Hans Hopfen
Die Heirath des Herrn von Waldenberg
Hans Hopfen

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V.

Das Lied war verhallt. Es hatte aufgehört zu regnen. Kein Licht brannte mehr im ganzen Hause.

Aber der Rittmeister konnte wider alle Gewohnheit keinen Schlaf finden.

Er war immer ein regelmäßiger Mensch gewesen. Sein Körper pflegte der gewohnten Tagesordnung wie ein gutgehaltenes Uhrwerk zu folgen. Sonst hieß es: Licht aus, Ohr auf's Kissen, Augen zu! und weg war das Bewußtsein. Des andern Morgens wachte er in derselben Lage auf, in der er gestern eingeschlafen.

Heute war's nicht anders, als hätte man ihm etwas eingegeben, das ihm allen Schlummer weit weg vertrieb. Er warf sich rechts, er warf sich links. Er hob den Kopf und stützte den Arm darunter. Er sann darüber nach, wie lang ihm das nicht widerfahren wäre, wachenden Geistes und unbehaglichen Leibes sich auf dem liebgewohnten Lager zu wälzen. Und warum das Alles? 78

»Alter Knabe!« sprach er zu sich selber, »alter Knabe, laß dir keine Dummheiten durch's Gehirn gehen. Für dich sind derlei Wolkenspiele gar nicht gemacht. Denkst du wirklich an die hübsche Hexe, halb Kind, halb Fräulein? Unsinn! . . . Oder wie, willst du etwa heirathen?

»Gott bewahre mich!« sagte er so laut, daß er's selber hören konnte, warf sich zurück und zog die Bettdecke bis über die Ohren. Er mußte über diesen dummen Einfall so herzlich lachen, daß er nicht liegen bleiben konnte, sondern sich vollständig aufsetzte und die Beine zum Bett heraushängen ließ.

Nach seinem Gelächter war es so still im Zimmer geworden, daß er unwillkürlich horchte, ob er Niemanden geweckt hätte. Nun war ihm in der That, als hört' er etwas. Vor der Thüre? Vor dem Fenster? Es schnaubte was; es kratzte was. Er hörte gemüthlich zu, ohne sich darüber Rechenschaft geben zu können, wer das Geräusch verursachte. Es wollten ihm ein paar dumme Gedanken durch den Kopf gehen, die er abschüttelte, ehe er ihnen recht Gehör gegeben. Endlich ward er doch ungeduldig. Er öffnete das Fenster, stieß den Laden auf und rief: »Wer da?«

Ein dumpfes Gurgelgeräusch wie eines Schnarchenden, mit etwas Stöhnen vermischt, war die ganze Antwort. 79

Waldenberg griff rasch nach ein paar Kleidungsstücken, mit denen er sich bewarf, und machte Licht. Währenddem hörte er schon einen festen, aber vorsichtigen Schritt die Treppe herunter eilen. Das von oben Kommende mußte es geheim und eilig haben. Denn das alte, sonst so geräuschvolle Bretterwerk ächzte kaum und keine Sohle knarrte, und doch schien es der gewaltige Bolle zu sein, der so geheimnißvoll auftrat.

Waldenberg, sonst so kaltblütig und gelassen, riß hastig die Thür auf. Er wollte wissen, was da im Hause schlich und ächzte. Mit ausgestreckter Hand leuchtete er in den finsteren Flur. Beinahe wäre er mit dem Leuchter an Bolle's Kopf gestoßen. Der Tenorist stand vor ihm, ohne Halstuch, ohne Socken, ohne Mütze – ohne jede sonstige schützende Hülle als ein kurzes, dünnes Nachthemdchen, das zitternd im Zugwind um die muskulösen Beine flatterte, die dem Bildner eines Herkules hätten zum Modell dienen können.

Der nackte Këyx war eben im Begriff, recht vorsichtig, recht leise den großen Schlüssel im Hausthor umzudrehen. Er sah dabei sehr ernsthaft, ja zornig aus, denn er machte, wie er sich nach dem plötzlich hinter ihm auftauchenden Lichtschimmer umwendete, das bewußte Gesicht, welches leichtsinnige Menschen zum Lachen herausforderte. 80

»Sie noch auf!« brummte er, »und ich gab mir doch alle Mühe, Sie nicht zu wecken.«

Waldemar von Waldenberg wußte noch immer nicht, was er sagen sollte. Er sah auf Bolle's nervige Faust, die nun das Thor öffnete, dann ohne weitere Entschuldigung das Licht aus seiner Hand nahm und die vom Nachtwind gefährdeten Strahlen über die Schwelle hinaus auf die Straße fallen ließ.

»Da!« murmelte Herkules im Hemde und wies mit der Linken vor sich hin, »da liegt sie, die ewige Jugend! Der olympische Mann, der gar keines Schlummers bedarf und selbst die unverwüstlichsten Zecher durch seine Ausdauer beschämt, er hat den regennassen Pflasterstein zum Kopfkissen erwählt und schnarcht mit dem Nachtwind um die Wette.«

Waldenberg strengte seine Augen an, um in der Finsterniß, welche nur dünne, flackernde Strahlen durchzitterten, etwas zu erkennen. Er hatte zu weit ausgesehen. Gerade vor seinen Füßen, wie er nun am wiederbeginnenden Schnarchen erkannte, lag, halb schon auf der Schwelle, eine schwarze Masse, ein zusammengekrümmter Körper. Das zu oberst war wohl ein zerknitterter Hut, und das darunter waren graue Haare.

