüthigen Weise erzählte Leonilla ihr ausführlich die Geschichte, wie sie Waldemar tagtäglich am frühen Morgen belauscht, wenn er aus dem Thore geritten, wie einst die Rose vom Fenstersims in seine Hand gefallen, wie er am nämlichen Tag unter dem ersten besten Vorwande zu ihrer Mutter gekommen, wie diese zu solcher Verbindung nicht allzu gute Miene machen gewollt, wie das Schicksal selbst mit Thassilo's Börsenunglück Alles zu vereiteln gedroht, wie aber ihre Liebeslist aller Gefahr vorgebeugt und, wo den Mann sein Stolz zu schweigen gezwungen, mit ihrem freiwilligen Geständniß sich ihr Glück gesichert habe.
Sie hatte diese Geschichte noch Niemandem erzählt, aber es that ihr wohl, sie jetzt ihrer Freundin zu sagen. Ihre Wangen glühten im Wiederschein so freudiger Erinnerungen und so lebendig gefühlten Glücks.
Arme Bettina! 216
Sie hatte ein gutes Stück an ihrer Nähterei während dieser interessanten Erzählung fertig gebracht. O, noch jetzt nähte sie mit einer Hast drauf los, als gält' es noch heut' ihren Brautschatz oder ihr Todtenhemd fertig zu stellen. Ihre Finger zitterten und von den Wimpern des vornüber gebeugten Hauptes fiel Thräne um Thräne auf Hand und Linnen.
Leonilla sah es nicht oder, wenn sie's sah, dachte sie, daß es schwesterliche Theilnahme wäre, die dem liebenswürdigen Kinde diese Thränen erpreßte. Solche Theilnahme konnte sie nur ermuntern, immer wärmer und rückhaltloser fortzufahren und endlich das Glück, das ihr geworden, hochzupreisen.
Bettina schüttelte sich vor Unwillen. Sie ertrug's nicht länger, zuzuhören. Sie wollte aufschreien. Sie wußte nicht, ob sie nicht in der That jetzt eben aufgeschrieen hätte. Laut auf, wie es in ihrem Innern mehr als einmal aufgeschrieen bei dieser arglosen Kunde unbewußter Verruchtheit, die ihr Lebensglück lächelnd ermordet hatte, wie ein thörichtes Kind nach frommen Tauben schießt und nun damit noch prahlt! All' ihre Räthsel waren mit jener vollendeten Grausamkeit gelöst, die sich Freundschaft nennt.
»Und haben Sie nie daran gedacht,« sagte sie endlich, »daß Ihr Vorgehen ein armes Gottesgeschöpf, das Ihnen nie etwas zuleide gethan, um Alles gebracht hat, was es gehofft?!« 217
»Ich verstehe nicht!« entgegnete die Hausfrau, mehr durch den Ton der verwandelten Stimme, als durch die Worte bestürzt, denen sie in der That keinen Sinn beizulegen vermochte. »Wie meinen Sie das?«
»Ich meine,« versetzte das Mädchen, »daß ich so nicht gefreit werden möchte.«
»Warum nicht?«
»Weil mich dünkt, Sie haben die gute Sitte auf den Kopf gestellt, wonach der Mann zum Mädchen kommt, das er liebt, und es um Gegenliebe fragt. Verzeihen Sie, ich will Ihr kostbares Glück nicht unberufen auf die Goldwage legen, doch wie Sie es erreicht haben, das heißt, Sie haben sich dem Mann an den Kopf geworfen, ohne ihn auch nur zu fragen: ›Wird Dir's lieb sein?‹ und ohne ihn zu fragen: ›Hast Du nicht irgendwo ein anderes Mädchen, das Dir besser gefällt als ich?‹ Wie Sie einmal an seinem Halse hingen, verbot's ihm die Sitte der Welt, Sie abzuschütteln, vielleicht verbot's ihm auch nur Mitleid!«
»Bettina!« rief Leonilla und erhob sich so heftig, daß der Stuhl, auf dem sie gesessen, hintenüber fiel.
»Frau von Waldenberg?« erwiederte das Mädchen, sich ebenso rasch erhebend.
So wie die Beiden sich jetzt Aug' in Auge sahen, hatten sie sich noch nie angeblickt. Schöne Freundschaft, wo warst du hin? 218
Mit der Blitzesschnelle des Gedankens machte sich Leonilla klar, daß wohl Bettinen selber einmal von Waldemar's Liebe geträumt haben müsse! Wie begreiflich! War er doch der einzige junge Mann gewesen, der ihr nahe gekommen war. Sie hatte ihn täglich, hatte ihn von Klein auf gesehen. Was war dabei! Um eines Gefühls willen würde sie Leonilla nicht verdammen. Wie oft hatte Waldenberg ihr gesagt, daß Orlando, daß Bolle, daß er selber »das Hausmütterchen« als ein Kind betrachtet und behandelt hätten, und daß es zu jener Zeit auch nichts mehr als ein Kind gewesen wäre. Und Waldenberg log nicht.
»Hat Ihnen mein Mann jemals ein Wörtchen von Liebe gesagt?« fragte sie.
