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Sanfter als eine Blume,
Härter als der Diamant.
Ich werde die folgenden Zeilen niederschreiben, wie die Erinnerung sie mir eingibt. Die spärlichen Stichworte, die ich niederschreiben konnte, während ich vor ihm saß, werden den Gang dieser Zeilen zu lenken suchen, aber ich werde keine Sorgfalt daran verwenden, wie ich diese Zeilen nacheinander aufs Papier bringe. Am liebsten schriebe ich sie gar nicht auf, sondern spräche alles vor mich hin, bei besonderen Gelegenheiten, im Kreise von Freunden, auserwählten Menschen, mit geschlossenen Augen, wie im Traum. Darum: wer Ohren hat, höre. –
Ein Bekannter in Bombay, der Kaufmann Trivedi, beförderte meinen Brief an die ihm bekannte, gegenwärtige Adresse des Mahatma, der seit Wochen das Gebiet Cutch an der Nordwestküste Indiens bereiste. Mahatma Gandhi fuhr dort, wie die Zeitungen berichteten, von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, weil das Volk dieser armen und verlassenen Gegend schon lange nach ihm verlangt hatte.
Am 2. November, einem Montag, brachte mir Herr Trivedi das Telegramm ins Hotel; es war im Ort Bhuj aufgegeben und lautete: »German friend can see me Sabarmati saturday 4 pm. Gandhi.«
In den folgenden Tagen blieb ich meist im Hotel, ich las das Buch Romain Rollands über Gandhi wieder, dieses Buch der Liebe und Andacht, das ein wunderbarer Mensch geschrieben hat und das mir seit einem Jahr bekannt war. Ich las es diesmal in der englischen Übersetzung von L.%nbsp;V. Ramaswami Aiyar, in einer von einem Verleger in Madras besorgten Ausgabe. Außerdem las ich eine Sammlung von Aufsätzen des Mahatma aus seiner Zeitschrift »Young India« wieder und zuletzt noch eine Reihe von Zeitungsausschnitten, die sich mit der Propagandareise des Mahatma durch den Cutch, das heißt mit der jüngsten Phase seiner Tätigkeit befaßten.
Rollands Buch schließt mit dem Märztag 1922, an dem der Mahatma seine mit sechs Jahren bemessene Strafe im Gefängnis von Sabarmati antrat. (Sabarmati ist ein kleiner Ort, fünf Meilen vor Ahmedabad gelegen; er ist nach dem breiten, meist ausgetrockneten Fluß benannt, an dessen Ufer auch die Aschram, das heißt der Wohnsitz und die Lehrgemeinde des Mahatma, sich befindet.)
Wie bekannt, wurde der Mahatma im Winter 1923 durch die Arbeiterregierung Englands, an deren Spitze Ramsay MacDonald stand, aus dem Gefängnis befreit. Er hat sich seither in seiner agitatorischen Tätigkeit mehr und mehr dem »konstruktiven« Teil seines Programms zugewandt, dessen Befolgung er seinen Anhängern als letzte Mahnung und Vermächtnis auftrug, ehe sich das Gefängnistor hinter ihm schloß. Dieser »konstruktive« Teil umfaßt:
Den »destruktiven«, besser gesagt – politisch-revolutionären Teil seines Programms –
Satyagraha, wörtlich: Streben nach Wahrheit, im speziellen Falle aber: Ablehnung des Zusammenarbeitens mit den Engländern, der englischen Regierung, durch stillen, gewaltlosen, passiven Widerstand bzw. aktives Opfer seiner selbst, Verweigerung des Eintritts in Regierungsstellen, in von Engländern geleitete oder beaufsichtigte Schulen und Universitäten, Verweigerung der Steuern –
hat Gandhi persönlich aufgegeben; er hat die Behandlung dieser wichtigen Materie der indischen Freiheitspartei, der Swaraj-Partei, überlassen, als deren Führer gegenwärtig, nach dem Tode C.R.Dass', der Pandit Mohillal Nehru gilt. Die Swaraj-Partei, von der noch die Rede sein wird, ist im ganzen bestrebt, die Lehren Gandhis unter der Devise: Swaraj durch Swadeschhi, das heißt Freiheit durch ökonomische Befreiung, womit auch die Rückkehr zur primitiven Bedürfnislosigkeit gemeint ist, durchzusetzen. Allerdings unterscheidet sie sich von dem ursprünglichen Vorsatz der Non-Cooperation wesentlich dadurch, daß sie ja wohl Zusammenarbeit mit den Engländern sucht, aber nur, um die Institutionen von innen zu zersprengen. (Ähnlich lautete das Programm Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs in bezug auf den Standpunkt der Spartakusgruppe gegenüber dem Reichstag, auf dem Gründungstag der Kommunistischen Partei Deutschlands, Dezember 1918 – bei welcher Gelegenheit diese beiden Führer von den orthodoxen Revolutionären der Gruppe überstimmt wurden.) Eigentlich hatte Gandhi die Non-Cooperation in ihrer schroffsten Form schon vor seiner Verurteilung aus taktischen Gründen aufgegeben; C. R. Dass hatte dann das Parteisystem dazu geschaffen.