Der Rittmeister bückte sich, um dem Liegenden aufzuhelfen. Aber der Sänger, der nackt, wie er war, auf die Straße getreten, rief ihm, und ziemlich 81 barsch, zu: »Lassen Sie ihn, erst muß ich den Schlüssel haben.«

Gleich darauf neigte sich Bolle zur Erde und hob das von dem Hingesunkenen verlorene Instrument vom Pflaster auf.

»Ich kenne des Maëstro Gewohnheiten,« sagte er, »und weiß wohin ungefähr er seine Kleinigkeiten verschleudert.« Damit war er auf den Schwellenstein zurückgetreten und wölbte den Rücken und reckte die Arme nach der Tiefe. Nicht ohne Bewunderung sah Waldenberg das Spiel der Kraft, die nun ohne sichtliche Anstrengung den massigen Körper Orlando's vom Boden hob, das in Bewußtlosigkeit ungefüge Gewicht wie einen Kartoffelsack sich auf die Schultern lud und in's Haus trug.

»Haben Sie öfters solch' olympische Spiele bei nachtschlafender Stunde auszuüben, mein werther Hausvater?« fragte der Rittmeister.

»In letzterer Zeit ja!« erwiederte Bolle kurz und biß sich auf die Lippen. Er sprach wie Einer, der aus dem Schlafe spricht, oder besser wie Einer, der mitten in der Nacht nicht zum Antworten gezwungen werden will, um nicht seinen besten Schlaf zu vertreiben. Dieß Intermezzo schien seine Natur so gewohnt, wie etwa unsereiner zwischen erstem und zweitem Schlummer sich von der einen auf die andere Seite legt. Aber gesprochen wurde sonst dabei kein 82 Wort und Licht wurde auch nicht gemacht. Das waren Störungen, die heute gegen bisherige Gepflogenheit hinzutraten und so viel als möglich beschränkt werden mußten.

Bolle kehrte sich auch nicht weiter an den immerhin überraschten Rittmeister und trug seine Last, ohne umzusehen, mit gleichmäßigen Schritten die steile Treppe hinan.

Waldenberg sperrte das Hausthor zu, in dessen Schloß Bolle – wahrscheinlich wie immer – seinen Schlüssel hatte stecken lassen. Dann meinte der Rittmeister, dem hülfreichen Tenoristen doch mit seiner Kerze die Stiege erhellen zu sollen, und also, das Licht mit der Hand schirmend, folgte er dem rüstigen Träger und seiner bewußtlosen Last.

War's, daß Orlando den ärgsten Rausch bereits verschlafen hatte, oder war es das ungewohnte Licht, welches ihn erweckte, es fiel ihm erst der Hut vom Kopf, dann schüttelte er die langen, ziemlich stark ergrauten Haare und im fetten Nacken erhob sich endlich sein rundliches, glattrasirtes Angesicht. Er riß die Augen groß auf und betastete mit den Händen Eduard Bolle's achilëische Schultern.

»Hop, hop, hop!« rief er und kicherte erst noch wie unsicher, um alsbald laut auf zu lachen. Bolle störte das nicht, er schritt ruhig weiter, und Waldemar mit dem Licht immer hinterdrein. 83

Das schien den Erwachenden nur zu vergnügen.

»Va ben! va bene!« sagte er und nickte lustig mit dem Kugelhaupte. Dann im Tone eines Ausrufers fortfahrend: Oggi sera si vedrà: Il trionfo di Bacco! . . . O nò! unterbrach er sich plötzlich und fuhr fort: Diremmo, se vi piacerà meglio, diremmo: . . . Il trionfo di Sileno! Sì, di Sileno . . . era un dio anche questo! . . . Also: Il trionfo del vecchio Sileno, opera buffa in due atti, musica dell' illustrissimo maestro Orlando Unzelospergero. Haha! . . . Kommen die Personen dieser Oper. Erstens: Silen (et hic Deus! Nicht zu vergessen! wohlverstanden!) . . . dargestellt vom Meister selbst – dann ein Kameel, auf dem der göttliche Saufaus den Olymp hinanzureiten pflegt . . . Herr Eduard Bolle, primo tenore assolutissimo. Besondere Begabung und Kostüm von Mutter Natur. – Dritte Person: Ein Fackelträger . . . wer ist der Fackelträger? qui est ce Monsieur inconnu, qui porte le flambeau? Wer will hier Luzifer spielen? Wer will mir meinen Hinterkopf in Brand stecken?! Trag' ich denn einen Zopf? Donner und Gloria!«

Vater Silen verhielt sich nun etwas ungebärdig und wollte um jeden Preis sich wenden, um dem unbekannten Manne, der hinter ihm den Leuchter trug, in's Gesicht zu sehen. Aber es gelang ihm nicht. Er selber war zu fett, um in dieser Lage 84 den Wendehals zu spielen und Bolle's Arme gaben nicht nach. Nicht eher, als bis die ganze Prozession in Hunzelsperger's Quartier angelangt und die schnaubende Last von des Gewaltigen Schultern auf das erste beste Lotterbett abgeladen war.

