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Am anderen Morgen hatten sie dem Rittmeister schon die grünen Flügel der Heckenpforte geöffnet. Das Schloß klappte mit spiegelblanker Zunge über den Schlüssel und die Angeln drehten sich lautlos wie geschmiert. Eduard Bolle stand unweit davon und betrachtete mit ernster Zufriedenheit den Erfolg seiner nachhelfenden Hände. Auch der Reitknecht durfte sich etwas darauf einbilden, seinem Herrn den neuen alten Weg in besten Stand gebracht zu haben. Der Pfad war mit frischem Kies bestreut und die überwuchernden Zweige der bislang verschonten Büsche sein säuberlich zurecht gestutzt worden.
All' umsonst! der Herr Rittmeister sah gar nicht hin. Der Fuchs selber schien sich leise zu verwundern, daß nach der gestrigen Belehrung heute denn doch wieder der gewöhnliche ebene Weg gegen das Vorderhaus genommen werden sollte, folgte aber dem Druck des Reiters, noch ehe es zum Spornstoß kam. 207
Der Pförtnerbursche der Santalatona wäre beinahe zu spät gekommen, vor dem Roß das Thor zu öffnen. Auch er schien den Rittmeister nach dem gestrigen Abwege nicht mehr zu erwarten. Da sah er ihn noch gerade zur rechten Zeit und lief wie ein gehetzter Hase vom Brunnen herbei. Der Rittmeister mußte beinahe lächeln. Verbeugte sich der Kerl alle Tage so tief vor ihm? oder hatt' er es schon weg, wo seine Herrin gestern einen Besuch gemacht?
Das Thor ging auf in knarrenden Flügeln. Deutlich schollen die Huftritte auf dem Pflaster in der Morgenstille. Zum ersten Mal horchte der Ulan darauf, ob über ihm kein Fenster klirrte. Zum ersten Mal vernahm er nichts dergleichen.
Er ritt geradeaus im Schritt bis über die Mitte der breiten Fahrstraße und kehrte dann im halben Bogen auf den Reitweg, der längs des Hauses hinlief, zurück. Dabei hob er den Kopf, um zum ersten Mal aus freiem Willen nach den Fenstern der Santalatona zu sehen.
Das Fenster war schon offen. Die Ungeduld eines jungen Herzens, die stille Angst, ob der Mann, der gestern nicht sichtbar geworden, nicht doch krank daheim läge, hatten das schöne Mädchen nicht schlafen lassen und früher als sonst an seinen Morgenposten getrieben. 208
Blaß und schlank stand es da im Fensterrahmen, wie ein romantisches Frauenbild sich vom dunklen Hintergrunde hebend. Mit den lichtbraunen Locken spielte der Wind und der Spiegelblick eines Sonnenstrahls in einer Glasscheibe ließ um Leonilla's Haupt die irren Haare wie goldrothe Funken flattern. Die großen Augen, die sich kaum für die halbe Nacht geschlossen hatten, glänzten zauberisch. Sie schienen vor Verwunderung sich bis zum Zerspringen auszudehnen, weil der fremde Mann denn doch auf einmal und zum ersten Mal seinen Blick in den ihrigen legte und ihn so forschend lang und fragend in ihrem Angesicht verweilen ließ.
Sie erschrak davon so heftig, daß ihr das Blut purpurfärbig in die blassen Wangen schoß und sie mit der Hand nach dem Herzen fahren wollte, weil es allzu rasch, fast schmerzlich gegen den jungen Busen pochte.
Dabei dachte sie freilich nicht, daß sie eine Rose in der Hand hielt, und diese Rose fiel nun über das Fensterbrett und da lag sie schon auf der Straße . . . dunkelroth wie ein Blutfleck anzuschauen von Oben.
Ein berauschender Gedanke zuckte durch ihren wunderlichen Sinn: wär's nicht am besten, gleich der rothen Rose nachzuspringen, ohne weiter was zu denken, und so zu seinen Füßen zu sterben. 209
Da würd' er absteigen vom hohen Pferd und ihr zerschmettert Haupt in seine Hände fassen und ihr letzter Blick verlöscht' in seinen Augen . . . in den Augen, die er heute zum ersten Mal zu ihr erhoben. Grausame Kinderphantasie!
War die Wirklichkeit nicht besser als der wollüstig wahnsinnige Traum, der Leonilla schwindeln machte? Lenkte der Ulan wirklich geradewegs – den arglos angefangenen Bogen willkürlich vollendend – auf die Rose zu, als wollt' er Miene machen, sich nach der Blume vom Pferde herabzubücken?
Wie hübsch der Hüne lächeln konnte.
Da mußte selbst Leonilla lächeln. Der Schalk, der auch hinter dem schwärmerischsten Mädchen steckt, kam über sie und lächelnd, so recht von Herzen wie noch nie, hob sie die Hände wie eine Bittende sanft in die Höhe und schüttelte dabei verneinend das Haupt, als wollte sie sagen: »Thu's nicht!« Und zum Lohne dafür griff sie im nächsten Augenblick nach einer anderen Rose und ließ sie auf den unter dem Fenster vorüber reitenden Mann fallen.
Die Blume fiel ihm geradezu auf die Hand. Es brauchte keiner Mühe, sie zu haschen.
Noch einen Blick nach Oben. Leonilla war schon verschwunden.
