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(Zum Stiftungsfest.)
Stiftungsfest feiern wir heute, das fröhliche Wiegenfest unserer geliebten Bauhütte. Das giebt uns Anlass, dankbar rückwärts und vertrauensvoll vorwärts zu schauen. Zunächst rückwärts! Da hebt sich aus dem friedlich stillen Verlauf der jüngsten Geschichte unserer brüderlichen Vereinigung ein Ereigniss von weittragender Bedeutung hervor: Der von dem langjährigen, treuen und verdienstvollen Vorsitzenden unserer Loge gestellte und von unserer Meisterschaft einstimmig angenommene Antrag, Jesum, »das Vorbild eines hohen, in Gottes Wesen sich verklärenden und zu Gott empor ringenden freien Menschenthums«, das Ideal der Menschheit, als den Führer des Freimaurerthums zu verehren und ihm zum herrlichsten Sieg, zum Sieg des Lichtes über alle Finsterniss, zu folgen.
Dies der Antrag, der, wie schon bemerkt, ein Ereigniss von hervorragender Bedeutung in der Geschichte unserer Loge bildet; denn er gewährt unserem Streben nach religiös sittlicher Vollkommenheit das klarste Ziel, unserer Lehre den herrlichsten Inhalt, der deutschen Maurerwelt die längst ersehnte Einigung. Unsere Bauhütte, von der der Antrag ausgegangen, darf man schon um dessentwillen am heutigen Stiftungsfest herzlich beglückwünschen, wie nicht minder unseren Bruder Holtschmidt, der im Geiste echter Maurerei mit kühnem Muthe und edler Opferfreudigkeit begeisterungsvoll für denselben eintritt.
Doch wir schauen heute nicht bloss dankbar rückwärts, sondern auch hoffnungsfreudig vorwärts. Prophezeien ist zwar nicht unsere Sache, dennoch dürfen wir beim Blick in die Zukunft getrost behaupten: Uns leuchtet eine neue Sonne. Unsere Loge geht einer segensreichen Zeit entgegen, wenn sie mit wachsender Begeisterung dem reinsten Vorbild der Menschheit folgt. Versuchen wir es, uns in dieser hehren Feierstunde in sein reines Wesen zu versenken, damit sein hell leuchtendes Bild auf unserer Lebenswanderung unser verklärendes und beseligendes Vorbild werde! Wir nehmen dabei keinen Bezug auf unfruchtbare Lehrmeinungen und Lehrdifferenzen, sondern auf Gottes Wort, auf die Bibel.
Jesus, das Ideal der Menschheit,
Das reinste Vorbild der Freimaurer!
Unter wunderbaren Vorgängen, von denen unser Weihnachtsfest, das schönste deutsche Familienfest, mit seinem Lichterglanz wiederstrahlt, wurde Jesus in Bethlehem geboren, gesandt von Gott, auf dass alle, die sich ihm mit inniger Liebe hingeben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. In einem schlichten bürgerlichen Hause wuchs er auf, sorgsam behütet von einem treuen Elternpaare. Die Schrift, die er nach jüdischer Sitte frühzeitig kennen lernte, bildete die Nahrung seines Geistes, daran entwickelten sich seine Gedanken, daran bildete sich sein Fühlen und Wollen.
Zwölf Jahre alt, geht er, der Sitte des Landes gemäss, mit seinen Eltern aus dem Heimathsort hinauf nach Jerusalem in den Tempel und dort spricht er das tiefsinnige Wort: »Muss ich nicht sein in dem, das meines Vaters ist?« Er erkennt und fühlt an heiliger Stätte, dass er nur in seinem himmlischen Vater Frieden und Freude, wahres Leben und unvergängliche Seligkeit finden kann. Er lernt sich selbst verstehen, aber er schweigt. – Dann zieht er mit seinen Eltern von Jerusalem wieder hinab in seine Vaterstadt und erfüllt im trauten Elternhause in vorbildlicher Weise seine Kindespflichten. Er war seinen Eltern unterthan und nahm zu an Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.
