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Wer hat es in den verflossenen Kriegsjahren nicht aussprechen gehört: Käme doch ein Apostel, der Gerechte und Heilige, der die Menschheit aus dieser Not und tiefen Schmach hinausführte ins Bessere, Höhere, in die wirkliche Freiheit! Der Schrei nach dem Heiligen ist an vielen Orten laut geworden, und auch solche haben ihn ausgestoßen, deren Sehnsucht nach Hohem und Heiligem eigentlich überraschen mußte, denen man eine Sehnsucht dieser Art gar nicht zugetraut hätte ... Aus Millionen geängstigter Seelen klang dieser Ruf nach dem Heiligen zusammen; wie würden die Menschen ihm danken, mit welcher Inbrunst seinen Spuren folgen, dahin stürzen den Weg entlang, den seine Füße vorwärts geschritten sind ...
Gewiß, die Sehnsucht nach dem Heiligen, dem reinen, liebenden Menschenbruder und Messias ist in der Welt, latent und offenbar, immer vorhanden gewesen, aber keine Zeit vermag sie zu solcher Macht zu erwecken wie eine, in der alles versagt und alle verzagen müssen. Es wäre irrig, wollte man annehmen, daß allein die Sehnsucht noch dem höheren Leben diesen Schrei nach dem Heiligen ausgelöst habe, das inbrünstige Gebet, er möchte aufstehen mitten unter den Menschen, damit sich alle um ihn erheben könnten. Auf dem Grund dieser Sehnsucht liegt der ewige, unausrottbare Wunsch der Menschen verborgen: Jemandem Gefolgschaft zu leisten, irgendeine Autorität willig anzuerkennen, sich für jemand begeistern zu dürfen, der eigenen Initiative und Anstrengung wieder einmal enthoben zu sein – es ist der ewige Herdentrieb der Menschen, der in diesem erhabenen Wunsche zutage tritt, diesmal nur mit dem Unterschied gegen den Alltag: daß die Menschen jetzt die Sehnsucht verspüren, statt ihren Verderbern nachzurennen, einem Auserwählten in die Höhe zu folgen.
Unter der Härte des Daseins haben nicht wenige schon in der Zeit vor dem Kriege unmäßig gelitten. Diesen hat der Krieg Prüfungen ungewöhnlicherer Art auferlegt, als sie jene Menschen zu ertragen hatten, die, mit der Welt und ihrem Lauf zufrieden, einst ihre behaglichen Tage dahingelebt haben. Durch die Dauer des Krieges haben sich ihre Leiden vervielfacht, ihre Prüfungen einen Grad erreicht, bei dem der Glaube an das Wunder und das Erhoffen des Wunderbaren als einziger Rettung sich auch des nüchternen Tatsachenmenschen bemächtigen kann. Das Weiterleben vieler Menschen nach dem Kriege muß darum eine Form annehmen, die mit ihrer Existenz vor dem Kriege wenig oder gar nichts mehr gemein hat. Wenn erst die unerhörte Spannung des Zustandes im Kriege nachläßt, erweist sich für sie die Notwendigkeit, eine Form für ihren Alltag zu finden, in der ihre vom Grund aufgewühlte Natur im Einvernehmen mit einem überwachen Gewissen vorwärts zu gehen vermag. Über die Möglichkeiten einer solchen Daseinsform wären einige Worte zu sagen.