Seit 1923 also befaßt sich Gandhi nicht mehr mit direkter politischer Arbeit. Doch seine ungeheure Gestalt wird jedesmal deutlich sichtbar, sobald eine wichtige und entscheidende Aktion, sei es in aufsteigender Linie, sei es in der Richtung des Nachgebens, Zurückweichens, des zeitlichen Kompromisses, notwendig wird. Da ist dieses Menschengewissen das lebendige Feuer des Glaubens, die läuternde Flamme, in der alles Zweifelhafte, Zweideutige, Falsche verbrennt.
Er selbst ist, wie jener andere Große, Lenin, es war, jederzeit bereit, der Notwendigkeit zu gehorchen. Wenn er in seinem Programm, das ganz auf Ahimsa, das heißt Gewaltlosigkeit beruht, die unmittelbare Gefahr radikaler, stummer Weigerung erkennt, ist er der erste, die Hand zu erheben, die die Weichensteller zur Umstellung der Richtung ermahnt. Lord Readings, des soeben abtretenden Vizekönigs, Vorgänger, Lord Chelmsford, war es, der dem Mahatma vorstellte: die Verweigerung der Steuern werde Indien in ein Schlachtfeld verwandeln. Aber vielleicht war, so versicherten mich Eingeweihte, die Erkenntnis wichtiger: daß die großen Textilindustriellen Indiens, die Spinnereibesitzer und Baumwollzüchter ihrerseits die Steuern ja wohl bezahlen würden und es in ihrer Macht stünde, die von ihnen abhängigen, armen Befolger der Lehre des Mahatmas einfach auszuhungern.
Sogar den Studenten, die auf sein Geheiß aus den Universitäten ausgetreten waren, gab der Mahatma den Rat, ihre Studien an den gleichen Anstalten wieder aufzunehmen, bis die Zeit reif sei.
Wann wird die Zeit reif sein? Sobald in Indien die Hindus mit den Mohammedanern sich zu einer kompakten nationalen Einheit zusammentun; diese beiden grundverschiedenen, physisch und geistig elementar divergierenden Energien und Intelligenzen. (Die Zeit ist ferne, versicherten mich gelehrte Hindus. Die Zeit ist nah, versicherten mich Politiker.) Sicherlich hat der Mahatma unter den Hindus und den sanften Jains die übergroße Zahl seiner Anhänger. Das Problem des Kalifats geht die Mohammedaner näher an; sie studieren noch Fragen des westlichen Asiens. Dafür aber muß Gandhi europäisch gebildeten und gerichteten Indern gegenüber seine Taktik nicht mehr ändern. Sie stehen unter dem Banne.
Ich sage meinen Freunden in Bombay, später in Ahmedabad, Benares und Kalkutta: ich kann das Zurückweichen eines praktischen Politikers (wie Lenin in Fragen der neuen ökonomischen Politik zum Beispiel) vor der Notwendigkeit gut verstehen, nicht so gut aber das Ausweichen eines religiösen Führers, Instrumentes einer höheren Macht, eines vom Glauben, überrationalen Gewalten Gelenkten, Beseelten, Besessenen! Darauf wird mir erwidert, daß er selber, wenn er von Sorge und Schmerz über die Gefahr, in die seine Lehre seine Anhänger bringen kann und bereits in vielen Fällen gebracht hat, bedrängt und zur Änderung seiner Direktiven entschlossen sei, von seinem selbst vorgezeichneten Weg kein Haar breit abweiche und die Kraft zu seinem eigenen Tun wie zum Lassen der anderen durch Askese, Gebet, übermenschliches Fasten zu erlangen suche.
Und tatsächlich schwebt dieser zarte, schwächliche Körper, diese überirdisch hell leuchtende Seele jede Sekunde lang ihres Verweilens in irdischen Bezirken in der Gefahr des Verlöschens, des Entrücktwerdens aus dem Bereich der Menschen, die er so tief liebt.
Ahimsa steht zwischen ihm und Lenin. Wenn dieser die Zögerer, die Kompromißler von Natur und Veranlagung, die »Menschewisten«, mit eisernem Besen aus den Reihen seiner Mitkämpfer fegte, so hat Gandhi für solche keine Waffe, nicht einmal die der schweigenden Verachtung. Seine einzige Waffe ist die, die er gegen sich selbst wendet. Und tatsächlich, die Spitze dieses Dolches zielt unablässig gegen das eigene Herz des am tiefsten Geliebten, von dreihundert Millionen Menschen abgöttisch Verehrten, den Gottähnlichsten unter den heute auf Erden Wandelnden, den Mahatma. –
Am Rande der Stadt Ahmedabad erhebt sich die Nationale Universität, in der nach den Lehren des Mahatma unterrichtet wird, in der der Mahatma selbst zuweilen zu den Studenten spricht. Und in der, in den Pausen des Unterrichts, die Scharka, das Spinnrad, und der Webstuhl die friedliche Waffe des weißen Tuches, des Kaddar, bereitet.