In derselben Richtung, in der er sich als Kind, Knabe und Jüngling entwickelt, zeigt er sich als Mann. »Es gebührt uns«, so sagt er zu Johannes dem Täufer, »alle Gerechtigkeit zu erfüllen«. Ich will pflichttreu sein in jeder Beziehung – mit diesem heiligen Entschluss tritt er, 30 Jahr alt, auf als Lehrer und Prediger seines Volkes. Doch was sage ich! Er tritt auf nicht nur als seines Volkes Lehrer und Prediger, sondern als der Lehrer und Prediger aller Völker; seine Weisheit ist universaler Natur. »Es hat noch nie ein Mensch geredet, wie dieser Mensch«, so berichteten jene Diener dem hohen Rath in Jerusalem. Es sind seitdem fast zwei Jahrtausende über die Erde gegangen, und noch übt sein Wort die gleiche, die ewig frische Macht auf alle empfänglichen Gemüther aus, auch auf dein Gemüth, sobald du nur die Kraft seines Wortes auf dich wirken lässt. Verweile nur sinnend in stillen Feierstunden bei seinen wunderbar einfachen und doch so tiefsinnigen Erzählungen und Gleichnissen, die die Schale für einen köstlichen Kern, für die höchsten sittlichen und religiösen Wahrheiten bilden!
Nimm beispielsweise die musterhaft erzählte Geschichte von dem barmherzigen Samariter! Ein Mensch geht von Jerusalem hinab nach Jericho und fällt unter die Mörder; sie schlagen und berauben ihn und lassen ihn halb todt am Wege liegen. Wohlgemerkt, Jesus sagt: Ein Mensch war in Noth. Ob dieser Mensch ein Jude oder ein Heide, ob er reich oder arm war, darauf legt er kein Gewicht – ein Mensch war in Noth. Nun erscheint ein Priester, der das Gebot der Liebe wohl kannte, aber nicht übte; er sieht den Leidenden und geht vorüber. Ebenso ein Levit. Da kommt ein Samariter, der von den orthodoxen Juden verachtete Ungläubige; er sieht den nothleidenden Bruder, fühlt Mitleid mit ihm, geht hin zu ihm, verbindet seine Wunden und führt ihn in die Herberge. Dies in Kürze die Geschichte. So gehe hin und thue desgleichen! Mit dieser kurzen, aber bedeutsamen Mahnung schliesst Jesus seine Erzählung, die dann durch die Jahrhunderte klingt und unendlichen Segen stiftet.
Genau verhält es sich mit seinen einzelnen Worten, beispielsweise mit seinen Seligpreisungen, von denen jede einzelne einem kostbaren Edelstein gleicht.
Selig sind die Sanftmüthigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. So lautet eine dieser Seligpreisungen. Lasst uns dieses Wort ein wenig näher ansehen! Die Sanftmüthigen werden das Erdreich besitzen. Unsere Erfahrung scheint dem zu widersprechen; üben denn nicht die die grösste Gewalt über dich, die mit drohendem Zorn einherfahren? Mit nichten; du wendest dich vielmehr von solchen Leuten und befolgst die treffliche Weisung unseres M. Claudius: »Wo Zank und Streit ist, da gehe fürbass!« Nun werden aber zu dir sanftmüthige, freundliche, an deine Ueberzeugung sich richtende Worte geredet, beispielsweise von deinem teuren Weibe oder von einem deiner Brüder. Wurdest du nicht durch die Sanftmuth besiegt? Und so werden durch die Sanftmuth unsere Kinder, unsere Frauen, unsere Brüder gewonnen! Werde nur sanftmüthig, rede und handle nur mit Sanftmuth! Die Sanftmüthigen besitzen das Erdreich, wie Jesus, der von Herzen sanftmüthig und demüthig war, noch heute am allerbesten beweist. Als Napoleon in seiner Verbannung einst auf die grossen Männer der Vorzeit zu reden kam und sich mit ihnen verglich, sagte er zu einem seiner Begleiter: »Alexander, Cäsar, Karl der Grosse und ich haben grosse Reiche gegründet; aber worauf haben sich die Schöpfungen unseres Genies gestützt? Auf die Gewalt. Jesus allein hat sein Reich auf die Liebe gegründet, und heute noch würden Millionen Menschen für ihn sterben.« Selig sind die Sanftmüthigen, denn sie werden das Erdreich besitzen!
So redet Jesus von den höchsten sittlichen und religiösen Wahrheiten wie von den höchsten Aufgaben der Menschen, vom Reiche Gottes auf Erden, vom zukünftigen Leben der Menschen, von der Welt der Geister, von dem himmlischen Vater. Er giebt uns das befriedigendste Wissen; wer seine Wahrheit in sich aufgenommen hat – und ein jeder kann das, er sei gebildet oder ungebildet, jung oder alt – weiss mehr als Plato und ist weiser als Sokrates. Er giebt uns die reinste Ethik und die wahre, ursprüngliche Weltreligion: Du sollst Gott über alles lieben und deinen Nächsten gleich wie dich!