Dann nahm der gute Bolle den Organisten erst bei dem einen Bein, dann beim andern, zog ihm die Stiefel aus, nahm ihm Rock und Kravate und legte die Kleidungsstücke mit schonender Hand beiseite – Alles, ohne nur ein einzig Mal den Mund aufzuthun – Dieß verrichtet, ging er ohne Wort, ohne Gruß, ohne Licht, die Augen kaum geöffnet, die Fäuste unwillkürlich geballt, auf seinen nackten Gladiatorenbeinen zur Stube hinaus, seines Weges auch im Finstern sicher, und legte sich schleunigst in sein verkühltes Bett.

Der Rittmeister, um den sich Bolle erst recht nicht gekümmert, blieb bei dem Musiker zurück. Er wußte nicht recht, sollte er gehen oder bleiben. Die Szene hatte für ihn einen gewissen Reiz der Neuheit. Daß Hunzelsperger trank, war eine alte Geschichte. Er hatte selber schon ab und zu mit ihm getrunken und sich immer köstlich mit dem Alten dabei vergnügt. Aber, daß der ehrwürdige Musikant also nächtens in sein Gehäuse transportirt werden mußte, war ihm bislang entgangen. Er hatte einen zu festen Kavalleristenschlaf und Bolle schien alles Mögliche an 85 leiser Vorsicht zu leisten, um nicht nur keinen der Hausgenossen, sondern wo möglich auch sich selbst nicht bei dieser seiner wirklichen Hülfeleistung aus dem Schlummer zu wecken. Vielleicht war der Fortschritt in des alten Musikanten Trunkenboldigkeit auch erst in neuester Zeit so weit gediehen.

Aufmerksam betrachtete Waldenberg den weinumdüsterten alten Herrn, der gerade heute, wo er selbst vor ungewohnter Erregtheit keine Ruhe hatte finden können, mehr Theilnahme in ihm herausforderte, als sonst wohl der Fall gewesen wäre. Orlando streckte gähnend die beiden Arme von sich, rieb sich die Augen und starrte dem Rittmeister in's Gesicht.

Er schien noch nicht so weit ernüchtert, um den freundlichen Hausgenossen auf den ersten Blick zu erkennen.

»TTChè bestia?« fragte er nicht eben höflich und blinzelte dabei mit den vom Licht gekränkten Augen.

»Kennen Sie mich denn nicht?« fragte der Offizier und nickte dabei ihm freundlich zu.

Und der Alte lächelte auch und sagte schon etwas menschlicher: »Wie werd' ich Sie nicht kennen!« Er schüttelte die dargereichte Hand, seufzte und verbarg dann sein Angesicht auf seinen Armen. Nur eine Minute lang. Dann sah er wieder empor und sprach mit dem tiefsten Ernste: »Wissen Sie, was ich jetzt komponire?« 86

»Nun denn, was ist's?«

Orlando lehnte sich in sein Sopha zurück und den Fragenden so scharf, als ihm möglich war, in's Auge fassend, sagte er: »Niemand weiß es . . . aber vor Ihnen will ich kein Geheimniß daraus machen. Ich komponire – eine Fuge. Ja, eine große Fuge!« wiederholte er gehobenen Tons und sprang in die Höhe. Einzelne Haare standen ihm wirr vom Kopf und zitterten im Schimmer der Kerze wie verirrte Strahlen eines verwüsteten Heiligenscheines. Er taumelte halb auf Waldenberg zu und packte ihn mit aller Gewalt beim Arme:

»Wissen Sie, was das ist, eine Fuge? . . .«

»Freilich!« antwortete Jener.

Aber der Organist hatte gar nicht die Absicht, sich das von einem Anderen erklären zu lassen, sondern fuhr fort: »Einer unserer größten Meister hat gesagt: la fugue . . . la fugue c'est tout ce qu'il y a de plus difficile dans l'art musical. Verstanden? Das Schwierigste, was es überhaupt in der musikalischen Kunst gibt! . . . und eben das, das mach' ich jetzt! und . . .!« Er sagte nichts weiter, aber er drückte einen schnalzenden Kuß auf Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand und that, als ob er diesen Kuß seinem Gedanken in die Luft zuschleuderte.

Dann vertraulich an den Rittmeister sich lehnend 87 und Aug' in Auge bohrend, lispelte er: »Wollen Sie sie hören, meine Fuge?«

Waldenberg, der an die schlafende Bettina und an den braven Bolle dachte, die allesammt ihre Nachtruhe so redlich verdienten, hatte nichts Eiligeres zu antworten, als: »Nein, durchaus nicht! Ich danke bestens!«

Der Musiker ließ seine Arme schlaff am Körper niederhängen und mit bitterem Lächeln nickte sein Haupt, derweil er sprach: »Er will nicht! Nein, das Schwerste, das Schönste, das Heiligste, was ihnen die Kunst geben kann, das wollen sie nicht hören! Beileibe nicht! . . . O mein Schicksal!«

Er stampfte wild mit dem Fuß auf. Und ohne sich im geringsten an Waldenberg zu kehren, der ihn begütigen wollte, ging er mit heftigen Worten und fechtenden Armen im Zimmer hin und wider.

