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Der höchste Maassstab.

Die Menschen regeln ihre Handlungen nach verschiedenen Maassen. Der eine bestimmt seine Wirksamkeit nur nach dem schnöden Mammon, nach der Höhe des finanziellen Gewinnes, der bei der Arbeit des Tages oder auch bei frevelhaftem Spiel der Nacht herausspringt. Der andere richtet sein Denken und Thun einzig nach dem nebelhaften Gesichtspunkt eitler Ehre, die ihn vorwärts treibt in den erbittertsten Kampf, die ihn veranlasst, weder den Bruder noch den Freund zu schonen, wenn er sich nur um so besser und bequemer behaupten kann. So soll es bei uns nicht sein. Nicht das sogenannte Glück, nicht die Befriedigung des Ehrgeizes, nicht die Behaglichkeit oder eine sonstige Form der Selbstsucht bilde das Maass unseres Handelns, sondern die uns in feierlicher Stunde übertragene Pflicht. An diesem Maass lasst uns streng und unerbittlich unser Thun messen!

Heilige Pflichten übernehmen wir an dem wichtigen Tage unserer Aufnahme, Pflichten, an die wir fast in jeder Arbeit, der wir uns in der Loge weihten, ernstlich erinnert wurden.

Es ist deine heilige Pflicht, den Gesetzen des Staates treu und gehorsam zu sein.

Es ist deine heilige Pflicht, deinen Brüdern nach dem Maass deiner Kräfte mit Rath und That beizustehen und das Beste deiner Loge zu fördern.

Es ist deine heilige Pflicht, dein gegebenes Wort treu zu halten.

Es ist deine heilige Pflicht, Liebe an allen Menschen zu üben, besonders an den nothleidenden.

Es ist deine heilige Pflicht, dich selbst zu erkennen in der Unvollkommenheit deines Wesens, um dich zur Vollkommenheit zu führen und das ideale Leben zu fördern in der Menschheit.

Um dich immer wieder an die gewissenhafte Ausübung all deiner Pflichten, die du in unserem Bruderbunde und draussen im Leben übernommen hast, zu mahnen, ist dir auf deiner Wanderung ein treuer Führer, ein Engel des Lichtes an die Seite gestellt, das Gewissen, ein Maassstab von hervorragender Bedeutung für dein Thun. Dein Gewissen weiss nicht nur um deine Pflichten, sondern auch um dein Verhalten zu denselben; es mahnt dich beständig, das Gute zu thun, das Böse aber zu meiden. »Ganz leise spricht ein Gott in unserer Brust, ganz leise, ganz vernehmlich, zeigt uns an, was zu ergreifen ist, und was zu flieh'n.« Früh schon entwickelte sich in dir das Gewissen, das sittliche Bewusstsein, früh schon im Elternhause, wo dich deine theure Mutter, die erste Priesterin der Sittlichkeit, auf das Wahre, Edle und Schöne hinwies und dein braver Vater dir das, was er als recht erkannt, verlebte. Die Schule, die ganze Umgebung, das spätere Leben mit seinen mannigfachen Anregungen traten hinzu, um dein sittliches Gefühl zu vertiefen und zu verschärfen. Folge nun, so ruft dir die Loge, deren Mitglied du geworden bist, eindringlich zu, in allem Vorhaben deinem Gewissen! Folge ihm, wenn es dich vom sündhaften Denken, Reden und Thun abhalten, folge ihm, wenn es dich auf den Pfad der Tugend und sittlichen Reinheit führen will!

Lass dich vom guten Engel warnen
Und nicht vom bösen dich umgarnen!

Lege den Maassstab deines Gewissens an deine Handlungen! –

Doch die Loge, und namentlich der Einheitsbund zeigt dir einen noch höheren Maassstab, den einen Reinen, das lichtvolle, himmlische Ideal, in dem die Fülle der Gottheit, die Fülle der Liebe, der Freude, des Friedens, der Milde und Sanftmuth, der Gerechtigkeit und Heiligkeit erschien, Jesus, das Heil der Welt. Gewiss ist es wahr, dass Jeder von jedem Menschen lernen kann, von dem einen Freundlichkeit und Leutseligkeit, von dem anderen Demuth und Bescheidenheit, von dem dritten tiefe Erkenntniss und praktische Auffassung des Lebens. Gewiss geht uns allen Johannes, unser Schutzpatron, in seiner Einfachheit und Selbstlosigkeit, in seiner Wahrheitsliebe und Freimütigkeit, in seiner Demuth und Gottesfurcht als ein leuchtendes Vorbild zur Nacheiferung voran. Gewiss ist aber auch ebenso wahr, dass du bei Johannes, wie bei jedem Menschen, mancherlei Mängel und Schwächen findest. Nur einer steht vollendet da, nur einer ist vollkommen, nur einer ganz rein, ganz makellos! Siehe, wie er alle Menschen liebt, und zwar bis zum Tode, wie er weint mit den Weinenden und sich freut mit den Fröhlichen, wie er Trost und Rettung den Armen und Kranken, Siechen und Sterbenden bringt! Siehe, wie er dem Kaiser giebt, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist! Siehe, wie sein Wesen aufs Innigste mit seinem himmlischen Vater vereint ist! »Ich und der Vater sind eins!« so lautet sein tiefsinniges Bekenntniss, das er durch sein Leben bestätigt hat. O vertiefe dich in dieses schönste Lebensbild und gewinne in ihm den höchsten Maassstab für dein religiös-sittliches Handeln und Thun!