»Mir? Niemals!«
»Nun und Sie ihm vielleicht?«
»Ich sagte schon, daß ich den Brauch nicht kenne.«
»Gleichviel!« antwortete Leonilla, »ich fragte nur, um mein Gewissen zu trösten, daß Sie es nicht sind, die meine – ungebräuchliche Kühnheit um ihr Glück gebracht hat. Sie nicht! Jenun, über die unbekannte Dritte kann ich mich trösten.«
»Trösten Sie sich und leben Sie wohl!«
Leonilla vertrat Bettinen hastig den Weg.
»Wo wollen Sie hin?!«
»Fort!« 219
»Sie bleiben! Und wenn ich Sie noch einmal mit diesen meinen Händen festhalten müßte, wie damals zwischen den Weiden, ich hindere Sie heute wie damals, blindlings in Ihr Verderben zu stürzen. Wo wollen Sie hin? jetzt? so wie Sie sind? . . . Bettina! Thörin!«
Tausend Gedanken kämpften in der Seele des Mädchens mit einander, gute und böse Gedanken. Sie ward sich selbst nicht klar darüber, wer über ihre Seele Macht behalten sollte. Es kreiste ihr wie Schwindel um's Haupt. Sie meinte einen Augenblick, es wäre noch an dem, daß sie zwischen den Weiden sich verzögerte und Leonilla sie mit Gewalt in's verlassene Leben zurückwürfe. Und nur der eine Gedanke ließ sich, höhnisch genug, von ihr festhalten: war es der Mühe werth, weiterzuleben, um das zu erfahren?!
Frau von Waldenberg schien diese Gedanken wohl zu errathen. Ob es Bettinen gefallen wollte oder nicht, diese mußte sich in ein neues Leben finden, das dem einer Gefangenen ziemlich ähnlich sah.
In seltsamer Spannung verrannen die Tage.
Wenn in Leonilla's Herzen die Empörung ob so unerwarteter Enthüllung jedes andere Gefühl leidenschaftlich überwallen konnte, so war dieß doch nur eine Erregung des Augenblicks. Allzu sehr gewohnt, in jener Andern ein vom Geschick verfolgtes 220 Opfer zu sehen, das nur durch sie vor sicherem Untergang gerettet und einer glücklichen Zukunft entgegengeführt werden konnte, brachte sie's sobald nicht dahin, in diesem Opfer eine Nebenbuhlerin, in dieser Geretteten eine Feindin, in diesem Kinde die Schlange zu sehen, welche sie an ihrem Busen nährte, um von ihr gestochen zu werden.
Wenn dieses Kind vordem den Mann geliebt, den sie selbst liebte – sollte sie dem Kinde solch' eines Gefühles wegen gram werden? Um Waldemar's Herz wollte ihr nicht bangen. Aber trug die unselige Liebe nicht zu dem Unglück Bettinens noch bei? Machte sie dieselbe nicht noch beklagenswerther? Leonilla leugnete sich's nicht, wie peinlich Bettinen der Aufenthalt in ihrem Hause sein mußte. Aber wie sie sich auch den Kopf zerbrach, sie fand keinen Ausweg für das Mädchen. Draußen in der Welt lauerten überall Elend, Verführung und Verzweiflung auf die Hülflose. Sie war überzeugt davon, daß, wenn sie jetzt Bettinen aus den Augen ließe, dieselbe geradenwegs zum nächsten besten Flusse rennen würde, und da war Niemand mehr, der sie retten, aber Mancher, der ihr einen letzten Stoß in die Tiefe geben mochte. Sie betrachtete Bettinen, die sie dem Tode mit Gewalt aus den Armen gerissen hatte, wie ihr Geschöpf, an dessen Wohl und Wehe sie ein für allemal Theil hatte. Ein Wesen, das ihr Sorgen und Schmerzen 221 machte, aber für dessen Wohlergehen und Glück sie wie für das eines Kindes einen heiligen Eid im Himmel hatte.
Sie konnte es nur noch nicht über sich gewinnen, Bettinen wie früher den langen lieben Tag um sich zu haben; sie ließ Jene gern gewähren, wenn sie sich halbe Tage auf ihr Zimmer einschloß, wenn sie die Stunden abwartete, daß die Herrin nicht im Garten war, um selber dort sich zu ergehen, wenn sie selbst zu den gemeinsamen Mahlzeiten sich öfter entschuldigen ließ, als daran theilnahm: aber sie hatte strenge Weisung gegeben, auf Thun und Lassen der Gesellschafterin zu achten und sie in keinem Fall und unter keinem Vorwande die Grenzen des Gutes überschreiten zu lassen. Was seit langen Zeiten nicht mehr geschehen war, das untere Thor der Umfassungsmauer blieb Tag und Nacht geschlossen. Joseph, der Kutscher, auf dessen Zuverlässigkeit Leonilla bauen konnte, bezog die kleine Hütte neben der Pforte. Ihm, der dabei gewesen, wie seine Gebieterin die Musikantentochter vom Strom abgedrängt, ihm, der schon die Hand ausgestreckt hatte, die Widerstrebende aus den Weidenbüschen zu tragen, ihm brauchte man gar keine Erklärungen über den Sinn dieser Maßregel zu geben. Sah er doch ohnehin schon das Gesellschaftsfräulein immer nur mit seitabschielendem Auge an. Einer, die auf so außerordentlichem Weg in's Haus gekommen 222 war, der traute man's gern zu, daß sie auch ohne Urlaub sich von der Herrschaft wieder entfernen mochte. Davor war Joseph gut. Und wenn sich Bettina manchmal einfallen ließ, in der Nähe der unteren Mauer zu lustwandeln, so traf der Wächter noch ganz besondere Maßregeln.