»Wie sagte doch der alte Spontini zu seinem Schüler, der auch gern ein Tondichter werden wollte? Er wies mit der Hand nach der Kuppel des Berliner Schlosses und sagte so: Il vous faut des idées grandes comme cette coupole!« Wieder stampfte Hunzelsperger mit dem Fuße die Dielen, Thränen traten ihm in die Augen und mit halberstickter Stimme schrie er: »Eh bien, moi je les ai, ces idées! . . . Große, wunderbare Ideen, ich habe sie . . . aber sie wollen sie nicht hören, diese Schächer! O die 88 erbärmliche Menschheit! Was wollen sie denn hören? Huidiadiöh! wollen sie, Walzer und Ländler!

›Immer tanzen und springen und alleweil fidel!
                    Darahihi, darallalla!‹

»Das ist ihre Musik. – Aber wartet nur, ihr sollt mich doch hören! Ich will euch bei eurem eigenen Zopfe fangen und festhalten. Ja, das will ich. Ascolta principone!

Ein wunderliches Grinsen lag auf dem breiten Gesichte des Alten. Es sah ganz bleich und strahlend aus und an den Augen, die er weit aufriß und nur selten von Waldenberg abwendete, drängte sich das Weiße immer auffallender aus den Lidern. Er erschien bald wie ein Wüthender, bald wie ein Begeisterter, aber durchaus nicht mehr wie ein Betrunkener. Er ging jetzt sicher und fest; er sprach ohne Lallen und mit energischer Betonung. Im Nu hatte er ein halb Dutzend Lichter angezündet, die in seinem Zimmer umherstanden, und ehe der Rittmeister es wehren konnte, saß er am offenen Flügel.

Was Waldenberg hatte verhindern wollen, geschah nun erst recht. Was fragte ein Genie, welches heilig davon überzeugt war, daß es für seine Konstitution nichts Entbehrlicheres gäbe, als den gemeinen Schlaf, was fragte ein souveräner Meister wie dieser Orlando darnach, ob er durch den Klang seiner Saiten etliche Mitmenschen im Schlafe störte oder nicht. 89

Waldenberg wollte ihm leise abwinken: Dieser aber wich ihm mit den Händen aus und sprach: »Wissen Sie, was das beste Wort war, welches der Meister gesprochen? J'ai tant plauré! hat er gesagt. J'ai tant plauré!« Er nickte traurig mit dem Kopfe . . . »Moi aussi, j'ai tant plauré! Ich habe so viel geweint.«

Er ließ die Finger über die Tasten laufen. Er wiederholte mehrmals den französischen Ausspruch – immer leiser – zwischen seinen Zähnen. Er schien ganz ruhig. Es dünkte Waldenberg wie die Ruhe vor dem Sturm.

»Aber wer wird immer weinen!« rief nun der Maëstro. »Sie wollen eure klingenden Thränen nicht hören! Wer die arme Menschheit lachen macht, das ist ihr der rechte Mann, den schätzt sie als den großen Künstler! . . . Und sie hat Recht! Die Traurigkeit ist des Teufels! ja des Teufels ist sie!! Traurigkeit ist eine Sünde, sie wissen das aus ihrem Rabelais. Hahaha, ich kann auch lustig sein! Etwa nicht? Nun denn, mein Fürst und Reitergeneral, was wollen Sie Lustiges hören?« . . . Er meisterte bereits mit beiden Händen auf dem Instrumente herum. Wie einen zierlichen Goldfaden schien er die Melodie aus den Saiten zu ziehen, sie mit allerhand spielenden Tonarabesken zu heben, zu verschönen, zu verstärken. Seine Augen glänzten und schielten zärtlich, als sähe 90 er die Klänge in leibhaftiger Schönheit vor sich, und seine Lippen schmunzelten so süß, als spräch' er von einem angebeteten Weibe. »Cenerentola vielleicht? Cenerentola vom unsterblichen, vom gigantischen, vom lustigen Rossini? Horch' auf . . . Da, da, da . . . Sehen Sie? Da kommt er schon, der alte Narr. Hören Sie, wie er geckt und schwänzelt . . . Hahaha! Nur die Italiener hatten Buffonen! Nichts über einen italienischen Buffo! . . . Das ist die verdrehte Mutter . . . und das sind die nichtsnutzigen, vor Stolz und Dummheit verrückten Töchter . . . wie sie knixen, wie sie schnattern, wie sie eifern . . . ist das eine komische Musik?! O himmlisch! Und das da wieder der Vater! Da kommt er. Eccolo il signor padre . . .«