Wir gehen weiter. Wie Jesus lehrte, so lebte er. Sein Wort und sein Leben gewähren das schöne Bild vollkommener Harmonie. Während zwischen unserem Ideal und unserem Leben stets eine schmerzliche Differenz bestehen bleibt, decken sich bei ihm Ideal und Leben vollständig, er lehrt das Ideal und ist das Ideal, das Ideal der Menschheit.
Der Nachweis dafür lässt sich leicht erbringen. Er lehrt nicht bloss das Gleichniss vom barmherzigen Samariter, er ist der rechte Samariter selbst. Die Seele seiner gesammten Wirksamkeit ist seine heilende Liebe, seine Heilandsliebe. Wie ein rechter Kinderfreund nimmt er die Kleinen in seine Arme, drückt sie an sein Herz und giebt sie beglückt ihren Müttern wieder. – Er selbst gleicht jenem treuen Vater, der dem erst verlorenen, nun aber reuigen Sohn entgegeneilt, ihm um den Hals fällt, ihm alle Uebertretung vergiebt und ihm seine unendliche Güte zu Theil werden lässt, um ihn auf den Weg zum Frieden zurückzuführen. – Wo ihm Hungernde, Arme, Kranke, Blinde, Taubstumme, Verachtete und Verlassene begegnen, da eilt er sogleich zur Hilfe herbei. – Dort sieht er hinter einem Sarg, in dem ein Jüngling, ein einziger Sohn, liegt, eine von tiefem Weh gebeugte Mutter, eine Witwe zudem, deren Mann schon draussen im kühlen Grabe schlummert; da erfasst ihn herzliches Mitleid, er muss sie aufrichten und mit Hoffnung ihre verzagte Seele erfüllen. – Am Kreuze hängend, sieht er seine tief betrübte, arme, alte Mutter zu seinen Füssen stehen; treu bis zum Tode, sorgt er noch für sie und empfiehlt sie der Obhut seines Lieblingsjüngers Johannes. Ecce homo!
Genug, Jesus ist das erhabendste Vorbild für alle werkthätigen Freimaurer, alle Samariter, alle Specialpolitiker, alle Kinder Gottes; er will nicht bloss für kurze Zeit, sondern für immer, nicht nur von der äusseren, sondern vor allem von der inneren Noth helfen. Die Menschen zu einem neuen Leben, zu dem Leben in Gott zu erziehen, darauf richtet sich seine Heilandsliebe.
Noch ein zweites Beispiel mag die Uebereinstimmung seiner Lehre und seines Lebens beweisen! Jesus sagt: »Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen!« Nun sieh ihn daraufhin an und du wirst erkennen: Er hatte ein reines Herz und schaute darum Gott. Sein Herz war rein, in ihm wohnte die Keuschheit, die selbst einen unreinen Gedanken nicht aufkommen liess, geschweige ein schlüpfriges Wort oder eine unzüchtige That. In ihm wohnte die Milde, die der Verkleinerungssucht und Verleumdung zurief: »Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge und wirst des Balkens in deinem Auge nicht gewahr?« In ihm wohnte die Festigkeit und Kraft, die mit der Geissel in der Hand die Krämerseelen aus dem Gotteshause trieb, ihnen mit gerechtem Zorne nachrufend: »Mein Haus soll ein Bethaus sein!« In ihm wohnte ein unerschütterlicher Muth, ein Muth, der keine Halbheit, keine Menschenfurcht, keine Bedenken kannte, ein Muth, der sein überzeugungstreues Wort freimüthig und eindringlich verkündigte, ein Muth, der einer grossen Feindesschaar mit der hoheitsvollen Frage gegenübertreten konnte: »Wer unter euch kann mich einer Sünde zeihen?« In ihm wohnte die rechte Lebensfreude, die mit weitem Herzen, aber mit engem Gewissen dankbar Gottes Gaben annahm und genoss. In seinem Herzen wohnte Wahrheit, Gerechtigkeit und Heiligkeit. Die Heiligkeit bleibt der sittliche Charakter seiner Person. Seine Frage: »Wer unter euch kann mich einer Sünde zeihen?« vermögen selbst seine unversöhnlichsten Feinde nicht zu beantworten, sie bleibt auch heute noch ohne Antwort. Selig sind, die reines Herzens sind!
