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»Zeichen der Zeit« sind Merkmale, welche in der Entwicklungsgeschichte der Natur und der Menschheit bestimmte Epochen kenntlich, ja gewissermaassen lesbar machen, um daraus Schlüsse auf deren Ursprung und Wirkung und hierdurch auch auf das Kommende machen zu können. –
Jede Zeit steht auf allen ihr vorangegangenen Zeiten, sie erntet, was sie nicht gesäet hat; sie streut aber auch wiederum Samen aus, dessen Wachsen und Gedeihen sie nicht erlebt und dessen Ernte andere spätere Geschlechter einheimsen.
Kaum aber dürfte irgend ein vorangegangenes Zeitalter reichere Ernte gehabt haben, als das unsrige. Was Wissenschaft und Erfahrung in Jahrtausenden zusammengetragen haben, nimmt die Technik unserer Tage in ihren Dienst, um fast räthselhaft erscheinende Erfolge zu erringen. Zu keiner Zeit beherrschte der Mensch die Natur in dem Maasse, wie dies heute gelingt, und in keiner Zeit war wohl das Bestreben, das Räthsel Mensch zu entziffern, so erfolgreich als in der unsrigen.
Aus dieser Fülle von Macht und Erkenntniss erklärt sich unsere Zeit als Gegenwart und auch als Grundlage für die Zukunft, und auf diesem Boden erheben sich auch die Zeichen unserer Zeit.
Eines der Zeichen, welche in unserer Gegenwart besonders auffällig erscheinen, ist wohl das System der Geldwirthschaft an Stelle der Naturalwirthschaft.
Mit dem Beginne unserer Zeitrechnung langsam anfangend, hat die Geldwirthschaft eine Ausdehnung gewonnen, welche ihrem Höhepunkte entgegen zu gehen scheint.
Die alte Naturalwirthschaft endete damit, dass an Stelle der freien kleinen Grundbesitzer die Hörigen und Leibeigenen traten und die Latifundienbesitzer ihre Herrscher wurden.
Ganz dieselbe Erscheinung tritt uns heute in der Geldwirthschaft entgegen.
Die Anhäufung des beweglichen Capitals in den Händen verhältnissmässig Weniger steigert die Macht und Bedeutung dieser Besitzenden und erhöht den Einfluss derselben bei allen grossen wirtschaftlichen Unternehmungen. Der kleine unabhängige Unternehmer verschwindet mehr und mehr, wie einst der kleine unabhängige Grundbesitzer verschwunden ist, oder tritt in Abhängigkeit zum Gross-Capital.
Die Masse der Nichtbesitzenden aber sieht mit Neid und Zorn auf die Macht des Gross-Capitals, welches gewissermaassen die Gesetze ihrer Lebenshaltung vorschreibt und das um so mehr, je rücksichtsloser dasselbe seine Macht fühlbar macht und je auffallender die Lebenshaltung seiner Besitzer von jenen Nichtbesitzenden absticht.
So entwickelt sich zwischen Beiden ein Kampf, der bald still, bald offen geführt wird und nicht eher zu Ende geht, als bis vernünftige Mittel der Ausgleichung gefunden sind.
Wer könnte wohl dieses Zeichen der Zeit übersehen, da es uns überall entgegentritt?
Solche Zeichen der Zeit aber, welche uns die Schäden der Gesellschaft klarlegen, müssen uns Freimaurer ebenfalls beschäftigen, da wir uns die Glückseligkeit des Menschengeschlechtes zum Ideale gesetzt haben, denn bei aller Grösse unserer Zeit in technischer, wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Beziehung, treten aus dem vorhin Gesagten Erscheinungen auf, welche das Herz des Menschenfreundes bekümmern müssen.
Die Mehrzahl der Menschen glaubt für Geld alles erwerben zu können, was das Herz begehrt und die Sinne kitzelt. Geld also um jeden Preis; denn »wer Geld hat – hat die Welt«. Habe ich Geld genug, so sind auch äussere Ehren und Auszeichnungen, Einfluss und Ansehen mein und die seltensten Genüsse mir erlaubt, da ich mir alsdann gestatten darf, was Anderen versagt, oder gar verboten ist. Oeffnen sich doch auch die meisten Thüren durch einen goldenen Schlüssel und die Schenkungen, die ich an gemeinnützige oder wohlthätige Stiftungen mache, tragen meinen Namen hinaus durch die mir freundlich gesinnte, sogenannte öffentliche Meinung.
Nur Eines bleibt dabei unbeachtet, nämlich dass man das Wichtigste nicht zu kaufen vermag: wirkliche Ehre, wahrhaften Frieden, reine Genüsse, ein ruhiges Gewissen und ein gottergebenes Ende.
