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Es ist nicht von heute, dieses Wort. Man ist ihm oft begegnet und erinnert sich seiner. Es sind wahrscheinlich schon Bücher über das Irrationale in seiner Verbindung mit den Schicksalen der Menschheit, der Nationen und des Einzel-Individuums geschrieben worden. Und in der Teufelsküche der Weltgeschichte steht gewiß von Anbeginn her eine Büchse mit diesem Ingrediens oder diese Würze auf dem verqualmten Bord. Man kann nicht sagen, daß die Speise, von der sich das Menschengeschlecht seit seinem Bestehen nährt, schmackhafter geworden sei durch diese Zutat.
Seit einiger Zeit begegnet man aber dem Worte und dem gefährlichen, dehnbaren, uferlosen Begriff, den das Wort nur ungenügend deckt, oft und öfter, ja schon allzu oft. Es wird zitiert, beschworen, als eine der Hauptkräfte der Weltgeschichte angesprochen. In dem Urteil eines sozialdemokratischen Politikers (dem der Begriff des geschichtlichen Materialismus doch bekannt sein dürfte) über das zeitgenössische Werk eines anderen Sozialdemokraten habe ich jüngst gar den Vorwurf gelesen: der Autor versage dem Irrationalen den ihm gebührenden Platz in den Äußerungen menschlichen Gemeinschafts- und Gesellschaftslebens!
Es ist nicht zu leugnen, daß uns Heutige, die eines der furchtbarsten Stücke der Weltgeschichte aller Zeiten miterleben, das Unvernünftige im Weltgeschehen näher angeht, als es die glücklicheren Menschen späterer Zeiten angehen wird, die von diesen Zeiten aus Büchern und Traktaten Kenntnis erhalten werden. Gerade darum müssen wir uns mit diesem Unvernünftigen, auf das wir in natura und in gedruckten Formeln immer wieder stoßen, eingehender beschäftigen, um uns, wenn auch nicht über den Begriff selbst, so doch über seine Bedeutung für unser eigenstes, persönlichstes Schicksal klarzuwerden.
Was ist das Unvernünftige? Sollen wir es uns aus den Vermächtnissen erlauchter Denker zusammensuchen? Das wäre ein langwieriges Verfahren, und das Ergebnis wäre Null. Denn jedes philosophische System rechnet mit einem anderen Irrationalen. Sollen wir's aus den Geschichtsbüchern herausdestillieren? Ich fürchte, man wird dabei Wesentlicheres über den Charakter des Geschichtsschreibers als über den Charakter der Weltereignisse, das bewußte und unbewußte Element, die Rolle des Vernunftgemäßen und des Unvernünftigen in der Weltgeschichte erfahren. Einfacher ist es, sich sein eigenes Leben daraufhin zu betrachten, wie auch das öffentliche Leben im näheren und weiteren Umkreis um das eigene herum; sowohl das Leben vor der Zeit des Krieges wie während der Kriegszeit. Man wird da Beispiele genug für Geschehnisse finden, für die es schwerfallen dürfte, eine vernunftgemäße Erklärung zu erlangen.
Wie kommt es zum Beispiel nur, daß der Wahrheitsapostel und Menschheitsfanatiker auf seine alten Tage zum Lügner wird und gerade vor jenen Leuten zu katzbuckeln anfängt, die er in seinen guten Tagen am heftigsten gehaßt und befehdet hat? Daß sich in der Zeit ärgster Not Machtzusammenrottungen unter denselben Voraussetzungen bilden, die zur gegenwärtigen Katastrophe geführt haben? Daß der Verleumder Freunde findet und der Aufrichtige beiseite geschoben wird? Daß der Redliche und infolge seiner Redlichkeit arm Gebliebene geringgeschätzt wird und der Spitzbube, dem die Hand locker auf dem Geldbeutel sitzt, wenn er seine Eitelkeit befriedigen will, angesehen ist und sich ausbreiten darf, statt unschädlich gemacht zu werden? Wir brauchen die Dimensionen des Widersinns, der in der Bewertung solcher Faktoren im privaten und öffentlichen Leben liegt, gar nicht zu vergrößern, um dem ungeheuren Begriff des Vernunftwidrigen irgendwie beizukommen. Beim näheren Betrachten unseres eigenen kleinsten Daseins und seines geringen Umkreises werden wir schon die Grenzen erkennen, die das Vernunftwidrige im Geschehen und in den Schicksalen der Menschheit umzäunen.