Er spielte schon während dieser Worte; er sang dazwischen die einzelnen Stimmen, erst leise andeutend einige Worte; dann immer lauter, immer bestimmter die ganzen Phrasen, die ganzen Partieen. Er hatte eine so ausdrucksvolle Kunst zu spielen, eine vollständig ausgesungene, aber doch – so wohlgeschulte Stimme und ein so außerordentlich komisches Talent, daß man in der That die einzelnen Stimmen der verschiedenen Charaktere zu hören, ja den ganzen drolligen Vorgang zu sehen glaubte. Sein Gesicht veränderte sich bei jeder Phrase; es schien, als verstände er, seine Stirne, seine Nase je 91 nach Willen zu verlängern, zu verschrumpfen; selbst seine Haare schienen seinem Mienenspiel zu gehorchen. Es war keine andere Trunkenheit mehr in ihm, als die der künstlerischen Begeisterung. Der Genius der Musik hatte den Dämon des Weines vertrieben. Es war ein Genuß ihm zuzuhören, und Waldemar von Waldenberg selber hatte auf Bolle, Bettina, Nacht und Nachtruhe vergessen und schüttelte sich vor Lachen.

Auch Orlando's große Augen lachten. Der Eindruck, den seine Kunst auf den stattlichen Soldaten machte, schien ihn zu freuen, und gehobener in seiner Stimmung fuhr er fort, manchmal einen deutschen Satz wie eine nothwendige Erläuterung zwischen den italischen Text schiebend: »Jetzt erzählt der Alte einen Traum, den er gehabt. Ihm träumte von . . . einem Esel . . . Nun kommt die Erklärung des Traumes: Quel asino son io! Der Esel bin ich selber!«

Er vollendete mit Gelächter. Er wischte sich die Stirne. »Quel asino son io!« wiederholten seine Lippen. Plötzlich sprang er auf: »Mir dorrt die Kehle! Mir klebt die Zung' am Gaumen. Ich bin der Esel. Ein Esel, wer nicht trinkt!«

Er ging nach einem Schranke, tappte darin nach einem wohlversteckten Gegenstande hin und her, und nachdem er sich noch einmal vorsichtig und mit den Geberden eines Komikers nach Waldenberg umgesehen, 92 duckte er sich ganz zur Erde und brachte richtig eine bauchige Flasche hervor, die ganz darnach toilettirt war, als ob sie etwas besonders Gutes zu verspenden hätte. Im Nu hatte der Organist ein Glas und ein Messer bei der Hand. Der Flasche Halsring flog mit dem Korken in die Stube und der perlende Schaum floß aus dem vollen Glase über Orlando's triumphirende Hand.

»Nicht getrunken!« rief Waldenberg und hielt den Arm des Alten fest. »Lassen Sie's für heute genug sein, Wasser ist auch gut für den Durst!«

»Wasser!« lachte Hunzelsperger. »Willst Du an mir zum Mörder werden, undankbares Reitergemüth?«

Der Nacheiferer Silen's war nicht wie Bolle, auf dessen Ohren die Kommandostimme des Rittmeisters eine zauberische Gewalt aus alten Tagen ausübte. Hunzelsperger hatte sich die Kehle trocken gesungen und es war ihm höllischer Ernst mit dem Bedürfniß, dieselbe frisch anzufeuchten.

Freilich war Waldemar dem Alten an Kraft so überlegen, daß es ihn geringe Mühe kostete, dem Aufgeregten das Glas aus der Hand zu drehen. Dieser aber gerieth nun in Wuth, seine rollenden Augen suchten nur nach einer Waffe, um dem stärkeren Mann den vielgeliebten Nektar abzustreiten.

Der Rittmeister sah, daß es zu einer ärgerlichen Szene kommen würde, und da er überaus heiterer 93 Laune war, beschloß er, den Durstigen lieber mit Güte zu überlisten, als mit Gewalt und Lärm zu zwingen.

»Meister Orlando,« sagte er, sich vor den Schrank und die Flasche pflanzend und in hocherhobener Hand, die der Kleinere, der Musiker, nicht mit der seinigen erreichen konnte, das volle Glas gegen die Decke hebend. »Mit roher Kraft ist bei mir nichts auszurichten. Ehevor ich Ihnen hier einen Tropfen zu gute kommen lasse, schütte ich den ganzen Wein zum Fenster hinaus. Aber wenn Sie mir in Artigkeit nachgeben, dann sollen Sie keinen Tropfen verlieren.«

»Oi mè« jammerte der Musikant. »Es war die letzte, langgesparte Flasche!« Dabei blinzelte er aber doch schon hoffnungsvoller an der räuberischen Faust empor.

»Unter Einer Bedingung kriegen Sie Alles, was Glas und Flasche noch enthalten!«

»Mit nichten, Eccellenza! Sie müssen mittrinken! Das versteht sich. Aber . . . wie lautet die Bedingung?«

»Die Bedingung lautet: Der Meister Orlando legt sich unverzüglich zu Bett . . .«

»Ich gehe in drei Wochen nicht Einmal zu Bette,« unterbrach ihn der durstige Musikus, »nur wenn ich unwohl bin, lege ich mich wie andere 94 Jammermenschen entre deux draps blancs. Ich concedire auch heute nur den Lehnstuhl. Wie ein Humboldt, wie ein Winkelmann im Lehnstuhl . . .«

»Nichts da! . . . Kein Bett, keinen Wein!«

»Gewaltthat und kein Ende!«

»Bedenken Sie doch: der klassische Schlaftrunk! Schon die alten Deutschen betranken sich auf der Bärenhaut. Durch das ganze Mittelalter spielt der Schlaftrunk eine großartige Rolle. Und noch im vorigen Jahrhundert wurden am kaiserlichen Hofe für den Schlummerwein, der allabendlich auch dem zartesten Hoffräulein auf den Nachttisch gestellt wurde, mehr Dukaten in eine Monatsrechnung gesetzt, als selbst Sie in einem Halbjahr auf moussirenden Hochheimer zu verbrauchen im Stande sind.«

»Oho! Oho!« Solche Geringschätzung seines Könnens brachte Hunzelsperger zum Lachen.