Lege diesen Maassstab an dein gesammtes sittliches Wirken in deinem Beruf, in deiner Familie, in deiner Loge und in deinem Leben überhaupt! Erst in der Anwendung, in der Praxis gewinnt jeder Maassstab die ihm eigenthümliche Bedeutung, so verhält es sich auch mit unserem herrlichsten Vorbild, mit Jesus.

Unsere nächsten, unsere tagtäglichen Pflichten weisen uns auf unseren Beruf hin. Mein Beruf ist mein Stolz und meine Freude, sagt der wahre Freimaurer. Und in solcher Begeisterung für seinen Beruf steht er zu rechter Zeit an seinem Platze; in solcher Begeisterung lässt er keine Minute ungenutzt hingehen; in solcher Begeisterung übt er seinen Beruf so sorgfältig wie nur möglich aus und ist auf die Vervollkommnung Seiner Tüchtigkeit Tag für Tag bedacht. Treu und fleissig, ehrlich und zuverlässig, scharf und streng gegen sich selbst, freundlich und milde gegen seine Untergebenen wie gegen Jedermann – so erfüllt der Freimaurer seinen Beruf und wird in ihm reichlich gesegnet; hier findet er die Grundlagen seines äusseren Wohles und seiner inneren Befriedigung, hier findet er die starken Wurzeln seiner sittlichen Kraft. »Verlass dein Geschäft nicht, so wird dein Geschäft dich nicht verlassen!« sagt Franklin auf Grund reicher Lebenserfahrung. Als höchster Maassstab für des Freimaurers Gewissenhaftigkeit und Selbstlosigkeit, Treue und Aufopferung in der Ausübung seiner Berufspflichten steht vor uns der beste der Menschen, der gesagt: »Ich muss wirken, so lange es Tag ist; es kommt die Nacht, da Niemand wirken kann.« Er gab sein Leben für die Brüder.

Mein Bruder! Wie stehst du zu deinem Berufe? Suchst du ihn auszufüllen als ein Mann von gutem Ruf, als ein Mann, der sich nie die Verachtung seiner Brüder zuzieht? Hältst du dein gegebenes Wort, das lauter und rein wie Gold sein soll, wie uns geziemt? Folgst du deinem Gewissen mit Bezug auf Hab und Gut deines Nächsten? Diese und ähnliche Fragen beantworte dir selbst in der Stille und beherzige besonders folgende Wahrheit: Der ist kein rechter Mann, der ist kein rechter Freimaurer, der seinen Beruf gering schätzt oder vernachlässigt, der in Schlaffheit und Trägheit dahingeht, oder Vergnügungen und Lieblingsneigungen nachjagt. Mein Bruder, nimm dir in der Ausübung deines Berufes das lichte Ideal aller Kinder Gottes als Leitstern und Richtschnur!

Der Mensch kann, wie man wohl sagt, nie zu fleissig und jedenfalls nie zu treu sein. Das ist richtig, wenn es richtig verstanden wird. Wer die berufliche Arbeit als eine ruhelose Hetzjagd betreibt, wird über kurz oder lang seine Arbeitskraft, seine Arbeitsfreudigkeit und die Heiterkeit seiner Seele zerstören. Auch da gilt es, das rechte Maass an unsere Handlungen zu legen, d. h. nach gethaner Arbeit zu ruhen. Jesus zog nach erfülltem Tagewerke hinaus in die liebe Natur, betrachtete sinnend die Lilien in ihrer Pracht, die Vögel in ihrer Sorglosigkeit und Fröhlichkeit, das Getreide auf dem Felde u. s. f.; auch ging er »allein auf einen hohen Berg, um zu beten«. So wandere auch du nach des Tages Last und Hitze, sowie an Sonn- und Feiertagen hinaus in Gottes schöne Natur und vertiefe dich auch mit fröhlichem, dankbarem Sinn in ihre Herrlichkeit!

Die beste Erholung findet der rechte Mann ausser in Feld und Flur und Wald und in edlem Freundeskreise im Schoss seiner Familie. Mein Haus, meine Familie! O welche Seligkeit birgt doch dieses schlichte Wort in sich! Kehrst du heim aus dem »feindlichen Leben«, so begrüsst dich in deinem Haus mit liebendem Blick deine Gattin, die es so treu und gut mit dir meint; hier eilen dir frohbeglückt deine Kinder entgegen; hier hört aller Zwang, alle Künstelei auf; hier regiert die alles verklärende Liebe neben dem heiteren Humor; hier bin ich Mensch, hier kann ichs sein, d. h. ein freier, fröhlicher, guter Mensch. Hier ist mein Himmel schon auf Erden. Hier lässt der rechte Mann die Frau, die gerne Leid und Freud mit ihm theilt, an seinem inneren wie an seinem äusseren Leben theilnehmen; hier kümmert er sich um die Erziehung seiner Kinder, denen er in allen Stücken ein gutes Vorbild giebt; hier werden gemeinsam nach des Tages Arbeit geistbildende und herzerquickende Bücher gelesen, hier kommen Sang und Klang zu ihrem Rechte, hier findet auch der Genius der Kunst eine Heimstätte bereitet. Alle Glieder der Familie geniessen als ein Herz und eine Seele Gottes Gaben, tragen miteinander des Lebens Lasten, erfüllen miteinander des Hauses Pflichten, verbunden in der Liebe, die nicht das Ihre sucht und sich nicht erbittern lässt, die sanftmüthig ist und freundlich, die alles trägt, alles glaubt, alles hofft, alles duldet, verbunden in der Liebe zu dem himmlischen Vater.