Zu Joseph's Verdruß erwiesen sich diese außerordentlichen Vorsichtsmaßregeln so überflüssig wie die gewöhnlichen. Er hätte gern seinen Eifer an den Tag gelegt, und hier auf dem Lande, wo es nichts Redenswerthes zu thun gab, noch lieber als anderswo. Aber Bettina machte gar keine Miene, zu entfliehen.
Vielleicht eben darum, weil sie's ohne Mühsal merken konnte, daß man ein sorgsam Aug' auf ihre Schritte hatte. Vielleicht weil sie nicht wußte, wohin außerhalb dieser Mauern ihre Schritte wenden. Sie hatte keine Lust, sich noch einmal vom ersten Besten erretten zu lassen. Sie empfand keine Sehnsucht mehr nach dem Tode. Seit sie so wunderliche Kunde erfahren hatte, wie die letzte, meinte sie, es müßten noch allerhand andere Dinge für sie an die Reihe kommen. Sie war alles Ernstes mancher Ueberraschung gewärtig, hielt sich stille und wartete zu.
Seit sie Leonilla rückhaltlos in's Gesicht gesagt, was diese an ihr verbrochen hatte, fühlte sich ihr Herz erleichtert. Sie wunderte sich, so oft sie der Frau begegnete, daß diese die Wahrheit, die sie ihr 223 zugeschleudert, so gemächlich trug, daß sie nach wie vor, scheinbar wenigstens, sich in aller Liebenswürdigkeit ihr gegenüber verhielt. War es ihr gleichgültig, ob man ihren Mann liebte?
Bettina konnte das nicht glauben. Und je länger sie ihre Retterin betrachtete, desto mehr überzeugte sie sich, daß sie dieser schlimm gelohnt hatte. Leonilla kam ihr wie Einer vor, den die klaffende Wunde nicht schmerzt und der darum nicht glaubt, daß sie ihm tödtlich werde. Sie, die den Hieb geführt, wußte besser, wie tief er ging, als die Getroffene, bei der das Fieber noch ausstand.
Bettina hatte recht. Das Fieber kam, wenn auch schleichenden Fußes und mit kaum merklich wachsender Gewalt.
Leonilla war einsam, einsamer als je vorher, einsam mit unerträglichen Gedanken.
Sie hatte Bettinens Vorwurf belächelt, wie man sich über eines Kindes Vorwurf hinwegsetzt. Aber auf einmal konnte sie sich nicht genug darüber wundern, daß dieser kindische Vorwurf dennoch an ihr hängen geblieben war. Sie überraschte sich oft des Morgens mit der Wahrnehmung, daß sie stundenlang in der Nacht über die alte Geschichte nachgedacht hatte; sie fragte sich oft am Abend, warum sie tagsüber zu keinem andern vernünftigen Gedanken gekommen war. Ihr ganzes Dasein, ihre 224 Vergangenheit und ihre gegenwärtige Lage ward hundertmal von ihr in dem Sinne geprüft, ob Waldemar sie wirklich liebe oder ob er sich nur aus Großmuth in ein aufgedrungenes Schicksal ergeben habe.
Wenn sie sich mühte – sie fand für's Eine wie für's Andere Anhaltspunkte, die wie Beweise aussahen, Beweise, die einander anfochten und Dem, der sie prüfte und immer wieder prüfte, selbst ein wechselndes Gesicht zeigten. Zweifelhaft war Alles, Alles, und ward es immer mehr. Je länger sie's betrachtete. Es gab Momente, wo Leonilla zweifelte, daß sie lebte. Auch solche, wo sie wünschte, daß dieses ganze Leben nur ein zweifelhafter Traum sei, aus dem man erwachen werde, sobald er Einen auf's Heftigste beängstige.
Hätte sie doch Bettinen nimmermehr gesehen!
Was dann? Wäre das Uebel geringer, wenn sie nur nicht darum wüßte? Hatten sich Waldemar und Bettina nie geliebt, wenn sie nie Argwohn schöpfen durfte? Würden sie sich nicht noch lieben, diese Beiden, ach, so Liebenswerthen, von ihr selbst so sehr Geliebten, wenn Leonilla nicht wußte, nicht wachte?
Ja, seit sie wußte, wollte sie auch wachen. Bettinen bewachen, sich selbst, ihn! Das allein konnte den Ausbruch des Uebels, den Zusammensturz ihres eigenen Glückes verhüten. 225
Und schon darum mußte Bettina bleiben! Wenn sie sie jetzt entließ, wo sollte sie Zuflucht suchen in der fremden Welt, als bei ihm! Und wenn sie sich ihm an den Hals würfe – hatte Leonilla ihren Herrn denn anders gewonnen!
Und so ward es geboren, das Scheusal Eifersucht, das den blühenden Rosengarten eines stillen Glücks in eine angsterfüllte Wüstenei verwandelte, darin ein armes Weib, von tausend selbstgeschaffenen Zweifeln angefallen, unter dem entblätterten Baum ihrer Freuden saß und thörichte Gedanken spann, die ihr zur Hülfe sein sollten und sie nur immer mehr verdarben.