Vor dem Kriege habe ich auf Reisen durch England und Nordamerika hier und dort Kolonien besucht, von Kolonien Kenntnis erhalten, mich über die innere Struktur von Kolonien belehren lassen, die sehr wohl als Beispiel dafür gelten können, wie ich mir die Daseinsform jener durch den Krieg im Innersten Getroffenen und Umgewandelten vorstelle. Natürlich scheiden aus dem Kreise der Betrachtung die Niederlassungen aus, in denen sich Menschen mit ganz ausgesprochenen Sonderideen zusammengefunden haben: Gemeinschaften wie die der Theosophen von Point Loma in Kalifornien, der Spiritisten am Südufer des Eriesees, der kommunistischen Urchristen in Delaware und bei Boston; ihm näher kommen schon die Anhänger Thoreaus in den Neuengland-Staaten, auch die in der Nähe von Brighton an der englischen Ostküste, deren Mitglieder vor dem Kriege die Ideen Tolstois in die Tat umzusetzen bestrebt waren. Auch wäre hier etwa noch die Kolonie Letchworth, die Gartenstadt an der Great Northern-Linie, eine Stunde Weges von London, zu nennen, obzwar die Bewohner dieser Niederlassung ihr Leben mehr nach ästhetischen Prinzipien eingerichtet hatten. (Ebenezer Howard, der Schöpfer der Gartenstadtbewegung, wohnte unter ihnen.) Eines hatten all diese Kolonien miteinander gemein, ebenso wie die Kommunen und Reservationen von Sektierern aller Art: sie hatten den politischen Gedanken aus ihrem Gemeinschaftsbewußtsein ausgeschaltet – schon mit Rücksicht auf den Staat, der ihnen seinen Schutz zugesichert hatte und in dessen Schatten sie ihre Ideen oft mit der Leidenschaftlichkeit von Monomanen betätigten. Ich denke aber hier an keine Kolonien mit ausgesprochen religiösen, sozialethischen oder utopischen Grundprinzipien oder Beweggründen für die Absonderung von der großen Allgemeinheit, sondern eher an eine Sekte der Menschlichkeit, deren Mitglieder einen innigeren Zusammenhang mit ihresgleichen zu erlangen wünschen, als er in dieser zerklüfteten Welt möglich ist.
Die Individuen, die sich unter solchen Gesichtspunkten von der Gesellschaft entfernen, werden es keineswegs nötig haben, außer Landes zu gehen, wie es religiöse Schwärmer und Utopisten vergangener Zeiten, die Ikarier, Quäker, Mennoniten und Duchoborzen getan haben, die auch den Traum einer besseren und gütigeren Welt träumten. Sie werden weder das Land verlassen, in dem sie leben, noch auch die Stadt, an die sie ihre äußeren Existenzbedingungen fesseln. Wohin sollten sie auch gehen? Nord und Süd, Ost und West, dieser ganze, in tausend Scherben zerschlagene Erdball ist heutigentags in Wahrheit verschmolzen in einer internationalen, grenzenlosen Solidarität des gemeinsamen Entsetzens.
Sie werden Cäsar geben, was Cäsars ist; was ihrer Seele not tut, hat mit den Befugnissen, Verboten, Bestimmungen und Verfügungen, die den Bürger treffen werden, nichts zu schaffen. Sie werden den weitergehenden Kampf jenen überlassen, die zu solchem Kampfe befähigt sind, wohl auch berufen – jenen, die zu solchem Kampfe noch den gehörigen Mut werden aufbringen können.
Unter keinem der üblichen Faktoren wird sich die Kristallisation um den Kern des inneren Zusammenhanges vollziehen. Es wird da nichts zu »verdienen« geben; es werden da Menschen sein und nicht »Beziehungen«; es wird keine Macht nach außen erstrebt werden noch zu erlangen sein; man wird nichts von alledem erringen wollen, was Menschen offen oder insgeheim anstreben und begehren, wenn sie sich bewußt zu einer besonderen Gemeinschaft, in einem besonders umzirkelten Glaubenssatz, einem ausgesprochenen Anderssein zusammenschließen. Mancher müdegekämpfte Krieger wird sich in der Mitte dieser Menschengruppen finden und mancher zum Denken erwachte Bürger. Mancher an der Welt endgültig irre Gewordene, manch einer, der sich diese verlorene Welt, den verlorengegangenen Glauben an den Mitmenschen wiedererobern will, damit seine Seele weiterleben könne.
