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(Zum 75. Stiftungsfeste der Loge »zur Brudertreue« in Sangerhausen.)
75 Jahre! Was ist in dieser Zeit Alles geschehen! Welche Umgestaltungen des Menschenlebens durch alle Entdeckungen und Erfindungen! Wie viel des Aufschwunges und der Begeisterung, auch für unsere Königliche Kunst; aber auch wie viel abfällige Urtheile von Solchen, die da meinen, dass die Freimaurerei sich überlebt habe und zu einer Spielerei herabgesunken sei, welche einen gebildeten Mann nicht mehr verlocken könne, ihr seine Kräfte dienstbar zu machen. Welches Urtheil andererseits von Denen, die da glauben, dass man nur kraft priesterlicher Privilegien »Gott dienen«, »Christum lieb haben« oder »human sein« könne –, wir erachten diese Dreiheit, in ihrem wahren Sinne, als ein Ganzes. – Wie hat man andererseits in diesem Zeitraume von Seiten der katholischen Kirche und der protestantischen Orthodoxie das Möglichste gethan, um unseren Bund zu vernichten, dem der Schutz und das kräftige Eintreten König Friedrich Wilhelms III. zur Seite ging. Aber auch diejenige wissenschaftliche Richtung, welche wir mit Materialismus bezeichnen, bedrohte unseren Bund, welcher von seinen Mitgliedern den Glauben an Gott und an die Unsterblichkeit der Seele fordert; denn der Materialismus kennt keine Seele, keinen Geist, keinen Gott; ihm ist der Stoff Anfang und Ende – das Ewige.
Es war in den fünfziger Jahren, als mir zum ersten Male das Buch eines Materialisten in die Hände kam. Der Verfasser war der Professor Burrmeister in Halle. Dies Buch war überaus klar, folgerichtig und höchst anziehend geschrieben. Ich las es mit dem höchsten Interesse; als ich fertig war, stand ich ganz erschrocken, denn Seele und Geist, Gott und Göttliches – es war mir gleichsam unter den Händen weggezogen worden. – Der Mensch war danach nichts als Stoff, alle seine Intelligenz nichts, als ein Erzeugniss der in dem Stoffe wirkenden Kräfte, Gott eine Chimäre; das Entstehen des Gottesglaubens, der Religion überhaupt den niedrigsten menschlichen Regungen, der Furcht und der Feigheit entsprossen. – Wenn auch bei ganz rohen Völkern ein Theil der religiösen Vorstellungen auf diese Weise entstanden sein mag, so strafen doch die Urvölker der geschichtlichen Menschheit diese Meinung Lügen. Schon in den ältesten Zeiten der indogermanischen Völkerfamilie, als es noch kein Sanskrit, noch lange keine griechische und lateinische Sprache gab, als alle Einzelvölker des heutigen Europa noch als Arier im Inneren Asiens auf dem Hochlande von Pamir, dem »Dache der Welt«, nördlich vom Hindukusch, brüderlich vereint bei einander sassen, da waltete schon der Vater Zeus über ihnen – und zwar keineswegs als ein von der Furcht und der Feigheit der Menschen eingebildeter Gott; denn von ihrer 15 000 Fuss über dem Meeresspiegel erhabenen Hochwarte aus sahen diese Völker tief zu ihren Füssen Stürme, Wolken und Gewitter durch die Thäler ziehen und über ihren Häuptern den blauen Himmel sich ausspannen in leuchtender Unendlichkeit. Dieser Anblick offenbarte ihnen ein allumfassendes, allwaltendes Wesen, wandellos, von Sturm und Wetterwolken unberührt; und sie nannten dieses Wesen Dyu patar, den leuchtenden Vater, den Himmelvater. Als in viel späterer Zeit dieses Urvolk auswanderte, ein Theil nach Süden in das indische Fünfstromland, die übrigen Theile westwärts nach Griechenland und Italien, da nahmen sie ihren Gott mit und nannten ihn beim alten Namen, die Griechen: Zeuspater, die Römer Ju-piter, Himmelvater, wie zuvor. Auch in den Urwäldern Germaniens bewahrten die dorthin Gewanderten die Erinnerung an den arischen Dyu; denn Tio, Ziu nannten sie den höchsten Himmelsgott, ehe noch Odin und Thor die oberste Stellung errungen hatten.