Es dauerte lange, bis diese Wandlung sich vollzog. Wie heiter hatte Leonilla jede Anfechtung abgewiesen im Anfang, wie gelassen konnte sie lächeln, so oft ein Argwohn sich ihr in die Seele schmeicheln wollte – und ach, wie so vertraut war sie mit allen bösen Geistern geworden, ehe der Mond sich zum andernmal erneuerte.
Wenn jetzt ein harmloser Brief Waldemar's kam, so legte sie ihn gleichsam auf die Folter ihrer Gedanken, sie zwang dem unschuldigen Boten auf allerhand schlimme Fragen, an die der Sender nie gedacht, Antworten ab, die ihm der grausame Richter selber zwischen die Zeilen schob. Kalt, lieblos und unaufrichtig mußte sich das geduldige Papier schelten lassen. 226 Und da der Schreiber zu selbiger Zeit in der That von allerhand bösen Gedanken umgetrieben wurde, mit denen er seine Frau noch nicht erschrecken wollte, so fielen seine Briefe gerade jetzt etwas gezwungen und wortkarger aus als sonst. Leonilla verglich sie mit den früheren, deren Empfang sie vordem jedesmal so glücklich gemacht hatte. Und auch diese früheren erschienen ihr jetzt in einem ganz anderen Lichte. Wo hatte sie ihre verblendeten Augen gehabt?
Wo hatte sie jetzt ihre Augen?
Sie stand lange Stunden am Fenster hinter dem Vorhang versteckt und sah Bettinen zu, die, ein Buch lesend, auf einer Gartenbank saß oder unter den Bäumen wandelte und sich Blumen brach. Waldemar's Frau ward nicht satt, sich in ein grausames Studium dieser anmuthigen Züge, dieser schönen und schönbewegten Gestalt zu vertiefen. Sie fand es das Natürlichste von der Welt, daß dieses Mädchen große Leidenschaft erregen mußte. Sie fand es unbegreiflich, wie Einer jahrelang Thür' an Thüre mit ihm gelebt haben sollte, ohne sich in dasselbe zu verlieben.
Konnte sie doch selbst noch immer nicht ohne Rührung dieß Geschöpf betrachten, das ihr, wie kein anderes, Leid verursacht hatte.
Unersättlich, wie alle Selbstquäler, wühlte sie sich die Frage zurecht, warum solch' ein herrliches Geschöpf 227 nicht glücklich werden sollte, nicht just so glücklich, wie es selber sich's erwünschte? Warum nicht mit dem Manne, der ihre erste Liebe war? Warum der Mann nicht mit ihr – wenn auch er sie wirklich liebte? – Vielleicht deßhalb nicht, weil ein verwöhntes Mutterkind, das sich nie einen Wunsch versagte, gewaltsam sich zwischen Beide gedrängt hatte? und dem Einen zur Qual, dem Andern zur Last, sich selbst zum Vorwurf zwischen ihnen stehen blieb und Keines von Beiden glücklich werden ließ, um dabei nur selber elender zu werden als jene Beiden?
Es fehlte nicht an lichten Augenblicken, wo der natürliche Trieb der Selbsterhaltung dem einsamen Weib all' diese Zweifel abschütteln half. Aber wessen Gedanken einmal solche Wege gegangen, dem kehren sie immer wieder dahin zurück. Fand Leonilla auch auf Augenblicke ihren Frohsinn wieder, im Innersten ihres Seelenlebens saß ein giftiger Argwohn, der wie der Wurm die Blume, obschon sie noch duftete, so ihr natürliches Gefühl zu zerstören drohte.
Der schreckliche Gedanke, der ihr immer und immer ihr entstelltes Bild wie in einem Hohlspiegel zeigte, der sie als eine Verbrecherin an Anderer Glück erscheinen ließ, er drückte nach und nach ihre Seele wund. Nur der Stolz hielt sie noch aufrecht. An dem einzigen Wesen, dem sie sonst in dieser Einsamkeit ihr Leid hätte klagen können, gerade an diesem 228 hatte sie vielleicht gefrevelt. Und täuschte sie dieses, was sollte sie ihm noch vertrauen!
So lebten die Beiden schweigsam, unter gefälligen Formen ihre Gefühle verbergend, wochenlang neben einander hin. Da eines Tages brach Leonilla zusammen. Sie fühlte, wie sie die lang zurückgehaltene Kraft nun auf einmal zu verlassen drohte. Sie schämte sich ihrer Hülflosigkeit. Sie fürchtete, ernstlich krank zu werden. Was sollte geschehen, wenn sie hülflos lag und Jene –
In ihrer dreifachen Angst kam ihr nur ein Ausweg in Sicht. Kaum daß man sie zu Bette gebracht, ward ihr's, als hätte sie schon einmal das Bewußtsein verloren, als sollte es schon in einem der nächsten Momente ihr neuerdings entrinnen; sie nahm sich noch einmal zusammen, so gut sie konnte.