Mein Bruder! So soll es sein; ist es auch so in deinem Hause? Bist du deinem Weibe das, was du ihr einst in ernster Stunde versprochen hast zu sein? Bist du ihr der liebende, treue, fürsorgliche Gatte und Freund? Sorgst du als ein treuer Vater für deine Kinder? Sehen sie in dir den weisen, wahrhaften, geliebten Führer ihrer Jugend? Auch diese Fragen beantworte dir selbst, indem du dich selbst vergleichst mit dem höchsten Maassstabe religiös-sittlichen Lebens! Vergiss nicht, dass nur der Liebe erntet, welcher Liebe säet! Vergiss nicht, dass es ohne Elternliebe keine Kindesliebe giebt, und dass dein Sohn nur dann dein Freund sein wird, wenn du ihm der rechte Vater gewesen bist! Noch eins! Man hört öfter die Klage, dass derselbe Mann, den die Welt als liebenswürdig und freundlich preist, daheim bei den Seinen ein Tyrann, ein harter, eigensinniger, unfreundlicher Mann sei. Solcher Vorwurf darf den Freimaurer nicht treffen! Kommt, lasst uns unseren Kindern, lasst uns unserem Hause leben! O lieb, so lang du lieben kannst! Lege den höchsten Maassstab auch an deine Handlungen in deinem Hause! –

Wir gehören in erster Linie unserer Familie und unserem Berufe an; in zweiter Linie sind wir indess auch Mitglieder der mancherlei Verbindungen und Kreise, in welche Gott jeden stellt, Mitglieder der Gemeinde, der Kirche, des Staates, der Menschheit. In diesen Gemeinschaften sind wir aufgewachsen, und was wir, die einzelnen, ihnen verdanken, – und das ist sehr viel –, das sollen sie von uns je nach Zeit und Kraft mit reichlichen Zinsen zurückerhalten. Ein rechter Freimaurer hilft, wo er nur kann; als guter Bürger nimmt er es mit den ihm auferlegten Pflichten treu und gewissenhaft und unterstützt die Obrigkeit in der Ausübung ihres verantwortungsreichen Amtes; als ein Freund der Armen und Nothleidenden hat er ein freundliches Wort und eine milde Gabe für die Bedürftigen, besucht er den kranken Bruder, sorgt er für seine Kinder; als wackerer Deutscher hält er in Treue zu seinem Volk, seinem Land, seinem Kaiser; als Christ giebt er Gott, was ihm gehört, das Herz, das Leben. Und das alles im Aufblicke zu dem, der auf diese Erde kam, nicht, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen, der sich der Elenden und Unglücklichen annahm, wie keiner vor ihm, der treueste Angehörige seines Volkes, der treueste Unterthan, das beste Kind Gottes.

Heil dem, der ihm nachfolgt! Heil dem, der allenthalben, in Haus und Beruf, Loge und Leben, nach ihm sich richtet und in seinem Geiste seine Pflichten zu erfüllen sucht! Den treuen Bruder begleiten die lichten Engel der Liebe, der Dankbarkeit und des Vertrauens auf seiner Wanderung durchs Leben. Ihn, den treuen Vater, segnen die Kinder, die ihn nie vergessen. Ihn segnet die geliebte Schwester, die sich allerwegen bemüht, ihm himmlische Rosen ins irdische Leben zu flechten. Ihn segnen die Armen und Verlassenen, die Witwen und Waisen, deren Noth er lindert. Ihn segnen die Brüder, die ihm darbringen Liebe um Liebe, Vertrauen um Vertrauen. Den schönsten Lohn aber findet er in seinem eigenen Herzen, in der Freude, die mit der rechten Pflichterfüllung verbunden ist, in dem Frieden, der jede gute That begleitet, in der Ruhe des Gemüths, die jedem sittlich-reinen Werk folgt; in ihm schweigt der Widerstreit zwischen Pflicht und Neigung, ihm wird das sittliche Gebot zum seligen Wollen, die sittliche Arbeit zum edelsten, reinsten und herrlichsten Genuss. Das ist die Freiheit der Kinder Gottes, die hier beginnt und in der Ewigkeit sich vollendet.

Drum lege, mein Bruder, den höchsten Maassstab an dein Denken, Reden und Thun!

Br. G. Schlott.


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