Die Unterrichtssprache ist der Guscheratdialekt, das Vernakular dieser Gegend, die vom Dekkan im Süden, Sindh im Norden und der Radschputana im Osten begrenzt ist (die alle ihre eigene Sprache haben). Die Schüler der Universität, etwa 150, stammen zum überwiegenden Teil aus dem Guscherat. Die Flagge des Mahatma weht vom Dach: Weiß-Grün-Rot: weiß die Verschmelzung aller Religionen Indiens, grün die mohammedanische, rot die der Hindus bedeutend. Das Symbol des hölzernen Spinnrades geht über alle drei horizontalen Felder. –
Mit meinem jungen Freund, dem Arzt Dr. Manohar Kawi, einem Jain, bin ich öfters in die Universität hinausgefahren und habe mit den jungen, europäisch gebildeten Professoren der Anstalt über diese eine und einzige Angelegenheit: die Persönlichkeit des Mahatma und sein Wirken in Indien, gesprochen. Vieles habe ich hier gehört, erfaßt und verstanden. Vieles ist im Schweigen, im Beisammensein mit diesen reinen und schönen Menschen von indischer Seele in meine beunruhigte, zerrissene, europäische herübergeflossen.
Am 7. November, noch eine Stunde vor der mit dem Mahatma verabredeten Zeit, war ich Gast der Universität. Auf dem siebensaitigen Settar, dann auf dem einer bosnischen Guzla ähnlichen Instrument Bin wurden mir von jungen Künstlern die klagenden, melancholisch immer wiederkehrenden, zuweilen sich zu stürmischem Pochen aufraffenden Rhythmen der Hindumusik vorgespielt, die, zumeist auffallender Weise auf einem einzigen Ton verweilend, die Melodie nur wie eine Fioritur über diesen spinnen, wie Wellengeriesel über ihn davoneilen, sich kräuseln, und die mich, seltsam, mehr an russische, ukrainische und polnische Bauernweisen erinnerten als an östliche, arabische, ägyptische oder in Palästina vernommene.
Ich mußte vor den Schülern auch sprechen, und ich sagte ihnen, was es für mich Europäer, für mich, der ich diesen 7. November, den Jahrestag der russischen Revolution, schon wiederholt in Rußland verlebt habe, bedeute, an der Schwelle dieser heiligen Stunde meines Lebens einen Augenblick verweilen zu dürfen. –
Punkt vier Uhr trat der Mahatma in den hohen kahlen Vorraum seines Hauses in Sabarmati ein, in dem ich mit Dr. Kawi auf einer Bank wartend saß, während zwei Schüler des Mahatma – sein Sekretär und ein junger Maler – auf Inderweise mit untergeschlagenen Beinen auf dem blauen Tuch hockten, das den Ziegelboden bedeckte. Eine weiße, dünne Matratze war vor einem ganz niedrigen Schreibpult ausgebreitet, auf dem Briefe, Telegramme, eine abgenutzte Schreibmappe aus Papier, eine Metallhülse und einige Bücher lagen. –
Der Mahatma kam aus der Stadt, in die er vor einer Stunde im Automobil gefahren war. – –
Gandhi ist ein mittelgroßer, schmächtiger Mann mit kleinem Kopf auf dünnem Halse. Der Körper ist jetzt infolge der anstrengenden Fahrt durch das Cutch-Gebiet besonders abgemagert. Gandhi trägt einen kurzen Lendenschurz aus weißer Leinwand, ist im übrigen vollkommen nackt. Der Oberkörper, tief braun, der Brustkorb mäßig gewölbt, mit dünnem, schwarzem Haarwuchs. Die Hände und Füße sind von etwas hellerer Färbung. Das Gesicht zeigt eine breite, abgeplattete Nase, die den kurzgeschnittenen Schnurrbart über den breiten, dünnen Lippen halb verdeckt. Die Kinnpartie ist klein im Vergleich zur oberen, voll entwickelten Hälfte des Gesichtes. Im Unterkiefer fehlen die mittleren Zähne. Die Stirn ist nicht auffallend, wie überhaupt an der ganzen Gestalt, an dem ganzen Gesicht, das nicht schön genannt werden kann, nichts Auffallendes zu bemerken ist. Die sehr großen, doch normal gebildeten Ohrmuscheln stehen weit vom Schädel ab. Die linke ist oben, nahe beim Rande, durchbohrt. Dort hat Gandhi als Kind den bei den Hindus üblichen Ohrring getragen. Das Haupthaar ist – bis auf die einzige lange Haarsträhne, die jedem gläubigen Hindu vom Hinterhaupt herabhängt – wegrasiert. Die Augen blicken sanft, schwarz in gelblichem Schimmer, fast in jugendlicher Frische, das ist das Charakteristische an der sonst so unauffälligen Erscheinung: ein jugendlich frisches Leuchten über dem Gesicht des Sechsundfünfzigjährigen. Seine Stimme ist angenehm, ohne sonoren Klang. Er spricht halblaut, in sehr gutem, gewähltem Englisch. Ein gütiges, oft naives Lächeln belebt das Gesicht, wobei die Zahnlücke zum Vorschein kommt. Wenn das Gespräch auf heitere Dinge kommt, ein herzliches, halblautes Lachen. Keine Zurückhaltung, ganz freies, ungezwungenes Wesen, ohne »Würde«; hie und da kleine, wie erläuternde, formende Bewegungen der Hände; Verlangsamen der Worte, sobald ich etwas aufschreibe; freundlich wartender Blick, vorgeneigter Kopf, wenn ich spreche.