Es entstehen also auf Grund der grossen Capitalansammlung in den Händen Einzelner auf der einen Seite: Ueberfeinerung und Uebersättigung, auf der anderen: Begehrlichkeit und Unzufriedenheit; wie leicht aber vermögen Hass, Neid, Unzufriedenheit und wie sonst die dunklen, unter der Decke der Gesellschaft arbeitenden Mächte heissen, in Verbindung mit Habsucht, Herrschsucht und Bosheit, wenn sie vulkanisch hervorbrechen, die herrlichen Früchte einer tausendjährigen Cultur zu vernichten.
In der That ein trübes Bild, welches sich vor unserem Auge entrollt, wenn wir an eine derartige Möglichkeit denken.
An Beispielen von Zersetzungsprocessen auf solchen und verwandten Gebieten fehlt es in unserer Zeit nicht.
Giebt es aber nicht auch Lichtblicke? Sollten Jene wirklich Recht behalten, aus deren Munde nur düstere Prophezeiungen und heuchlerische Verwünschungen über das entartete Menschengeschlecht kommen?
Gott sei Dank, neben den tiefen Schatten fehlt auch das Licht nicht, welches dem Menschengeschlechte zur Seite steht und führend, mahnend und tröstend leuchtet – das Licht der Religion!
Es ist auch ein Zeichen der Zeit, dass die Confessionen an Kraft verlieren, – dagegen das Sittlich-Religiöse in den Vordergrund tritt.
Bekenntnisse (Confessionen) sind doch nur Formen, in welche der Glaubensinhalt von Menschen gegossen wurde.
Es giebt kein Bekenntniss, welches sich als Religion an sich ausgeben darf.
Fast alle Bekenntnisse sind nach der ersten Heldenzeit ihres Daseins in eine gewisse Erstarrung gefallen, ihrer Kraft im Laufe der Zeit verlustig gegangen, ja der Religion selbst entgegen getreten. Die Confessionen haben die Menschheit in feindliche Armeen gespalten und thun es heute noch.
Dem gegenüber hat uns der Meister von Nazareth nicht allein den Begriff des Bruderbundes gegeben, sondern uns auch die Wege gezeigt, welche zur Versöhnung und zum Frieden führen, wenn wir den guten Willen dazu haben.
Gerade in unserer Zeit besinnt sich die christliche Welt wieder auf den Hauptzweck der Lehre Jesu, auf dessen Ethik, welche die Menschen zur Menschheit verbinden soll. Ausserdem erhebt sich hinter den verblassenden Erkenntnissen in unvergänglichem Glanze das echte Gottesbild, welches durch mancherlei Glaubenssätze verhängt, oder wie Luther sagt »mit menschlichen Fündlein verunziert« worden ist.
Machtvoll durchzieht eine doppelte Bewegung die heutige Welt; einerseits strebt sie dahin, die Gottheit als die Vereinigung ewiger Weisheit, Stärke und Schönheit erscheinen zu lassen, und andererseits darzulegen, dass sie jedes Einzelnen volles beseligendes Eigenthum zu werden vermag und doch auch gleichzeitig der Mittelpunkt ist, um den die Menschheit zu sicherer Culturarbeit sich stellen kann und von dem aus Kraft, Glück und Frieden strömt.
Dieses Sichausleben in der Gottheit findet seinen versöhnenden und verbindenden Ausdruck in der Ethik, welche uns in vollster Reinheit, Erhabenheit, Fülle und Kraft Jesus von Nazareth allein gegeben hat.
Auf dieser Grundlage erhebt sich der Tempelbau der Humanität, in welcher das Schönmenschliche, von der Gottesidee durchgeistigt, thronen soll. –
Dieser Tempelbau gehört auch der Freimaurerei an, ja mehr noch, er ist die alleinige Aufgabe derselben. –
Welchen Weg dahin auch der Einzelne gehen mag, wenn er nur das Ziel erreicht und diejenigen mit sich führt, die mit ihm Gott suchen und Sein Reich. –
Gerade unter den vorhin geschilderten Zeichen der Zeit ist es die Aufgabe der Freimaurerei, diese Lehre Jesu auszubreiten und durch eigenes Vorbild zu verwirklichen, damit das Gottesreich der Wahrheit, Barmherzigkeit, des Trostes, der Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit, des Friedens, der Liebe, der Hoffnung in jedem Einzelnen stark werde und endlich die Menschheit als ein Ganzes umschliesse.
Br. J. Bertrand.