»Bettina,« sagte sie zu dem Mädchen, das nun nicht von ihrem Bette wich. »Versprechen Sie mir, daß Sie mich nicht verlassen wollen.«
»Können Sie denken, daß ich Sie jetzt verlassen könnte?«
»Das nicht! Versprechen Sie mir, daß Sie mich nie verlassen werden!«
»Niemals?« fragte Jene und lächelte vorwurfsvoll.
Aber unerschüttert, unter dem Bann ihrer fixen Idee, fuhr die Kranke fort: »Sie wissen, daß ich es nicht böse mit Ihnen meine. Zu meiner Beruhigung 229 versprechen Sie mir, daß Sie die Grenze dieses Gutes ohne meine Erlaubniß nicht überschreiten wollen, – weder zu Fuß, noch zu Roß, noch zu Wagen! Das versprechen Sie mir und weiter nichts. Haben wir Beide zusammen Haus Waldenberg erst einmal verlassen, dann sind Sie frei. Versprechen Sie!«
Bettina sah auf die blassen Wangen, auf die glänzenden Augen der Fiebernden. Es wehte sie grausig an aus dieser geheimnißvollen, wunderlichen Forderung, die sich schon wie Fieberwahn hören ließ. Sie wußte nicht, was sie sollte, und zögerte.
Die Liegende schien die Gedanken der Andern zu errathen. »Versprechen Sie!« wiederholte sie mit vor Ungeduld zitternder Stimme und ihre Finger krallten sich in die Decke, als könnte sie sich an ihr vor den Phantasieen festhalten, welche sie wieder mit sich in's dunkle Bereich hinwegzerren wollten. »Fürchten Sie keinen Doppelsinn! Wenn ich hier sterbe, sind Sie frei! Der Tod löst alle Fesseln. Er löst noch heiligere Eide, als den ich fordere!«
»Gut denn!« antwortete Bettina und kniete sich vor's Bette hin. »Und mög' es Sie besänftigen. Ich verspreche Ihnen, mich weder zu Fuß, noch zu Pferde, noch zu Wagen von hier zu entfernen, bis Sie es mir aus freiem Antrieb gestatten. Sind Sie zufrieden?«
Leonilla schüttelte verneinend das Haupt. Sie konnte nicht mehr sprechen. 230
Das Mädchen besann sich. »So wollen Sie, daß ich's beschwöre?«
Die Kranke nickte mehr mit den Augenlidern als mit dem Haupte, das nicht mehr in ihrer Gewalt war.
»So schwör' ich Ihnen denn auch, daß ich Sie nicht verlassen werde, schwöre bei Gott, beim Leben meines Vaters und bei der Dankbarkeit, die ich Ihnen schuldig bin!«
Leonilla schloß die Augen. Die Wachende verbarg ihr Angesicht auf dem Bette der Freundin. Sie hatte kein Hehl vor sich, daß ohne jene ganz unselige Stunde diese Frau jetzt nicht im Fieber stöhnte. Da lag das Opfer ihres unsinnigen Hasses vor ihr. So hatte sie Wohlthat vergolten!
Unaufhaltsam stürzten ihre Thränen aus den Augen. Wenn sie in einer Sommernacht auf schwindliger Altane geglaubt hatte, sie könnte mit leichtem Herzen zur Mörderin werden, so war sie jetzt von diesem Wahne geheilt.
Sie starrte auf Leonilla's Züge, die sich schmerzhaft verzogen, sie fühlte ihr an den Puls und behielt die heißen Hände in den ihrigen. Alle Freundschaft, die je diese Frau für sie empfunden, sie fühlte sie jetzt für diese Frau.
Noch einmal versprach sie Alles, was Jene gefordert, und mehr, viel mehr, als Jene gefordert. 231 Es war der gepreßten Seele einzige Wohlthat, ein Opfer zu bringen, und sie wußte keines, das sie für die Genesung dieser Kranken nicht zu bringen bereit wäre.
Leonilla hörte von alledem nichts mehr. –
Bettina pflegte die Kranke treu und unablässig. Waldemar war es unmöglich, sich vom Dienste loszumachen. Erst eine Woche später konnte man ihn mit der Nachricht beruhigen, daß die Gefahr des Fiebers beschworen sei. Kurze sachliche Briefe der Pflegerin gingen täglich nach der fernen Stadt.
Frau von Santalatona war auf die erste Kunde von der Erkrankung ihrer Tochter herbeigeeilt. Weil jedoch diese Kunde sie in einem fernen Seebad hatte aufsuchen müssen, so konnte sie erst eintreffen, als Leonilla schon auf dem Wege der Besserung sich befand. Da die bequeme Dame nicht ohne ziemliche Dienerschaft angereist und im kleinen Waldenberg nicht für Viele Raum zu schaffen war, die sich nicht drängen wollten, da die Kranke vor Allem der Ruhe bedurfte und die besorgte Mutter ihre tausend Aengste nicht alle für sich behielt, so sah sich der Arzt genöthigt, die Mutterliebe zu beschwören und die vortreffliche Frau auf einem beachbarten Gute einzuquartieren. Etwas gekränkt und sehr gelangweilt reiste sie von dort ab, sobald Leonilla den Garten wieder betreten und ihren Abschiedskuß empfangen durfte. 232
Frau von Waldenberg hatte ohne Hülfe ihres Gatten genesen müssen. Auf Bettinens Arm gestützt, schlich sie langsam unter den Bäumen hin, als Waldemar endlich geritten kam.