Das Unvernünftige in der Weltgeschichte hat eine bedeutsame Parallele in den Elementarkatastrophen, denen die Menschen von seiten der unbegriffenen Naturgewalten ausgesetzt sind. Auch das wird nie und nimmer in unser Gehirn hineingehen: daß unser eigenes Schicksal Erklärung und Rechtfertigung finden soll durch den Hinweis auf das Schicksal niederer Lebewesen; daß aus dem gleichen Grund, aus dem diese fressen und gefressen werden, wir Höchstentwickelten und mit dem höchsten Maß von Bewußtsein und Gewissen Begabten nun gleichfalls unseresgleichen fressen und von unseresgleichen gefressen werden sollen! (Wie wir schon beschaffen sind, werden wir indes das Irrationale sicherlich in den Unbegreiflichkeiten, die uns Schaden zufügen, emsiger suchen und auffinden als in denen, die uns fördern. Diese letzteren werden wir als uns von Rechts wegen zukommend, vernunftgemäß befinden – sollten sie auch tausendmal vernunftwidriger sein als jene, die uns in der Form von Unglücksfällen zustoßen.)
Unter »Zivilisation« mag man den fortschreitenden, erfolgreichen Kampf gegen das Unvernünftige verstehen, das uns von den Elementen her bedroht. Mit unserer Vernunft haben wir uns Schutz geschaffen vor der Gewalt der blinden Naturmächte, und in unserer Religion haben wir Schutz gegen das Unvernünftige gefunden, das in uns selber und in unseresgleichen mächtig ist und das uns und unseresgleichen bedroht. Die Übereinstimmung der Grundbegriffe von Gut und Böse in den bekannten Religionen der Erde beweist es ja, daß das Gewissen der Menschen in den verderblichen Elementen der Menschennatur das Unvernünftige erkannt hat. Das Unvernünftige also ist das, was wir in tausendjähriger Entwicklung bekämpft haben, immer mehr und mehr einzuschränken, immer weniger schädlich zu machen suchten.
Das Wort, das uns jetzt in den Berichten, Erörterungen und Betrachtungen über diese Zeit so oft begegnet, birgt, wie ich schon sagte, eine beträchtliche Gefahr in sich. Wer dem Unvernünftigen einen Platz im Weltgeschehen allzu willig einräumt, ist verdächtig. Mit diesem Wort kann ein Mißbrauch getrieben werden wie mit wenigen anderen, die uns über unsere Schicksale aufzuklären vermögen. Der Verdacht liegt nahe, daß sich der, der sich allzu willig auf das Unvernünftige im Weltgeschehen beruft, damit über unbequeme, peinliche und wohl auch den eigenen, privaten Zwecken hinderliche Feststellungen leichter Dinge hinwegsetzt. Es dürften sich auch in den Geschichtsbüchern vergangener Epochen nicht wenige Ereignisse finden, für die der Geschichtsschreiber keine andere Erklärung als das Unvernünftige gelten läßt und für die doch recht positive Kräfte und treibende Motive gefunden werden könnten, z. B. Übermut, Prahlsucht, leichtfertige Selbstüberhebung, Habgier auf der einen Seite, Gleichgültigkeit, träges Sichbescheiden und knechtisches Mitsichgeschehenlassen auf der anderen Seite. Das sind Elemente menschlichen Handelns, die sich hart an der Grenze des scheinbar Unvernünftigen bewegen und deren Konsistenz deutlich herüberschillert in den nebligen Bereich des Begriffes.
Dieses öftere Wiederkehren des Begriffes »das Unvernünftige« soll gehemmt und eingeschränkt werden. Das Unvernünftige ist, auf der trotz allem beträchtlich hohen Stufe, die die Zivilisation in den Zeiten der bewußten, friedlichen und ungefährdeten Entwicklung erreicht hat, kein unumgänglich notwendiger Bestandteil der Weltgeschichte mehr geblieben. War unsere Zivilisation nicht stark genug, dieses Element vollständig auszumerzen, war die Religion, das Gewissen des Menschengeschlechtes nicht stark genug, dieses neblige Gebiet vorzeitlicher, wilder und katastrophaler Dumpfheit zu durchdringen und aufzuhellen, dann muß die Zivilisation das nach dem Austoben des gegenwärtigen Rückfalles in einer hoffentlich besseren Zukunft besorgen. An dieser Aufgabe wird es sich erweisen, wie weit die Menschheit 2000 Jahre nach der Bergpredigt gediehen ist.
In seinem eigenen Leben muß sich jeder mit dem Irrationalen in seinem inneren Wesen und seinen äußeren Schicksalen auseinandersetzen und abfinden, wie er es eben vermag und solange es angeht. Auch muß jeder sein eigener Richter sein über das, was ihm als vernunftwidrig erscheint und wogegen er den Kampf aufzunehmen hat.
Aus dem Leben der Völker aber, aus dem Schicksal der Menschheit muß das Unvernünftige ausgetilgt werden; auf Nimmerwiedersehen aus den Geschichtsbüchern verschwinden, sollen diese die Chroniken des vorwärtsschreitenden Menschengeschlechtes sein und nicht die Behältnisse, in denen Entschuldigungsgründe und Präzedenzfälle aufbewahrt werden für Irrtümer und Katastrophen der Art, wie wir sie in dieser Zeit erleben.