Wir sprechen über eine Stunde lang. Mein Begleiter, die beiden Schüler des Mahatma auf dem Boden derweil ohne Regung, ohne Laut, wie erstarrt.
Die Briefe, Telegramme liegen unbeachtet da. – Nachher bedient sich Gandhi einer Hornbrille zum Lesen; beim Schreiben – mit der linken wie mit der rechten Hand – eines Füllfederhalters. Die ganze Zeit lang sitzt er mit untergeschlagenen Beinen hinter dem niedrigen Schreibpult auf der Matratze, sein Lendenschurz bedeckt den Unterleib vom Nabel bis an die Knie. Die Schüler tragen weiße Jacken, das weiße, um die Beine geschlungene Tuch, die weiße Kappe, die die Anhänger Gandhis in ganz Indien als solche kennzeichnet – es ist die Sträflingskappe, die der Mahatma im Gefängnis trug. –
Ich habe sofort nach seinem Eintreten, sofort nachdem wir uns die Hände gereicht haben, Kontakt mit ihm, obzwar eine ganze Weile vergeht, ehe ich zu sprechen imstamde bin.
Dies ist, was ich zu sagen habe: Die Völker Europas haben aus dem Kriege keine Lehre gezogen. Den Völkern Europas ist der Glaube abhanden gekommen. Sie glauben an nichts. Gott hat sie verlassen. Die Völker des Ostens, deren Leben durch die Religion bestimmt ist, sind durch den Krieg aufgewacht. Die Freiheitsbewegung von Marokko bis China ist Beweis. Es gibt in Europa wohl eine Bewegung, die eine religiöse Bewegung genannt werden kann: es ist der Kommunismus. Doch sie wird verkannt, mißdeutet, und zwar, was am schmerzlichsten zu beobachten ist, von den Leuten, die sich als die reinen Demokraten ausgeben, die aber an einem leeren, formalen, seelenlosen Begriff der »Demokratie« festhalten, im Kommunismus nur die Methode, die zu seiner Herbeiführung dienen soll, die Diktatur des Proletariats, zu erkennen behaupten und die, wie bei uns in Deutschland, wohl die Tatsache nicht leugnen, daß es eine von Proletariern geschaffene Revolution war, die die feudale Herrschaft des Kaisers umgestoßen hat, jetzt aber der Bewegung ein »Halt!« zurufen, weil sie sich den Genuß der Früchte dieser Revolution nicht gefährden wollen. Verzweiflung an dem Prinzip der Demokratie, an der Haltung des von der bürgerlichen Demokratie infizierten Sozialismus, an dem Pazifismus, der zu feig ist, zu Ende zu denken, das ist es, was den Europäer aus Europa treibt. Was soll man tun? Was soll geschehen?
Der Mahatma hat mir zugehört und sagt: »In Europa wartet jeder mit der Reform seiner eigenen Zustände, bis alle anderen bekehrt sind. Man will gern abrüsten, aber vorher sollen alle anderen abgerüstet haben. Keiner will es sein, der der Katze die Schelle umbindet. Ich glaube: ich selber muß mit Abrüstung beginnen, ehe ich es den anderen zumuten darf, daß sie ein gleiches tun. Dieser Tage erhielt ich aus Polen den Brief eines Professors, der mir schreibt: Meine Lehre (Gandhi sagt konseqent ›my preachings‹, meine Predigten) könne in Indien vielleicht befolgt werden, für Europa aber, wo jetzt jeder gegen jeden sei, sei sie unmöglich. Ich aber bin der Ansicht: ihre Anwendbarkeit für Europa, für die ganze Welt sei über jeden Zweifel erhaben.«
»Ihre Lehre«, bemerkte ich, »setzt wie die Lehre des primitiven Urchristentums günstige Bedingungen der Rasse, des Klimas, der Bedürfnisse voraus. Sie kann schwerlich in großem Maßstabe, von vielen Menschen befolgt werden, wenn diese Vorbedingungen fehlen. Der Hinduglaube, die Milde des Jain, seine Liebe zum Tier, die verminderten Bedürfnisse, durch die Gunst des tropischen Klimas bedingt: Nahrung, Kleidung, Behausung auf ein Minimum reduziert! – unser Norden dagegen fordert warme Kleidung, Fett für den frierenden Körper, ein Dach über dem Kopf – durch Vermehrung der Lebensnotwendigkeiten erhöhten Kampf ums Dasein ...«
»Ich glaube an absolute Einheitlichkeit der menschlichen Natur (»absolute identity of human nature«). Wenn in Europa Schwierigkeiten für die Befolgung der Gewaltlosigkeit bestehen, so sind sie gewiß nicht im Klima begründet: der Hindu ermangelt des Selbstvertrauens, daher das übermächtige Festhalten an seinem Glaubensbesitz (»devotional asset«); dasselbe kann man vom Europäer nicht sagen: der Europäer hat Selbstbewußtsein und kann daher die Doktrin (der Gewaltlosigkeit) bewußt befolgen. Was Europa fehlt, ist die lebendige Verkörperung (»living embodiment«) der Doktrin – ein Mensch, der sie in jeder kleinsten Einzelheit seines Lebens lebt.«