Bei keinem der Glieder der indogermanischen Völkerfamilie also ist dieser höchste Gott jemals ein Gott des Schreckens und der Furcht, sondern bei allen der Gott des leuchtenden, ausgespannten Himmels gewesen. Aber mehr und mehr tritt mit dem Wachsen der Cultur dieses göttliche Naturbild in den Hintergrund und wird vergeistigt. Bei den Römern vertritt Ju-piter den Staatsgedanken, bei den Griechen Zeus die sittliche Weltordnung.
Davon will die Weltweisheit der Materialisten freilich nichts wissen.
Allerdings hat der Materialismus auch Gutes in seinem Gefolge gehabt, und besonders hat er die Naturwissenschaften auf eine bedeutende Höhe gebracht. Diese Geistesrichtung ist es auch, welche in unendlich langer und mühsamer Arbeit die Hexen und Gespenster verscheuchte, des Menschen Herrschaft über Land und Meer begründete, im Buche der Natur die Entstehung der Erde und im Kreislaufe der Gestirne das Gesetz der Welten las. Aber bei allem Lichte wie viel Schatten! Wenn es mit dem Geiste, nach dem Materialismus, nichts ist – nun, »so lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir todt«! In der Genusssucht aber stirbt die Aufopferungsfähigkeit; in der Verfeinerung – die Kraft; in der Gier nach irdischen Gütern – der Aufschwung der Seele für das Ideale; in der Richtung nach aussen – der Reichthum im Inneren; im Egoismus – der Gemeingeist; in der Abgeschliffenheit – der Charakter; im Indifferentismus – die Begeisterung; in der Prosa – die Poesie; im Laster – die Tugend; in der Welt – die Religion!
Wir Freimaurer halten fest an Gott, an jener Wesenheit, in der alle Dinge leben, weben und sind. Hatte der Dampf geringere Kraft, ehe man entdeckte, welche gewaltige Macht ihm innewohnt? – Aber selig ist es, zu wissen, dass wir als Reben blühen am Weinstocke des Weltengeistes. Kraft dieses Wissens fühlen wir uns ewigen Lebens voll, gottbewusst, gottselig, ob auch die Form des Lebens bald zerbricht. Kraft dieses Wissens bilden wir uns nicht ein, Wahrheiten zu machen, sondern wir demüthigen uns unter die ewige Wahrheit und herrschen mit ihr, soweit unsere Erkenntniss derselben reicht; kraft dessen athmen wir den Hauch des Lebens, als Kraft der Liebe, selig aus und ein, wissend, dass darin der Ausdruck göttlicher Freiheit gegeben ist und nicht das Spiel eines flüchtigen Nervenreizes. Kraft dessen leben wir in Gott, und je mehr man in Gott lebt, desto mehr lebt er in uns. Da reifen die Früchte des Geistes in allerlei Gütigkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit! Mit der Uebung wächst die Kraft, mit der äusseren Trübsal steigt der innere Trost, mit dem Kampfe in der Welt wächst der Friede der Seele, mit dem Leide der Erde die Freude des Geistes!
