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Vom Gewerkschaftshaus »Zur Eintracht«, in dem sich auch die Redaktion unseres Schweizer Bruderblattes »Kämpfer« befindet, steigt ein enges, schmales Gäßchen schräg den Berg hinauf. Große kahle Häuser, eng einander gegenüber, die Giebel berühren sich fast. Es sind Häuser, wie man sie in italienischen Hafenstädten antrifft. Armer Leute Häuser, man sieht es gleich. Das Viertel beherbergt Arbeiter, kleine Leute. Im schmalen Gäßchen ein dumpfes Geratter, Tag und Nacht – eine Wurstfabrik arbeitet dort und stößt den Lärm ihrer Maschinen gegen die engen Mauern; die Häuser erschüttern davon. Auf der Höhe des Anstieges öffnet sich plötzlich ein kleiner Platz. In einem ebenerdigen Hause hat ein Buchhändler seine alten, abgegriffenen Bücher ins Fenster gelegt, auf Tischen vor seiner Schwelle ausgekramt. Ein Student steht in der Tür und liest in einem aufgeschlagenen Schmöker. Hinter seinem Kopf hängt eine Papptafel an der Mauer. Ich lese die groß gemalten Buchstaben Karl Ma ... – Klassiker. Ich denke, es wird wohl Karl Marx heißen. Aber als der Lesende sich zum Büchertisch hinunterbeugt, sehe ich, es heißt Karl May. Gegenüber von diesem Häuschen blickt ein kahles, vier Stock hohes Gebäude auf den kleinen Platz nieder. Im Erdgeschoß ein Wirtshaus. Die Tafel besagt »Restaurant Zum Jakobsbrunnen«. Es ist Nr. 14 – Spiegelgasse Nr. 14 –. Hier also wohnte er.
Die kleine dunkle Treppe knarrt unter den Füßen, wie ich zum 2. Stockwerk hinaufgehe. Sie ist eng, schmal, scheint mir die Jakobsleiter aus dem Traumbild der Schrift. Im 2. Stock schelle ich an einer Glastür, es wird mir aufgetan, dann trete ich in das niedrige, weißgetäfelte Zimmer, in dem zwei riesige Betten fast den ganzen Raum wegnehmen. Sie lassen kaum Platz genug übrig, um zwischen Tür und Fenster auf und nieder zu gehen. In diesem Zimmer wohnte Lenin und seine Frau eineinhalb Jahre lang, 1916/17. Aus dieser engen Stube hinaus fuhr er durch das Schweizer Land, durch Deutschland, in versiegeltem Wagen, geradenwegs in das Ungeheure, das seit seiner Ankunft in Rußland die Welt überflutet hat. Es stehen nicht mehr die Möbel in diesem Raum, die Möbel von damals, und auch die gegenwärtigen Mieter sind nicht mehr dieselben, die Lenin seinerzeit beherbergt haben.
Die Sonne scheint in den weißen Raum. Er ist spiegelblank. Hier wohnte er. –
Schuster Kammerer, Lenins Hausherr, hat seinen Laden im anstoßenden Hause. Schuster Kammerer war in jenen Tagen Lenins Wirt. Er ist ein kleiner, still bescheidener Mann. Im Arbeitskittel, das rote Haar über die zerarbeitete Stirn gestrichen, sitzt er mit seinem Sohn im Laden und bessert einen Stiefel aus. Er ist mit seinen drei Söhnen Lenins Hausgenosse gewesen und hat an seinen Mieter freundliche Erinnerungen bewahrt. Ich befrage ihn über die Zeit, von der man eigentlich zu wenig weiß und deren sich die Weltgeschichte eines Tages doch erinnern wird, denn es sind nicht nur die großen, überwältigenden Geschehnisse, und auch nicht die inneren Dinge allein, die die Weltgeschichte aufbewahrt und die die Nachwelt angehen. Man kann von dem kleinen Flickschuster ebenfalls Dinge und Einzelheiten erfahren, die die Menschen in vielen hundert Jahren angehen und die sie vielleicht erzählen und wiederholen werden. Es sind oft gerade die geringfügigen, unwesentlichen Einzelheiten, die das Bild eines Lebens enthüllen und die ihr Teil dazu beitragen, einen Menschen zu erkennen, weil es menschliche Züge sind, die Größe verklären, nicht überschatten. Diese kleine Stube dort oben ist geheiligt durch Armut. Der kleine Flickschuster hat in seinen Wänden ein an Entbehrungen und Bedrückung reiches Leben beherbergt, das Leben eines unsterblichen Kämpfers für das an Entbehrungen reiche, bedrückte Proletariat.
»Genosse Lenin war sehr einfach in seiner Lebensführung«, erzählt Kammerer. »Er und die Genossin Lenin hielten nichts auf gute Kleidung und Essen. Im ganzen zahlten sie mir 28 Franken monatlich für Miete. Im Winter mußte ich ihm ein Paar schwere Bauernstiefel machen, die ich mit dicken Nägeln beschlug. ›Genosse Lenin, in diesen Stiefeln werden Sie aussehen wie ein Bauernsekretär‹, sagte ich ihm, aber er trug den ganzen Winter über dasselbe Paar. Die Genossin war längere Zeit krank, da gingen sie hier weg in die französische Schweiz. Als sie zurückkamen, warf ich meinen Mieter hinaus und nahm sie wieder in die Wohnung. Wir haben immer gute Kameradschaft gehalten, und so ist es auch geblieben. Waren Sie um die Ecke in der Parteibuchhandlung? Dort können Sie in einem Buch noch seine Unterschrift sehen. Jetzt wohnt er ja im Kreml. Wie sieht es dort aus? Er wohnt wohl jetzt in schönen, hohen Zimmern?«
Ich antworte: »Er arbeitet heute, wie er damals bei Ihnen gearbeitet hat, hier in der Spiegelgasse. In seinem äußeren Leben hat sich nicht viel geändert; er arbeitet.«
Beim Abschiednehmen frage ich den Schuster: »Haben Sie von dem Genossen Lenin seit 1917 etwas gehört?« Kammerer antwortet: »Nein, er hat mir nicht mehr geschrieben. Nur aus den Zeitungen habe ich erfahren, wie es ihm geht.«
»Nun auf Wiedersehen, Genosse Kammerer!«
»Auf Wiedersehen, Genosse.«
Ich sehe mir das Haus Nr. 14 noch einmal an. Gehe dann in den Laden zurück und frage den Schuster: »Was würden Sie sagen, wenn eines Tages unter dem Fenster im zweiten Stock eine Marmortafel oder eine Tafel aus Erz in die Mauer eingelassen würde?« Kammerer sieht mich an: »Eine Tafel? Zu welchem Zweck?« – »Zur Erinnerung, daß Lenin 1916/17 in diesem Hause, in dieser Stube gewohnt hat.« Der Schumacher und sein Sohn sehen sich an und brechen in ein Gelächter aus. Es will ihnen nicht in den Kopf, daß da eine Tafel in die Mauer eingelassen werden soll. Aber es wird kommen, das Erinnerungszeichen.
An ein großes Leben erinnern sich Jahrhunderte und Jahrtausende. In einem großen Leben gibt es nicht wichtige und unwichtige, nicht wesentliche und nicht unscheinbare Dinge. So wird die Erinnerung an dieses Haus weiterleben in den Herzen der Menschen, solange die Worte Freiheit, Recht und Menschheit nicht aus dem Gedächtnis der auf Erden Lebenden ausgestrichen sein werden.