»Einen Menschen gab es«, sagte ich, »der eine für Europa anwendbare Doktrin auf diese Weise gelebt hat: Lenin. Heute, am 7. November, schwingt in Millionen junger, gläubiger Menschen der ganzen Welt die Begeisterung für seine Lehre und für sein Leben, das ebenfalls das Leben eines Armen, sich Offenbarenden, eines Befreiers war. Ich kenne Ihre Meinung, Mahatma, über den Bolschewismus ...«
»Können Sie mir sagen, was der Bolschewismus Gutes oder Großes geleistet hat?«
»Um nur eines zu nennen: im Südosten Rußlands gab es unter den Zaren die wildesten Religionsfehden zwischen den zersplitterten Völkerscharen – sie haben seit der Novemberrevolution aufgehört. – Die Kasten, die Klassen, die ›Untouchables‹ – jede bürgerliche Gesellschaft hat ihre ›Untouchables‹ – haben in Rußland aufgehört oder sind doch im Schwinden begriffen. Es ist das Werk Lenins ...«
Nun sagt der Mahatma etwas Seltsames: »Was ich predige, ist revolutionärer Evolutionismus. Die Lehre des Bolschewismus beruht auf Absolutismus. Aus Absolutismus aber führt kein Weg heraus. Das einzige Hindernis zur Erreichung meines Zieles liegt in mir selbst. Wenn es mir gelänge, das volle Maß von dem zu erreichen, was ich von mir fordere – ich würde nicht verzagen. Aber ich verzage ja auch nicht, obzwar ich das volle Maß nicht erreiche.«
»Wie wollen Sie dem Kapitalismus beikommen, dem Grund des Übels, ohne ihn gewaltsam zu zerstören? An ihm geht die Welt zugrunde. Ich sehe keine Methode.«
Nun gebraucht der Mahatma ein Gleichnis, das er, so glaube ich, öfter schon gebraucht haben muß, dem man in seinen Schriften begegnet (das vielleicht ein geheiligtes Symbol des Hinduglaubens ist), wenn von irgendeinem Bösen, einem Erbfeind der Menschennatur, dem Zerstörungswillen, der Mordsucht, dem Instinkt der Ausbeutung des Nächsten die Rede ist:
»Mein Glaube verbietet es mir, eine Schlange zu töten. Damit ist aber nicht gesagt, daß es mir verboten ist, zu erschrecken, wenn ich einer Schlange ansichtig werde. Ich werde mit ihr nicht spielen, sie nicht liebkosen (»I shall not hug the snake«), aber ich werde ihr das Vertrauen zu mir beibringen, daß ich ihr nichts zuleide tue, und sie wird mich verschonen. Dadurch, daß ich den Kapitalismus zerstöre, verändere ich nur seine zeitliche Form – sein Wesen aber kann ich zerstören, indem ich ihm keinen Widerstand entgegensetze.« (»By destroying Capitalism, I can only change his timely being. I can destroy his very substance by non-resistence.«)
Und nach einigem Nachdenken: »Das Böse nährt sich vom Guten. Aus sich selber hat es kein Leben.« (»Evil feeds upon good; by itself it has no life.«) »It requires adulteration of good!« Wörtlich übersetzt: »Man muß das Gute verfälschen« (etwa wie man ein Nährmittel fälscht) – um seinen Nährwert dem Bösen zu entziehen. –
Ich erwähne die Rote Armee, die ein Instrument gegen den Militarismus, gegen den eroberungssüchtigen Imperialismus der kapitalistischen Völker ist. Der Mahatma erwidert: »Ich kann das nicht einsehn. Kanonen vergrößern nur die Zahl der Kanonen. Sicher ist es, daß heute die auf Zerstörung bedachten Energien der Menschheit größer sind denn je – wenn aber ein Mann seine ganze Seele gegen diese Aktivität stemmt, so wird er diese Zeit zähmen!« (»Tame the time.«)
Ich erlaube mir nun eine Bemerkung in bezug auf den Rückzug des Mahatma von der Politik der Non-Cooperation, die ich seiner Sorge um das gefährdete Leben seiner Anhänger zuschreibe. Die traurigen, blutigen Ereignisse des Jahres 1921, erst in Assam, dann in Bardoli bei Bombay, zuletzt in Chauri-Chaura (die man in Rollands Gandhi-Biographie nachlesen mag), hatten ihn ja, wie es historisch feststeht, zur Aufgabe der Parole »Civil Disobedience«, Gehorsamverweigerung gegenüber den Behörden, bestimmt.