Es müßte ja eine wunderbare Beruhigung sein, nach der Mühe und Not des Tagewerkes für Stunden, ja den Bruchteil von Stunden nur, friedlich und freundlich beisammen sein zu dürfen mit ernsten Menschen, die in solchem Beisammensein weiter nichts suchten als das Bewußtsein, daß andere Menschen da sind, vereint mit ihnen in derselben Gesinnung gegen den Mitmenschen. Je länger der Krieg dauerte, um so unabweisbarer hat sich für eine Kategorie von Menschen die Notwendigkeit erwiesen, fernab von den Versammlungsorten der politischen Parteien und Interessengemeinschaften, den verwüsteten Straßen und Vierteln, in denen die elende Unterhaltungsindustrie dieser Zeit ihr grelles Lager aufgeschlagen hatte, einen Platz zur ruhigen Sammlung zu finden. In gereinigter Atmosphäre sich zusammenfinden zu können – nicht um sich von der Anspannung zu erholen, sondern um sich gleich für eine bevorstehende Kräfteentfaltung vorzubereiten, zu organisieren, zu disziplinieren und zu stählen; nicht um sich zu zerstreuen, sondern um sich zu besinnen; um zu lernen, was nirgendwo gelehrt wird und doch nötiger zu wissen ist als alles, was Wort und Schrift den Menschen beizubringen suchen.
Hinter jedem, der Macht besitzt und entfaltet in der Gesellschaft der Gegenwart und wohl auch künftiger Zeiten, steht die Masse. Es kann das eine Menschenmasse sein und eine Masse Geldes. Hinter den Friedfertigen steht nichts als ihr Gewissen. Sie werden niemandem Gefolgschaft leisten, denn wer Gefolgschaft leistet, schließt sich, ob er will oder nicht will, doch nur der Macht an, hilft die Macht verstärken, liefert sein Gewissen bedingungslos und ohne Widerrede einem Mächtigeren aus, der nur in den seltensten Fällen Rücksicht auf das Einzelgewissen nimmt. Die Friedfertigen, die sich abseits und zu ihresgleichen begeben, werden damit den anderen aus dem Wege gehen. Sie werden sich vor der Berührung, ja vor dem Anblick jener flüchten, die durch den Krieg nichts gelernt haben oder die der Krieg allzu Handgreiflicheres gelehrt hat. Die Katastrophe dieses Weltunglückes hat in manchen Schwingungen, Erkenntnisse, Gelüste entfacht, die noch lange nachhallen und vorherrschen in den Zeiten des Friedens. Manche haben im Krieg erst ihr wahres Lebenselement gefunden, und die stehen zwischen denen, die geblutet haben, und denen, für die das Blut geflossen ist, mit dem Stahl in der Faust und dem Gold in der Tasche. Die die Macht besitzen, werden in künftigen Zeiten vermutlich ebenso in einem Doppelpanzer von Stahl und Gold dastehen müssen; ein Panzer wird ihre Glieder umgeben, vor dessen Gleißen mancher die Augen zudrücken und sich abseits begeben wird.
Der Krieg hat vielen eine Umwandlung ihrer innersten Daseinsbedingungen gebracht. Gewiß hegen diese den Wunsch nach einem Zusammenschluß mit Gleichgearteten. Nicht nur hier und dort versteckte Unzufriedene, Vergrämte, Einsame, auch solche, die in Gemeinschaften mitteninne stehen, tätig sind, die sie doch durchschauen und in tiefster Seele verwerfen. In der so oft und mit solcher Nachhaltigkeit ausgedrückten Sehnsucht nach dem Heiligen, der aus der Mitte der Menschheit aufstehen soll, gibt sich dieser Wunsch heiß kund. Während des Krieges ist in aller Stille bereits hier und dort eine und die andere Gemeinschaft zusammengetreten, haben sich Menschen gefunden, die gemeinsam ihres Weges weiterzuziehen gesonnen waren. Der Friede hat die Zahl dieser Gemeinschaften vervielfacht. Von ihnen wird eine die Welt durchstrahlende Wärme ausgehen, die Kraft und Macht, die man von dem so oft herbeigewünschten Heiligen erhofft hat, der nicht kommen mochte, weil sein Tag noch nicht erschienen ist.