Der Rittmeister hatte schon beim Beginn seiner Rede die rechte Hand unter des Organisten Schulter geschoben und während er weitersprach, den Lachenden in halber Umarmung zur Thüre des Musikzimmers hinaus und in seine Schlafkammer gerückt. Der Glanz der Lichter fiel sanft gedämpft aus dem Saal herein über die Schwelle. Gar einladend und anheimelnd leuchteten die blühweißen Kissen aus dem Halbdunkel der langen Vorhänge. Der Maëstro kicherte noch immer. Auch sein Bett kam ihm sehr 95 lächerlich vor. Streichelnd fuhr er mit der Hand über's Linnen.

»Ein gutes Gewissen – ein weiches Kissen – ein straffes Lager mit schneeigem Lein – als Schlaftrunk reinen, perlenden Wein. – So sehr du um meine Gunst beflissen – es fällt dir doch nichts Besseres ein!« improvisirte der Musikus und lachte, lachte. Aber da saß er auch schon in seinem Bette.

Es mußte sich doch gut da sitzen. Er seufzte lang, er neigte – noch immer in Buffonenart – das Haupt halbseitig nach den Polstern und schloß dabei wie versuchsweise die Augen zu. Da er aber nichts dagegen wandte, als ihm Waldenberg die Füße hoch hob, so sank er wirklich mit dem Kopf auf's Bett und lag der Länge lang wie andere unbegabte Sterbliche zwischen zwei weißen Laken. Die versuchsweise geschlossenen Aeugelein thaten sich nicht so bald wieder auf und er schnarchte ebenso behaglich, wenn auch nicht ganz so laut, wie vordem auf dem Schwellensteine seines Hauses. Nach Wein war kein Begehren mehr, seinen nimmermüden Durst löschte der Gott des Schlummers mit dem erquickenden Mohntrank aller Müden.

Waldenberg hatte ganz richtig kalkulirt. Die Anziehungskraft des Bettes hatte den Uebernächtigen gefangen genommen und nun war Ruhe im Hause. »Schlafe süß, mein borstiges Genie!« sagte er, mit 96 der breiten Hand die Haare aus des Schnarchenden Gesicht streichelnd. »Und dieses Glas den guten Geistern unseres Hauses! Es wird mir besser bekommen als Dir, Alter!«

Er setzte den leeren Becher beiseite, korkte die fast noch volle Flasche wieder zu und verbarg sie in dem Schrank, aus welchem sie Hunzelsperger genommen hatte. Dann horchte er noch einmal, ob der Alte auch ruhig weiter schliefe und, deß versichert, löschte er im Klavierzimmer die Lichter bis auf eines.

Eine Uhr schlug die dritte Stunde nach Mitternacht.

»Und ich soll um sechs Uhr zu Pferde sitzen!« dachte sich Waldemar und lächelte. Er nahm das Licht und wollte schleunigst zu Bette gehen.

Da, als er die Schwelle von Hunzelsperger's Klavierzimmer überschritten, wär' er beinahe gefallen. Wie erstaunten seine Augen. In knieender Stellung, auf ihren Füßen sitzend, die Hände im Schooß gefaltet, das Haupt auf die Schulter, den Körper an die Wand gelehnt, hockte hier Bettina und schlief einen festen Schlaf.

Sie war gekleidet wie am Tage. Nur bei dem Haar, das sie anders als sonst, in Zöpfe geflochten, um's Haupt gesteckt hatte, mochte man annehmen, daß sie schon einmal zu Bette gelegen und in der Nacht erst wieder aufgestanden war. 97

So wie man sie da kauern sah, war es nicht schwer zu errathen, daß sie, durch des Vaters überlauten Gesang aus dem ersten Schlummer geweckt, sich vom Lager erhoben hatte und, theils von Besorgniß, theils von Neugierde getrieben, bis an die Zimmerthüre geschlichen war, um zu hören, was es gäbe. Dort an der Thüre mußte sie alsbald an der Stimme erkennen, daß der Rittmeister Waldenberg sich mit ihrem Vater die Zeit vertrieb. Und wie sie dieser Besuch abhielt, in's Zimmer einzutreten, so hielt er sie doch auch ein wenig vor der Thüre zurück. Das Mädchen horchte, ob mehr auf's Gespräch oder mehr auf die Musik, wer kann's wissen. Aber die überwiegende Musik lockte den Schlaf. Das müde Kind konnte sich kaum aufrecht halten. Es konnte ja auch im Knieen des Vaters Gesang hören. Und wie es so an der Wand kauerte, warum sollte es nicht auch das müde Köpfchen an die Wand lehnen? Und also, kauernd, das Köpfchen an die Wand gelehnt, waren ihm die Augen zugefallen und der schwere Kinderschlaf hielt ihm die Ohren zu. Vater Orlando mochte die Tasten schlagen, wie er wollte, im komischen Gesang sich auszeichnen oder von seinem Gesellschafter mit stürmischem Ruf die Bacchusgabe heischen: Bettina schlief. Und schlief auch jetzt, da des Rittmeisters Fuß sie streifte.