»There is no such thing as dying.«– »Leiblicher Tod ist kein Argument. Alles ist nur eine Frage der Zeit. Ich nähre den lebendigen Glauben an den endlichen Sieg der Non-Cooperation, obzwar so viele Anhänger dieser Doktrin heute Cooperators geworden sind, aus einem oder dem anderen Grunde. Als ich aus dem Gefängnis kam, sah ich ein, daß die Organisation einiger Landesteile zur Durchführung der Non-Cooperation nicht stichhielt; sie war erst zu schaffen (Gandhi meint hier moralische Organisation durch vorbildliche Menschen); wenn es aus nationalen Gründen eine Notwendigkeit war, die Non-Cooperation für eine Zeit aufzugeben, so hege ich die sichere Hoffnung, daß ich die Nation eines Tages mit der Idee der Non-Cooperation aufs neue infizieren (wörtlich!) werde.« In Wirklichkeit hat Gandhi, nach jenen Ereignissen 1921,durch den Rückruf der Parole »Civil Disobedience« seinen direkten Einfluß auf die ihm blind ergebenen Massen derartig geschwächt, daß die Regierung den Mut fand, ihm den Prozeß zu machen.
»Dasselbe hoffen die Bolschewisten, wenn sie erklären, daß sie im geeigneten Augenblick der neuen ökonomischen Politik den Hals umdrehen und den Kapitalismus aus Rußland definitiv verjagen werden.«
»Ein Geist, der von der Wahrheit erfüllt ist, darf das Unvermeidliche zugeben und muß sein Handeln auf das Endziel richten. Sie werden sehen«, sagt der Mahatma, »wie düster auch die Aussichten heute sind, eines Tages wird Europa von selber zur Ahimsa (Ablehnung der Gewalt) gelangen; es wird dorthin gestoßen, geschwemmt werden, wie es zur Satyagraha, der Ausscheidung des Bösen aus dem öffentlichen Leben der Völker, gestoßen werden wird. Die Völker müssen dahin gelangen, oder sie werden vernichtet werden, untergehn.«
(Hier ist in meinen Aufzeichnungen eine Lücke. Auch zum nachfolgenden fehlt der Übergang:
»Ein verhängnisvolles Verbrechen haben die Franzosen begangen, als sie im Kriege afrikanische Truppen verwendeten.« – –
»Ich halte mich für einen mangelhaften Vertreter meiner eigenen Doktrin.« –)
Es sind während unseres Gesprächs wiederholt Menschen in den Raum getreten, in dem wir sitzen. Der Mahatma aber unterbrach unser Gespräch nicht, so daß wir bald wieder allein gelassen wurden. Zuletzt war es eine Gruppe von Hindufrauen, die, wie erschrockene Schatten, sich lautlos an die Wand gedrückt hielten und dann mit einemmal fort waren. Ich hatte noch einige Fragen notiert und sagte dem Mahatma, da ich von seiner Ablehnung einer Einladung nach Amerika gehört hatte: welch unendliche Stärkung seine Idee unter den vielen Tausenden ernster und überzeugter Anhänger seiner Lehre in Europa durch sein persönliches Erscheinen erführe. Er erwiderte darauf:
»Ich könnte nach Europa nur kommen, wenn Indien meine Doktrin als Richtschnur seiner nationalen Politik angenommen hätte. Solange dies nicht der Fall ist, könnte eine Europareise nur meiner Eitelkeit schmeicheln.« (!!) »Überdies wäre durch meine Anwesenheit für Europa nichts erreicht. Das einzig Notwendige für Europa wäre: stünden dort Menschen von höchstem Intellekt auf, um tiefste Demut zu üben, und Menschen, die die Kunst des Mordens am besten beherrschen, um die mildeste Lehre zu verkünden und auszuüben!«
Ich wage die Behauptung, daß hierzu nur geringe Aussicht bestehe, daß aber dafür die Gefahr um so größer sei, daß sich eine Schar weichlicher, energieloser, dem sozialen Kampf untätig zuschauender Snobs mit dem Nimbus seiner Lehre schmücken würde, wie sie das mit der Lehre Buddhas getan habe ... da sehe ich den Mahatma zum erstenmal herzlich lachen. Er lacht fröhlich und lange, wie ein Kind, sagt dann ernst: » Ahmisa ohne Gefahr – Feigheit – das ist nicht der Sinn; – Opfer, das ist der Sinn.«
Und nun habe ich eine letzte Frage; ich frage den Mahatma, ob er mit dem Gebot des Schutzes der Kuh seinen Lehren die notwendige Verknüpfung mit religiösen Vorstellungen des Hinduglaubens geben wolle, mit anderen Worten: ob er damit die Verbundenheit seines Denkens und Wirkens mit dem Orient, ihre Lokalisierung auf Indien sozusagen zu unterstreichen suche?