Ihm standen die Thränen im Auge, da er sie so blaß, so abgemagert, so jämmerlich herabgekommen sah. Leonilla fühlte seinen staunenden, mitleidigen Blick und schämte sich. Neben ihr stand die getreue Pflegerin Bettina, schöner denn je, strotzend von Gesundheit, strahlend im glücklichen Bewußtsein, durch unablässige Sorgfalt nun doch auch ein Leben gerettet zu haben. Was hatte Leonilla noch vor ihr voraus! Wie kläglich fühlte diese den Vergleich zu ihren Ungunsten ausfallen.
Sie mußte weinen, schwach wie sie war, und mußte dabei denken, daß sie nun weinend doppelt häßlich sei.
Sie athmete erst auf, als Bettina sich entfernte. Diese that es bald. Waldemar sah die Erregung, er fürchtete für die kaum Genesene, hob sein zitterndes Weib auf die Arme und trug es aus dem kühlen Garten in's Haus.
»Gelt, wie ich leicht geworden bin!« rief Leonilla, sich ohne Unterlaß selber quälend. »Ich weiß, ich falle nicht schwer mehr in's Gewicht!«
Der Major hatte dieser Rede kein Arg. Die Freude, seine Gattin wiederzusehen, der Schmerz, sie 233 also verändert wiedergefunden zu haben, drängten auf Stunden mancherlei Sorgen zurück, die ihm seit Wochen viel zu schaffen machten.
Wie schnell verrauschten diese Stunden! Und seine Zeit war so gemessen! Am andern Tage schon mußt' er wieder nach der Garnison zurück. Sollt' er sich das erste Wiedersehen mit Erörterungen von Mißgeschicken verderben, die doch nicht zu ändern waren, die seine arme Frau auch morgen noch immer früh genug erfuhr? Durfte er überhaupt der kaum Wiedergewonnenen von drohenden Ereignissen sprechen, welche sie gewiß erschrecken, ihre Gesundheit vielleicht noch einmal gefährden mochten? Nicht doch, schweigen war besser!
Bettina hatte sich den ganzen Tag nicht wieder blicken lassen. Sie zögerte auf ihrer Stube und entschuldigte ihr Ausbleiben von der Mahlzeit mit Kopfschmerzen.
»Du solltest doch zu ihr gehen!« überwand sich Leonilla zu sagen. »Sie hat mich mit einer Aufopferung gepflegt, die es verdient, daß Du ihr dankest.«
»Wenn Du meinst, gerne!« versetzte Waldenberg und ging hinüber.
Er blieb eine halbe Stunde weg. Leonilla meinte, das Fieber käme mit seiner ganzen Gewalt noch einmal über sie. Tausend quälende Gedanken lösten 234 einander in verwirrender Hast ab. Sie meinte aufspringen zu müssen! Sie wollte selbst hinüber, zwischen die Beiden treten und es auf einmal zu Ende bringen –
Was?!
Sie wußte es nicht mehr. Da war sie wieder, jene garstige Lücke in ihrem Denken, die sie so oft in diesen Wochen geängstigt hatte. Eine Lücke, die sich ihr oft zwischen alle Vorstellungen schob – eine Lücke, wie ein großer weißer Fleck, auf dem nichts stand. Ihr war, als wollte sie immer neuerdings daraus zu lesen versuchen, ja, als müßte sie diesen Versuch bei Todesstrafe immer wiederholen, und es war doch nichts zu entziffern. Weiß, weiß, ein glänzend undurchdringlich Weiß, das sich in sich selbst zu vertiefen schien, wie ein Abgrund unfaßbaren, flimmernden, milchigen Lichtes. Und daneben zu beiden Seiten, wie entzweigesprengte Taue, kaum mehr in Schattenrissen erkennbar, verschwindend, Bilder, Begriffe, Worte, – nichts mehr!
Die Aerzte sagten, das wär' eine Folge ihrer Krankheit, die sich bald geben würde. Die Aerzte sagten, das käme von den Nerven. Das sagten sie immer, wenn sie nicht recht wußten, oder den Kranken nicht merken lassen wollten, wie er daran war. Leonilla mochte jedoch gar nichts darüber hören. Es ekelte sie vor der Erinnerung. Sie hatte Scheu, davon zu 235 reden. Sie dachte, kommt's immer wieder, so wirst du dich eben daran gewöhnen müssen.
Und jetzt auf einmal war ihr wieder klar: Waldemar ist bei Bettinen. Sie fand sich an der Thüre stehen und auf den Gang hinaus horchen, ob ihr Mann noch nicht zurückkäme. Nun hörte sie auch seinen Schritt. Und jetzt trat er ein, derweil sie wieder auf dem Sopha lag.
Er wollte sein Weib küssen, da er es noch blässer wiederfand, als er es kurz vorhin verlassen. Sie wehrte seinen Mund ab – zum ersten Mal im Leben, – aber sie konnte den Argwohn nicht verscheuchen, daß Waldemar vielleicht eben Bettinen geküßt hätte – sie war ja küssenswerth, – aber deren Kuß und der ihrige sollten nicht auf einer Lippe beisammen sein!