»Bettina!« sagte der Rittmeister, sie sanft an der 98 Schulter rüttelnd. Sie wendete nur mit einem leisen Seufzer das Gesicht vor dem Lichte dem Schatten zu und war nicht zu erwecken. »Bettina,« wiederholte Waldenberg etwas ärgerlich und lauter. Aber alsbald that es dem gutmüthigen Menschen leid, das arme Ding aus seinem späten Schlaf aufzustören. Allein auch in dieser unbequemen Stellung wollt' er seine kleine Freundin nicht die Nacht über hocken lassen. Die Regenluft zog durch die Spalten unter den alten Thüren über den Estrich; Bettina mußte sich hier erkälten und wenn sie Bolle, der Gestrenge, des Morgens auf der Diele liegend fand, dann gab's schlimme Schelte und von Rechtswegen.

Was sollte Waldemar thun? »Eine wunderliche Familie!« dacht' er bei sich. »Sie scheinen Alle einen gewissen Zug zu empfinden, lieber auf einem Stein oder Brett, als in ihrem weißen, weichen Lager des Schlummers zu pflegen. Zigeunerblut! Soll ich nun der Tochter einen ähnlichen Liebesdienst erweisen, wie unser Bolle dem Vater gethan hat?«

Er besann sich noch einen kurzen Augenblick. Er beleuchtete das Mädchen. Ein leichtes Zittern ging über die rührende Gestalt, die Zähne klapperten leise. Der Ausdruck des Gesichts war ein schmerzlicher, man sah wohl, es fror die arme Kleine. »Auch Du sollst in Deinen Federn schlafen!« sprach Waldemar und faßte sanft die Freundin an. Er konnte sich 99 des Lächelns nicht erwehren, wenn er an Bolle's Kraftleistung dachte und nun die kleinere und auch lieblichere Last auf seinen Armen wog. »Wie viel solcher Lothe gehen wohl auf das Pfund Silen?« dachte er und trug das Mädchen nach dessen Kämmerlein.

Auch der bewußtlose Körper schien es wonnig zu empfinden, endlich aus der unbequemen Lage befreit zu sein und statt an die frostigen Dielen sich an warmes Menschenleben zu schmiegen. Ohne zu erwachen, ohne die Augendeckel auch nur um einer Wimper Breite zu lüften, reckte sich doch der ganze Körper des Mädchens auf Waldenberg's Armen aus, so daß dieser eine Sekunde lang Mühe hatte, die sich Bäumende nicht fallen zu lassen. Aber schon im nächsten Moment kehrten die ausgereckten Arme zurück, fielen schwer um seinen Nacken und Hals, und klammerten sich mit einem Seufzer endlichen Behagens so wonniglich fest, als wollten sie nie wieder loslassen. So klammert sich ein Kind zu besserem Schlaf an den Hals der Mutter. Bettina wußte nicht, was sie in ihrer Betäubung that, und dabei wühlte sich ihr schlummerschweres Haupt, immer dem Licht ausweichend, immer tiefer nach seinem Herzen.

Hier war ihre Kammerthüre, das war ihr Lager. Waldemar trat mit leiser Vorsicht auf, als sollte sein Eintritt hier irgend Jemand bis in die Seele 100 kränken, und doch wußte er, daß Niemand außer ihnen Beiden in der Kammer war und daß nicht sein Fürwitz ihn hier herein geführt hatte. Er neigte sich mit seiner lieben Last und suchte die verschränkten Arme von seinem Halse zu lösen.

Es machte einige Mühe; er fürchtete schon, die ihn so traut umklammernde Schläferin durch seine Bemühung zu erwecken. Was sollte er ihr sagen, wenn sie in diesem Momente die Augen aufthat. Waldenberg gehörte zu den unverdrossenen Menschen, aber es ging doch wie ein Gebet durch sein Herz der Wunsch, daß des Mädchens Schlaf fester sein möge, als dessen verschlungene Hände.

Gott sei Dank, da lag sie und sein Nacken war wieder frei.