»Nein«, antwortet der Mahatma, »dies ist nicht der Fall. Die Schonung der Kuh, die sich im Hinduglauben zur Vergöttlichung der Kuh steigert, gilt mir als Symbol! Siehe in einem folgenden Kapitel die Äußerung Rabindranath Tagores zu dieser Auffassung Jesus macht bei der Heiligkeit des Menschenlebens halt; der Hindu umfaßt mit dieser Vorstellung das Leben aller Kreaturen. Der Respekt vor dem Leben des nützlichsten Haustiers ist der Beginn der Schonung alles erschaffenen Lebens, des Lebens überhaupt.«
Da ich eine Weile schweige, sieht der Mahatma nach seinen Briefen und Telegrammen. Ich bitte ihn, er möge mir erlauben, daß ich noch eine Weile in diesem Räume sitzen bleibe. Er nickt mir mit freundlichem Lächeln zu. Der Sekretär steht auf, bringt ein Heft, Papier. Der Mahatma setzt seine Brille auf, legt die Mappe auf seine Knie, beginnt, langsam und mit zierlichen Schriftzeichen, einen Brief zu schreiben, indem er sich der linken Hand bedient.
Ich verständige mich leise mit Dr. Kawi, entnehme meiner Brieftasche einige Postkarten, Lichtdrucke mit Gandhis Bild, die ich in Ahmedabad auftreiben konnte, und wie der Mahatma mit Schreiben fertig ist, legt Dr. Kawi all diese Blätter aufs Pult vor ihn, trägt ihm meine Bitte vor: er möchte auf zwei dieser Blätter seinen Namen schreiben – ein Blatt für mein Buch, das zweite für den Klub der »Liga für Menschenrechte« in Berlin.
»Was ist das!« ruft der Mahatma aus. »Das sind ja Karikaturen!« Besonders eine Photographie, nach einer Zeichnung, die ihn als in sich versunkenen Yogi zeigt, erregt seine Heiterkeit. Er nimmt aus seiner Schreibmappe eine kleine Radierung heraus (der behende Kopf mit der Zahnlücke), sucht unter meinen Postkarten eine aus und setzte dann unter diesen beiden Blätter wie auch unter einen großen kolorierten Druck, den sein Schüler, der Maler, verfertigt hat, in Guscheratschrift seinen Namen: Mohamdas Gandhi, und das Datum, 7. XI. 1925. – Dann nehme ich Abschied.
Wieder halte ich die Hand dieses Menschen zwischen meinen Händen. Aus nächster Nähe begegnen sich unsere Blicke. Dann gehe ich. –
Der Raum neben dem Empfangszimmer ist die Küche. Die Frau des Mahatma kommt uns vom Herd, auf dem sie in einem Kupferkessel Tee gekocht hat, zur Tür entgegen, trocknet sich die Hände. In einer Pfanne brodelt eine weiße Flüssigkeit, Reisbrei. Ein kleines Kind steht beim Herd, sieht uns an.
Die Frau des Mahatma, Kasturibai, ist klein von Wuchs und so zart wie ein Kind, wie ein ganz junges Mädchen. Sie wurde ihm angetraut, als sie beide noch Kinder waren. Es ist, als wäre sie im Wachstum stehengeblieben. Sie ist in die rote Sari gekleidet, ein Tuch, das um ihren zierlichen Kinderkörper geschlungen ist. Sie faltet zum Gruß ihre kleinen, noch nassen Hände vor dem lächelnden Mund – das ist die unsagbar rührende Gebärde, mit der die Hindus sich begrüßen.
Dasselbe junge Aufflackern der leuchtenden Seele in ihren Augen wie in den seinen. Dieselbe unnennbare Süße in diesem alten Kindergesicht wie in dem des Menschen, den ich eben verlassen habe. Wir wechseln einige Worte. Ich frage sie, wie es um die Gesundheit des Mahatma stehe, nach den Aufregungen seiner Reise durch den Cutch. Sie dankt mir. Wofür? Für Freundlichkeit, gute Gesinnung – –.
Wir sprechen noch eine Weile.
Hinter den wie zum Gebet gefalteten kleinen Kinderhänden lächelt das holde Gesicht der alten Frau zum Abschied. Die leuchtenden braunen Augen im dunklen, lieblichen Antlitz strahlen Güte, Liebe.
Dann verlasse ich die heilige Stätte. –
Jünger des Mahatma zeigen mir die Aschram, einen Komplex ebenerdiger Häuser. Die Wohnhäuser der Familie, der Schüler. Auf einer Veranda indische Musikinstrumente, ein Bin, eine Art Harfe, Saiteninstrumente. Bei der Mauer sind Ställe, in denen Kühe stehen. Obstbäume, Baumwollstauden, ein Gemüsegarten mit einem alten Ziehbrunnen, Blumenpflanzungen reichen bis zur steilen Böschung des trockenen Flußbettes des Sabarmati. Wo der Garten sich zum Ufer neigt, drei abfallende, mit Ziegeln gepflasterte Terrassen. Hier hält der Mahatma mit seiner Familie, seinen Schülern, dem Hofgesinde die Morgenandacht.
In einem weiten, mit Stroh gedeckten, offenen Schuppenzimmer Arbeiter an Spinnrädern, der Scharka. In einer anderen sehr umfängreichen Scheune stehen sehr viele kleine Scharkas, aus Holz gebaut, wie kleine Windmühlenräder oder Schiffsschrauben in Spielzeugformat anzusehen, auch große Webstühle mit angefangenen Tüchern; alles steht still, es ist Feierabend.