Unser Gott ist die Quelle aller Weisheit, aller Stärke, aller Schönheit. Wir sehen ihn im Sternenreigen des Universums, wie in dem winzigen Wassertropfen mit seinem tausendfältigen Leben! wir sehen ihn im Sonnenball, wie im Blüthenstäubchen; aber am herrlichsten im Menschenantlitz, aus dessen Augen uns unmittelbar Geist von seinem Geiste entgegenschaut. Wir kennen nichts Schöneres! Wollen wir Engel darstellen, so müssen wir zum Menschengebilde unsere Zuflucht nehmen; denn Gott hat den Menschen zu seinem Bilde gemacht. Darum, weil unsere Königliche Kunst nach dem Höchsten strebt, hat sie das Menschenthum zum Ziele ihres Strebens, zum Gegenstande ihrer Arbeit gemacht. In diesem Menschenthum liegt unsere Stärke unseren Feinden gegenüber. Wir fragen nicht nach Amt und Würden, nach Glauben und Abstammung; wir sprechen mit Paulus: »Hier ist nicht Jude noch Grieche, nicht Knecht noch Freier, sie sind allzumal Einer in Christo«. Wer die Wahrheit liebt, der ist unser; wer Alles in Liebe thut, der bleibt unser. Das war und ist unser menschheitlicher Standpunkt, und weil wir ihn festhalten, alles Andere ihm unterordnend, so bleiben wir einig und stark und werden es bleiben auf diesem Felsen des bewussten Menschenthums.
Dabei schämen wir uns des Evangeliums nicht und sehen in Jesus unseren Meister und Führer zum Idealen, stellen uns immer wieder unter sein Kreuz, um in Verehrung zu bekennen: »Sehet, welch ein Mensch!« Das ist das Menschenthum, von dem unsere Schriften und Lieder zeugen und hoffentlich auch unser Aller Leben; das Menschenthum, zu dem Jesu Wort vom barmherzigen Samariter längst alle Welt hätte bekehren sollen.
Das wahre Menschenthum ist es, was wir erstreben; das Menschenthum, mühsam errungen in langen Culturperioden und doch gottgegeben in jeder Kindesseele; das Menschenthum, an dessen socialer Schwelle wir erst ahnend stehen und das wir doch voll und schön in eigener Brust tragen, in eigenem Leben verwirklichen können; das Menschenthum, dem der bessere Zug der allgemeinen Entwickelung längst folgt, indem er es mit dem fremden Namen »Humanität« bezeichnet; ja das Menschenthum nicht in Formeln und Lippengeplärre, sondern in reinem Gewissen und strebendem Geist; nicht in stolzer Selbstsucht, sondern in selbstverleugnender Hingebung, kurzum: das Menschenthum, das reine, volle, ganze, das ist unsere Stärke; auf diesem Wege, unverrückt dieses Ziel im Auge behaltend, werden wir siegen, denn wir gehen dann auf Gottes Wegen und Gottes Weg das ist der richtige Weg. Ein Jeder aber, und ginge er in tiefster Irre, vermag den richtigen Weg zu finden, falls er sich von diesem Menschenthum leiten lässt.
Dass wir den Weg, den Gott in den ewigen Gesetzen für Natur und Geist fest gezeichnet und bestimmt, immer besser auffinden, ihn selbst immer treuer wandeln, dass wir immer verständiger in den Fruchtboden unseres Herzens den rechten Samen streuen und uns zu dieser Gottesthat in den Logen in treuer Vereinigung erziehen, das ist das rechte Werk, das ist die wahre Cultur, und sie ist eben unsere Stärke! – Der Gott ist es, von dem Jesus sagte, dass weder Jerusalem noch Sichern ihm recht dieneten, aber dass eine Zeit kommen werde, wo man ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten werde.
Zu allen Zeiten gab es Hellsehende, die durch Schleier und Bilder hindurch das Ewige schauten; solche waren auch die Gründer der Freimaurerei, und diese sind Träger der menschheitlichen Cultur und ihrer Entfaltung. Je mehr die Nachwelt dies Erbe solcher Propheten aufnimmt und vermehrt weiter überliefert, desto mehr wird auf Erden Friede sein und die Menschen die Ehre der Gottheit werden.
So können wir denn sagen, der Freimaurerei und ihren Principien gehört die Zukunft!
Br. C. Wolff.