Der Besuch des Majors bei der Gesellschafterin seiner Frau war einer der nüchternsten und förmlichsten gewesen.
Bettina fühlte sich schuldig und darum befangen. Sie hatte allen Dank abgelehnt. Jedes herzliche Wort wäre ihr peinlich erschienen und so hatten sie Beide bald in gewöhnliche Redensarten eingelenkt und sich dabei erhalten.
»Wie geht es Ihrem Herrn Vater?« fragte sie. »Wir wunderten uns, daß er nicht einmal in diesen bangen Zeiten nachzusehen kam.« 236
Waldemar brachte etliche Redensarten vor, mit denen er zu bemänteln versuchte, was er zu enthüllen sich nicht berufen fühlte. Bettina hörte nicht darauf; sie hatte nur, um in der Verlegenheit etwas zu sagen, diese Frage hingeworfen. Im Innern meinte sie besser als Waldemar zu wissen, warum Thassilo vom Stammhause seiner Väter sich fernhielt. Er hatte sie um eine Zeile ihrer weißen Hand gebeten, wenn er wiederkommen sollte. Ohne Hoffnung wollte er sie lieber nie wiedersehen. Und Bettina war in diesen beiden Monden zu ernsthaft geworden, um sich mit dem Alten zu necken, und zu klar über sich selbst, um ihm die geringste Hoffnung zu geben.
Die Erwähnung von Waldemar's Vater reichte somit gerade hin, um ein Gespräch über Bettinens Vater einzuleiten. Und da der Major, getheilt in die Anstrengungen des scharfen Dienstes und die Sorgen um die entfernte Gattin, seit Langem nicht dazu gekommen war, um das Befinden des Organisten am rechten Ort sich zu erkundigen, so mußte er zu seiner Beschämung jetzt gestehen, daß er nichts Neues wüßte und das Alte nur vom Hörensagen.
Dieß fatale Geständniß ließ keinerlei Unbefangenheit aufkommen und kürzte seinen Besuch rasch ab. Als er sich empfahl, schüttelte Waldemar dem »alten Hausmütterchen«, das sich auch in seinem Heim so treu und hülfreich erwiesen, dankbar und derb die 237 Hand und versprach, so bald als möglich Nachricht von Orlando zu senden.
Das war der ganze Besuch gewesen.
Der nüchternen Wahrheit entsprach das Bild nicht, das in Leonilla's Sinnen sich von dieser lange gefürchteten Begegnung wie in einem boshaften Zauberspiegel darstellte.
Sie staunte, wie Waldemar so unbefangen reden konnte. Zum ersten Mal im Leben fragte sie sich, ob er im Stande wäre, sie zu täuschen.
Sie wollte, sie mußte das ergründen; sie wollte erfahren, was hinter ihrem Rücken geschehen könnte, sie wollte sich überzeugen, was geschehen würde, wenn sie nicht mehr vorhanden . . . so gut wie nicht vorhanden wäre. Darnach wollte sie handeln – was geschehen war, gut machen – und sich selbst freisprechen oder entsühnen.
Noch wußte sie nicht, wie das Alles zu erringen sei. Nur der Zweck, den sie verfolgen müsse, zeigte sich mit mäßiger Deutlichkeit in der Ferne. Der Weg dahin lag noch in Wolken, ihrer Erkenntniß verhüllt. Kaum daß ihr dunkel zu ahnen schien, wie sie den nächsten Schritt in's Ungewisse thun sollte. Sie hoffte, der Zufall werde sie führen. In diesem Sinne lauschte sie auf jedes Wort, das ihr Gatte sprach.
Waldemar pflag argloser Rede. Es wurmte ihn, 238 daß er sich keine Zeit hatte nehmen können, den alten Hunzelsperger in seiner Zelle aufzusuchen und, wenn schon das nicht anging, wenigstens genaue Erkundigungen einzuziehen, wie es mit ihm stände. Er meinte, das hätte schon die gemeine Dankbarkeit ihm gebieten sollen gegen ein Wesen, das sich ganz der Pflege seiner lieben Frau opferte. Freilich, es fuhr ihm jetzt Mancherlei durch den Kopf. Aber er konnte sich solche Vernachlässigung doch kaum verzeihen.
Leonilla mußte lächeln, wie er so immer wieder auf Bettinen zurückkam, ohne daß er's merkte – vielleicht nur, ohne daß sie es merken sollte. Jedenfalls hielt sie für gerathen, auf seinen Gedankengang einzugehen. Und so ließ sie sich viel vom alten Orlando erzählen, Manches, was sie schon öfter gehört, und Anderes, das ihr neu war.
So entstand allmälig der Wunsch in ihr, selbst einmal den Mann zu sehen, von dem sie so Vielerlei schon erfahren hatte. Sie wollte glauben, wenn sie den gestörten Musikanten sähe, würde ihr nicht nur das Schicksal Bettinens, sondern auch ihr eigenes klarer werden. Daß der Wahnsinnige Geheimnisse ausplaudern werde, die ihr nütze sein könnten, diesen Gedanken verwarf sie selbst alsbald. Sie sah keinen greifbaren Zusammenhang. Um so deutlicher schien Ahnung in ihr zu sprechen. So reifte ein wunderlicher Entschluß in ihr. 239
Nachdem sie in einer halb schlaflosen Nacht sich damit abgequält, einen Vorwand für ihre Absichten zu finden, gab ihr am andern Morgen Waldemar beim Scheiden selbst die Gelegenheit an die Hand, ihre Wünsche zu befriedigen.