Wie wir an dem Gebäude vorübergehen, in dem die ausländischen Schüler des Mahatma wohnen, tritt ein junger Chinese aus einer der Türen, ein sehr schöner, vornehmer Mensch, der schon lange hier wohnt, wie ich höre. Sonst sind noch Engländer da; ein Amerikaner; die Tochter eines englischen Admirals, die ständig in der Nähe des Mahatma leben will, ist vor einigen Tagen eingetroffen; eine junge französische Frau kommt mit einem Inder vom Garten her auf uns zu. Wir geraten ins Gespräch: Europa; die Schwere, die Unerträglichkeit des Lebens auf dem zerwühlten, von Lüge, Irrwahn, Gier und Ohnmacht besessenen Kontinent. Wo habe ich solche Augen, auf denen eine Seele in die Weite treibt, solche suchend ratlosen, durstigen Augen gesehen? Zuletzt in Adyar ...
Draußen, gegenüber dem Tor der Aschram, an der Landstraße, erhebt sich ein großer, unfertiger Bau. Hier wohnt die Mehrzahl der Schüler des Mahatma, die den Tag über in der Aschram arbeiten, etwa hundert.
Ein Trupp Hindus kommt uns entgegen, tritt in den Garten der Aschram ein, eine schweigende Schar. Es sind Männer, die von einem Begräbnis herkommen, zum Fluß hinuntersteigen wollen, um zu baden.
Mein Begleiter zeigt mir ein breites rotes Gebäude, einen Turm, plump und rot, der hinter Bäumen an einer Wendung der Landstraße sichtbar wird.
»Sabarmati Jail.«
Es ist das Gefängnis, in das der Mahatma gebracht wurde, an jenem Märztag. An der Landstraße lagen, die Stirnen in den Staub gedrückt, betende Menschen.
Eis steht da, dieses Gefängnis, wenige Schritte weit von Satyagraha Aschram, der Lieblingsstätte des Mahatma. –
Während wir, es dunkelt bereits, zur Universität zurückfahren, wo ich noch mit den Professoren beisammen sein will – die Straße ist uralt, verfallene Moscheen, eingestürzte Brunnen –, denke ich an das Schicksal des Menschen, den ich eben verlassen habe, dessen Blick mir noch in der Seele leuchtet.
Der Richter, der ihn zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt hat. Mr. Broomfield. Ein höflicher, etwas befangener Mensch, der sich mit traurigen Gesten, bedauernden Worten bei dem Angeklagten entschuldigte, darum, daß er ihn nun, leider, dem englischen Gesetz gehorchend, für die drei Delikte zu je zwei Jahren verurteilen müsse.
Mr. Broomfield. – Hätte er sein Amt hingeworfen, hätte er gesagt: »Ich will es nicht sein, Herr, ich nicht!« – sein Name wäre in die Unsterblichkeit eingegangen, wie der des Pontius Pilatus, der auch nur ein kleiner Beamter der damaligen größten imperialistischen Regierung war, aber sich im entscheidenden Augenblick die Hände wusch.
Mr. Broomfield. Nun, er trinkt gemächlich seinen Tee im Kreise seiner Familie, avanciert, seine Karriere ist gesichert, Gott hab ihn selig.
Doch gab's in ganz Indien keinen Eingeborenen, keinen Hindu, keinen Muselman, aber auch keinen Weißen, der ausrief, wie einst in jenem kleinen Land am Mittelländischen Meer:
»Wir wollen den Barrabam! Gib uns den Barrabam!!«
Keiner auch fand sich unter den Landsknechten, den khakifarbigen Söldnern des Heeres, der, wie in jenem hochzivilisierten Land Europas, in jener hochzivilisierten Stadt, aus der ich komme, in der sich vom Hotel »Eden« zum Landwehrkanal der Kurfürstendamm hinzieht, jenseits des Kanals aber der Tiergarten, den Apostel der Menschheit auf eigene Faust mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen hätte. Keiner.
Der Mahatma lebt.
Der Gedanke hat seine zeitliche Inkarnation nicht verlassen müssen.
Und auch an mein Leben denke ich, während wir stumm in die sinkende Sonne zurückfahren. Es ist begnadet vor vielen, dieses Leben, obzwar es einsam, nicht sehr froh, bedrängt und gequält ist von Kummer, mancherlei Wissen, unendlichem Zweifel.
Eine kleine, flackernde Flamme brennt hier innen, schwach und nicht vielen sichtbar. Aber sie brennt, hier innen. Und auch ein Wille brennt hier, nicht groß, überrannt, verdrängt oft von Gewaltigerem. Aber es ist der Wille.
Was bin ich denn, was sind wir? Winzige Fragmente, Partikel von jener Größe, Reinheit, Kraft und Ewigkeit, die ich herrlich und blendend, die Jahrtausende überstrahlend, an der Schwelle der Menschheitszukunft stehen sah, mit diesen meinen Augen stehen sah: den Harten und den Milden, die irdischen Verkörperungen Gottes, an den zu glauben ich nie aufgehört habe:
Wladimir Iljitsch Lenin,
Mahatma Mohandas Karamtschand Gandhi.