Das Mädchen war überglücklich und schämte sich doch des leichtsinnigen Streichs. Nie im Leben hätte 210 sie sich einer solchen Unbedachtsamkeit für fähig gehalten. Nie im Leben aber auch hätte sie geglaubt, daß der Mann, den sie im Stillen liebte, sie also anblicken würde. Es war ihr, als hätte sie Gott aus diesem Blicke gefragt. Was aber wird der Mann jetzt von ihr denken, der das duftige Zeichen ihres Muthwillens in der Hand davontrug?
Sie wagte es nicht, einem zweiten Blicke zu begegnen. Sie war vom Fenster gerannt, als brennt' es. Sie hatte sich im letzten Winkel des Salons auf die Kniee geworfen, drückte das glühende Gesicht in ein Sophakissen und horchte so, jammervoll selig, in wonniger Verzweiflung auf den verhallenden Hufschlag draußen und auf das immer lautere Pochen in ihrem Herzen.
»Wo bist Du, Leonilla? . . . Was kauerst Du denn hier an der Erde, mein Kind? . . . Bist Du krank? . . . Dir ist etwas widerfahren? . . .« u. s. w., fing Frau von Santalatona zu fragen an, sowie sie in's Zimmer trat und ihr Töchterchen in also ungewohnter Stellung fand.
Die rosenlose Schöne jedoch schüttelte nur immer verneinend das Haupt, und sobald es anging, schwebte sie aus der Thüre.
Es war ein Vergnügen, die zierliche, außerordentlich schlanke, ja schmächtige Gestalt sich bewegen zu sehen. Nicht ohne das erhebende Gefühl mütterlicher 211 Bewunderung verfolgte Frau von Santalatona heute wie jedesmal die rhythmische Schönheit jeder dieser unbewußten Wendungen; aber auch heute wie so oft schüttelte sie zu dem wunderlichen Gehaben des einzigen Kindes betrübt den Kopf.
Das einzige Kind flog, wie vom Wind verweht, in sein Kämmerlein und schloß die Thüre doppelt und verriegelte sie noch obendrein. Es wollte allein sein mit seinem großen Geheimniß.
Leonilla hatte ein Geheimniß! Und wie war das schön! Ein Geheimniß selbst vor ihrer Mutter! Ein Geheimniß mit dem Geliebten allein!
Letzteres war nun, genau betrachtet, nicht ganz richtig.
In der Straße waren zwar des frühen Morgens wegen noch keine Gaffer gewesen. An den gegenüberliegenden Häusern sah man noch die weißen Vorhangrollen hinter allen Fenstern tief herabgelassen. Alle Thore waren noch geschlossen. Nirgends hörte man noch einen Wagen fahren. Aber der Pförtnerbursche der Santalatona, der biedere Joseph, war doch eben wieder in's Thor getreten, um am zugedrehten Flügel die Riegel festzuschieben nach Oben und Unten. Der hatte nun wohl gesehen, wie die beiden Rosen gefallen und die eine erhascht worden war.
Potz Tausend, was sollte das bedeuten! Mit weit offenem Maul starrte der Bursche dem Ulanen 212 nach. Dann bückte er sich zur Erde tief und nahm die liegen gebliebene Blume mit zwei vorsichtigen Fingern zu sich.
Bedächtig hielt Joseph die vielblätterige Dunkelrose unter seine Nase. Himmel, wie duftete sie süß! Ihm duftete sie nach unzähligen Trinkgeldern, wie sie eine Heirath im Hause Santalatona und ein junger, lebenslustiger, vornehmer Ehestand dem Pförtnerburschen eintragen mußten. Mit triumphirender Freude steckte der Knecht die Rose in's oberste Knopfloch seiner weiß und blau gestreiften Weste. Auch er hatte ein Geheimniß und es machte ihm viel Freude, weil es ihm viel angenehme Hoffnungen machte.
Ob die Rose mit ihrem Schicksal zufrieden war? wer weiß es! Aus einer schönen Hand, dicht vor den liebsten Mädchenlippen, war sie kopfüber jählings in den Staub gefallen. Ein dummer Junge, der nach Pferdedünger roch, hatte sie aufgehoben und trug sie dahin. Was sollte sie im Pferdestalle, wo doch ihr Duft verloren war? Die undankbaren Menschen! War sie es nicht gewesen, die im Fallen das magnetische Band des Erkennens zwischen den beiden Liebenden gezogen hatte? Ihr schuldeten sie die seligste Minute des ersten gegenseitigen Verständnisses. Und sie ließen sie gleichgültig auf dem Pflaster liegen, während eine nachgekommene Schwester, ein Surrogat ihrer Bedeutung, in der Hand des geliebten 213 Mannes ruhte, als Symbolum und Unterpfand, und aller Wahrscheinlichkeit nach zwischen den Blättern eines Lieblingsbuches, wenn nicht gar in einem für derlei Reliquien eigens geleerten Schatzkästlein für alle Ewigkeit aufbewahrt wurde. So sind die Menschen!
*
Waldemar von Waldenberg hielt die Rose auch noch ein Weilchen in der Hand und steckte nachdenklich tief die Nase in den vielblätterigen Kelch.
Ob nur die Nase, nicht auch die Lippen? Bei seiner schwerfälligen, nüchternen Art ist das letztere kaum zu glauben. Ob er sich aber auch jetzt noch für frei hielt, zu thun und zu lassen, was er wollte?
Er dachte wohl in diesem Augenblick nicht viel mehr an seine Junggesellenfreiheit, als an die arme Rose, die der Knecht im Knopfloch seiner Stalljacke davontrug. So sind die Menschen! 214