»Ich habe uns Beiden nicht den kurzen Tag unseres Wiedersehens verbittern, Liebste, habe Dich nicht mit ungewissen Befürchtungen plagen mögen,« sprach er. »Dennoch will und darf ich Dir nicht Alles verhehlen, was mir jetzt Sorge macht. Mein Vater ist ein Mann, der den Spruch liebt, daß er sich nicht von Jedem in die Karten sehen lasse. Auch von mir nicht. Darin hat er vielleicht Recht, denn ich verstehe nichts von derartigem Spiel. Trotzdem will es mir jetzt scheinen, als ob Gerüchte sich bestätigten, die dießmal etwas hartnäckiger auftreten, wie vor zwei Jahren. Du wirst Dich ja erinnern!«
Leonilla wurde roth. Wie mochte sie ihr Gatte jener Zeit gemahnen! Hatte doch jenes Gerücht den Anstoß gegeben zur Entscheidung. Wer weiß, ob sie ohne jenes je den Muth gefunden hätte, so wie geschehen, ihres Glückes Schmied zu werden.
»Man sagt mir, daß mein Vater bereits zwei der vor nicht allzu langer Zeit erworbenen Güter wieder verkauft und daß er das dritte, sowie sein Haus in der Stadt zum Verkauf habe anbieten lassen. Auch andere namhafte Leute, alte Firmen, 240 zuverlässige Banken werden auf einmal sorgenvoll betrachtet. Papa ist, wie Du weißt, nicht mittheilsam. Fragt man ihn, so lacht er über die kleinmüthigen Leute, die an jedem Wochenende den jüngsten Tag sehen. Dennoch schwant mir nicht lauter Gutes, Kind. Ich fürchte, auch wir werden Einbußen erleiden müssen.«
Leonilla zuckte die Achseln. Sie war in diesem Augenblick nicht bei der Sache. Geldangelegenheiten waren ihr immer widerwärtig. Sie hatte, so lange sie lebte, jeden Wunsch, dessen Befriedigung zu erkaufen war, erfüllen können. Die Mittel waren immer wie von selbst geflossen. So schien es ihr auch selbstverständlich, daß das nicht eines Tages anders werden könne. Mehr oder weniger, so oder so, das war ihr gleichgültig. Warum sollte Thilo Waldenberg seine Güter nicht verkaufen, wenn ihm das Spaß machte; sie gehörten ja sein! Waldemar's Befürchtungen hielt sie für übertrieben. Ihr Interesse an seiner nicht eben sehr sachverständigen Auseinandersetzung fing erst Feuer, als er ihr sagte: »Es wird vielleicht nöthig sein, daß Du Dich einmal in die Stadt bemühst, wenn es Deine Gesundheit wieder gestattet. Mich läßt man jetzt nicht los. Und ich hätt' es oft noth, mich mit Dir zu bereden.«
Leonilla nickte bejahend mit dem Haupte.
»Und jetzt laß Dir keine Sorgen wachsen, liebes 241 Weib! Vielleicht ist der Sturm noch zu beschwören, vielleicht kann Alles ohne Deine Hülfe gut werden.«
»Nein, nicht ohne meine Hülfe!« versetzte Frau von Waldenberg hastig, aber sie hatte dabei andere Dinge wie ihr Eheherr im Sinn. Vorsätze, die alsbald ihren Geist so heftig ergriffen, daß sie zum ersten Mal im Leben sich von ihrem Manne küssen ließ, ohne zu wissen, was ihr geschah, und daß sie die Stunde seines Abschieds herbeiwünschte, um ungestört ihrem Plane nachsinnen und ihn rascher in's Werk setzen zu können.
»Auf Wiedersehen also in der Stadt!«
Das war Waldemar's Abschiedswort gewesen, mit dem er sich auf's Pferd geschwungen, um nach der Bahnstation zu reiten.
Leonilla sah der Staubwolke nach, welche die Sommersonne vergoldete. Als Joseph anderthalb Stunden später mit Waldemar's Pferd zurückkam, fand er die Frau noch immer an der Gartenmauer lehnen und gedankenvoll auf die staubige Straße blicken.
Sie that, wie wenn sie eben aus dem Schlaf erwachte, da er die letzten Grüße seines Herrn an sie bestellte.
Kopfschüttelnd guckte der wackere Joseph hinter ihr drein, wie sie langsam zwischen den Feldern zum Wohnhause zurückging. Er dachte jener schönen Rose, 242 die er einst von der Straße unter Leonilla's Fenster aufgelesen hatte. Ein wenig seltsam war ihm schon das Fräulein von Santalatona seinerzeit vorgekommen, aber seit der letzten Krankheit war die Frau doch gar zu wunderlich. Wenn das noch dazu wahr würde, was ein Stubenmädchen gemunkelt, daß das große Vermögen auf der Kippe stünde – na, na, der Stoß würde der Guten schlecht bekommen. Gott sei davor, daß es dann kein größeres Unglück gebe! 243