Weil sein Herz rein blieb, darum schaute er Gott, darum bestand zwischen ihm und Gott die innigste Übereinstimmung, die seligste Harmonie. Als Kind bezeugt er; »Ich muss sein in dem, das meines Vaters ist«, und als Mann bekennt er: »Ich und der Vater sind eins«. Seine Seele, sein Sinn und Denken, sein Reden und Lehren, sein Wirken und Schaffen war immer und ganz in dem, das seines Vaters war. Er stand in beständigem Gebetsverkehr mit seinem Vater, sein gesammtes Leben war ein Gebetsleben. Mit voller Ueberzeugung, ja mit heller Begeisterung verehren wir ihn daher »als das Vorbild eines hohen, in Gottes Wesen sich verklärenden und zu Gott emporringenden freien Menschenthums« (Br.·. Friedrich Holtschmidt), als das Ideal der Menschheit.
Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen! Nach dieser Loosung lebte er, nach ihr starb er. Nachdem er Allen in so reichem Maasse wohlgethan, ist er aus diesem Leben mit der Dornenkrone auf dem Haupt geschieden. Und wie geschieden! Was je der Hass Wehethuendes erfinden kann, das hat sich auf Golgatha vereinigt. Gross war seiner Feinde Hass, grösser seine Liebe. Er betet für seine Feinde: »Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!« Ueberwältigend ist seine Liebe, überwältigend auch seine Stille, seine Geduld, seine Ergebung in Gottes Willen. Mit dem Gebet: »Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!« stirbt er. Wer so stirbt, der stirbt wohl. –
Der Dichter sagt:
Vor jedem steht ein Bild des, das er werden soll,
So lang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll.
Vor uns steht das verklärte Bild Jesu, das Ideal der Menschheit, in seiner Liebe zu den Brüdern, in seiner Herzensreinheit, in seiner seligen Harmonie mit Gott. Wie er ist, so möchtest du sein. Nun, so entschliesse dich wie ein Mann, nimm ihn als dein Vorbild! Es wird von einem ernst gerichteten Bruder erzählt, er habe mit Vorliebe den Philosophen Fichte studirt, die Bibel aber wenig beachtet. Da findet er eines Tages in einem Werke des Gelehrten Johannes 7, 17 als Belegstelle erwähnt. Er schlägt in der Bibel nach, da steht: »Jesus sagt: So jemand will Gottes Willen thun, der wird inne werden, ob diese Lehre von Gott sei, oder ob ich von mir selbst lehre.« Das ist eine billige Forderung, sagt sich der Leser, ich will's probiren. Er vertieft sich darauf in die Bergpredigt (Math. 5-7) und sucht nach Jesu Lehre zu leben. Nach 14 Tagen fragt ihn seine Frau: »Wie kommt es nur, dass Du jetzt so ganz anders bist, wie vordem? Auch die Hausgenossen rühmen jetzt Deine Sanftmuth und Freundlichkeit, Deine Gewissenhaftigkeit und Treue.« – So probire auch du es mit unserem Menschheitsideal! Für uns ist ja die That so sehr bestimmend. So lass dich durch die That, durch dein Leben, den besten Probirstein, überzeugen, dass du in der treuen Nachfolge des besten der Menschen zufrieden und fröhlich, glücklich und selig, dass du ein Freimaurer in des Wortes schönster Bedeutung werden kannst!
Dir aber, geliebte Loge, rufe ich heute zu deinem Stiftungsfest die alte Braunschweigische Losung zu: Nunquam retrorsum! Nur nicht rückwärts! Du hast in treuem Suchen den rechten Führer zum Licht, zum Frieden und zur Seligkeit gefunden, du hast auf ihn mit heiliger Begeisterung hingewiesen, du bist auf dem rechten Wege zu dem höchsten Ziele. Nunquam retrorsum! Nur nicht wieder rückwärts! Vorwärts, ihm nach, dem reinsten Vorbild aller Menschen! Mit ihm wirst du den schönsten Sieg gewinnen, den Sieg über dich, den Sieg über diese vergängliche Welt, den Sieg in himmlischer Herrlichkeit! Nunquam retrorsum! Nur nicht rückwärts!
Br. G. Schlott.