Und trotzdem verweilte er noch einen Augenblick vor der Schläferin und es zwang ihn, sie aufmerksam zu betrachten. Durch das Fenster stahl sich ein fahles Grau, denn schon hauchte draußen der ferne Morgen die Nacht mit seinem ersten Schimmer an. In blassen, undeutlichen Farben erschienen alle Gegenstände rings im Kämmerchen. Nixenhaft fahl und verführerisch glänzten Bettinens Antlitz und Bettinens nackte Arme. Und die Arme zuckten, als wollten sie noch einmal nach dem Freunde in die Luft greifen; aber die Fessel des Schlafes gestattete ihnen keine Erhebung. Auch der Mund zuckte; ein schwerer 101 Seufzer ging über des Mädchens Lippen, die sich öffneten, wie die Blätter einer Blume vor dem anbrechenden Licht. Es war ein Klang dabei, nicht deutlicher, wie wenn ein ersterbendes Lüftchen ungenügender Kraft über die Saiten der Aeolsharfe haucht, ohne die schlummernde Melodie in ihnen zum vollen Akkorde zu pflücken. Und dennoch war es Waldenberg, als hätt' er deutlich Ton und Worte dieses Seufzers erkannt, als hätte der hauchende Athem der Schläferin nicht anders geklungen, als vor wenigen Stunden ihr Gesang:

»Nimm mein Denken, Fühlen, Ahnen,
Leib und Seele . . .«

Träumte er selbst mit wachen Sinnen? Die Ohren klangen ihm. Eilig tastete er hinaus. Mit angehaltenem Athem erreichte er die Treppe. Im nächsten Augenblick war er in seiner Stube, deren Thür er doppelt verschloß, als könnt' er auch alle thörichten Gedanken so von sich ausschließen. Jetzt erst merkte er, daß er in der hastigen Flucht sein Licht droben vergessen hatte. Mag es weiter brennen in den Morgen hinein; es wird keinen Schaden anrichten. Er dachte nicht daran, es wieder zu holen.

Der Rittmeister sprang mit einem Satz in's Bett und schloß die Wimpern fest zu. Kein Traum störte den Schlummer des Gerechten. 102

*

Etliche Stunden später hatte der Offiziersbursche seine liebe Noth, den Herrn Schwadronschef aufzuwecken. Allein der unverdrossene Mensch besaß für solche Fälle seine gemessenen Weisungen und als das Glöcklein Sechse schlug, saß der Rittmeister in fertiger Pracht zu Pferde.

In Haus und Hof war noch Alles still. Waldenberg war guter Laune – wie die meisten Menschen, welche schon am frühen Sommermorgen zu Pferde sitzen.

Er warf beim Abreiten einen Blick nach den Fenstern des Oberstocks. Alle Vorhänge waren noch heruntergelassen; nur Bolle's Scheiben standen der frischen Luft weit offen. Këyx war trotz der gestrigen Störung schon im weiten Felde, um von seinem ländlichen Schlächtermeister das Fleisch für den Suppentopf einzuheimsen.

Lächelnd ritt der Ulan durch die Höfe gegen das Thor des stattlichen Vorderhauses. »Wir leben eigentlich sehr munter und vergnügt, wir alten Knaben in Vater Bolle's Hause . . .« dachte er bei sich. »Und sollte mir's gar einmal einfallen . . . Unsinn! . . . Ei, warum denn nicht? . . . fällt mir einmal – –«

Er sollte den bestrittenen Gedanken nicht zu Ende denken. Ihn störte der Stallknecht, der ihm tagtäglich die Pforte des großen Vorderhauses zu öffnen pflegte, ein wohlgemästeter, glattgeschorener Kerl in 103 gestreifter Jacke, der auf den Namen Joseph hörte und offenbar in gutem Futter stand, denn Fettwülste umrahmten gar possirlich die strammgezogene weiße Kravate, und aus seinem glatt rasirten und polirten Gesichte leuchtete die unterwürfige Unverschämtheit jener gewissen Sorte von Dienerschaft, die bei allzu reichen Leuten nicht allzu viel zu leisten hat.

Der fremde Stallknecht, der sonst nur mit eintönigem Morgengruß das Thor sperrangelweit vor dem scharrenden Rosse des Ulanen aufzudrehen pflegte, stellte sich dießmal, eh' er an die Klinke griff, in militärischer Positur vor den Reiter.

»Der Herr Rittmeister verzeihen, ich soll ergebenst fragen, wann der Herr Rittmeister zu Hause zu sprechen sind?«

Waldenberg nannte eine gleichgültige Stunde. Er nahm sich nicht die Zeit, zu fragen, wer ihn denn besuchen wollte. Es war ihm auch ziemlich einerlei. In der nächsten Sekunde hatte er Frage wie Fragenden vergessen.

Wie jeden Tag, wenn das Thor beim Ausreiten hinter ihm in's Schloß fiel, so war's ihm auch heute, als drehte sich hinter ihm ein Fenster auf und säh' ihm Jemand vorsichtig nach. Aber ebensowenig wie an sonst einem Morgen kam es ihm heute bei, den Hals umzuwenden. Heute sogar weniger als sonst. Vor seinen Augen schimmerte in blassen Farben ein 104 liebliches Bild zwischen Nacht und Morgen, das ihn noch einige Minuten gefangen nahm: dann war es weg im Nu und nur die Melodieen, die gestern erst die Tochter, dann der Vater gesungen, summten halb zerrissen, halb verschlungen durch seinen Sinn. Dann blies er auch die in den Wind. Er war nur mehr Reiter. Munter kaute sein Pferd den Zügel und der Ulan, ein frohes Lächeln unter dem stolz emporgedrehten Schnurrbart, trabte der Kaserne zu. 105

 


 


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