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Es ist leider wieder Herbst

Die Zeit ist um, alle Züge sind zurückgekommen, alle Wohnungen sind wieder aufgesperrt, man hat sich für den Winter eingerichtet; ein neues Arbeitsjahr beginnt. Der Städter pflügt seinen Acker im Herbst, sät im Winter und erntet, wenn's was zu ernten gibt, im Frühjahr. Es ist jetzt an der Zeit, mit aufgekrempten Ärmeln an die Arbeit zu gehen, die ausgeruhten Muskeln anzuspannen! Da aber nur wenige Wochen verflossen sind zwischen dieser neuen Arbeit und der Arbeit, die wir im Frühjahr abgeschlossen haben, einige wenige Wochen der Ruhe, des Ausschnaufens, der Sammlung, so werden wir uns wahrscheinlich noch recht gut an unsere Gemütsverfassung zu Ende des letzten Arbeitsjahres, so um Mitte Juni herum, erinnern. Mit ein wenig Ehrlichkeit werden wir es uns gestehen dürfen, daß diese Gemütsverfassung nicht allein von der gesunden Müdigkeit nach getaner Arbeit bestimmt und getönt gewesen sei, sondern: daß wir gewissermaßen erleichtert aufgeatmet haben, im Bewußtsein, daß Gott sei Dank wieder eins von diesen verschobenen Ernte- und Arbeitsjahren überstanden sei und daß wir aus dem Geschrei in steinernen Straßen in die Stille der Wälder und der Dünen entlassen worden sind.

Wen nicht die Fülle der Zerstreuungen, die die kühler und kühler werdende Jahreszeit verspricht, in die Stadt zurücklockt, sondern Arbeit und Anstrengungen daheim erwarten, der wird sich, o ganz gewiß, an den bitteren Geschmack erinnern, der um die Zeit des Ferienbeginns seine Zunge belegt, seinen (seelischen) Gaumen ausgepicht hatte. Je intensiver einer heute, Anfang September 1913, an die Arbeitssumme denkt, die er bis Juli 1914 zu bewältigen haben wird, um so intensiver wird er sich wahrscheinlich an den Überdruß, die Müdigkeit, das bittere Genughaben erinnern, die wie ein Gift im Herzen und Sinn zu Ende Juni 1913 das letzte Arbeitsjahr in ihm hinterlassen hat.

Seine Sommererholung war vermutlich so beschaffen: die ersten zwei Wochen vergingen damit, dies Gift mittels der Bergluft oder der Seebrise aus sich herauszuspülen, die letzten zwei Wochen aber damit, seufzend und zähneknirschend ein Gegengift in sich hineinzupumpen, in der Ahnung, der Erkenntnis, das Resultat des bevorstehenden Jahres werde ja doch wieder eine ähnliche Vergiftung sein, wie sie das Ergebnis des verflossenen gewesen ist.

Es dürfte daher vielleicht an der Zeit sein, heute, Anfang September 1913, schon vorzubeugen; zu versuchen, ob man die kommenden Wintermonate nicht doch noch um einen Grad hygienischer verleben könnte, damit man ohne das erwähnte homöopathische Verfahren seiner nächsten Ferien, Sommer 1914, froher werde. Man wird guttun, heute schon über die Ursachen jener Vergiftungserscheinungen nachzudenken; vielleicht wird dann vom Sommer 1914 weniger für die Kur draufgehen und mehr reine und ungemischte Daseinsfreude in uns sich entwickeln.

Was einer auch schafft und treibt, sein Arbeitsjahr wird von denselben Quellen gespeist: von der Freude an der eigenen Arbeit, der Genugtuung über die Wirkung der eigenen Arbeit und von dem Respekt vor fremder Arbeit. Man sage nicht: zur Not könnte die dritte, zuletzt genannte Quelle verstopft sein und die beiden ersten würden genügen!

Eher könnte man noch die Wirkung der eigenen Arbeit missen. Es gibt Fälle, ich habe mir's sagen lassen, in denen ein arbeitender Mensch der Anerkennung entraten, ja sogar (wenn auch unter Herzleid und beträchtlichem Zusatz von Nervensubstanz) durch diesen Mangel nur noch fanatischer sich seinen Bestrebungen hingeben kann. Es ist aber keine ersprießliche Tätigkeit ohne Freude an fremdem Beginnen denkbar.

Wie wir am Ende dieses Arbeitsjahres dastehen werden, das hängt von dem Gleichgewicht jener Triebkräfte, die beide Zwillingskinder des Selbsterhaltungstriebes sind, ab – man kann, man hat das Zeug in sich, vorzusorgen, daß dieses Gleichgewicht hergestellt werde, man soll es beizeiten tun.

Konzentration ist ja alles. Konzentration ist das große Heilmittel, die zehn Gebote in einem, das Sesam, das die Pforte zum Glück öffnet. Nie wurde einem die Konzentration erschwert wie heutzutage. Die Welt posaunt, mindestens zweimal am Tage, ihren verworrenen, verwirrenden Schall in die luftdichteste Arbeitsstube hinein; wer könnte sich dem Schall der Welt verschließen? Sobald wir uns eingestanden haben, daß nicht in der passiven Beschaulichkeit, sondern gerade im Gegenteil: im Mittun der Wert des Lebens beschlossen ist – in der Förderung dessen, was man als das Gute und Wahre, in der Bekämpfung dessen, was man als schlecht und falsch erkannt hat – sobald wir uns dies eingestanden haben, müssen wir auch eine zielbewußte Sammlung all unserer Lebensenergien beginnen. Dann werden wir bald eingesehen haben, die Vergiftung zu Ende des letzten Arbeitsjahres sei einfach damit zu erklären, daß wir zu viel von unseren Lebensenergien vergeudet haben!

 

Ruft Euch doch einmal ins Gedächtnis zurück, welche Ereignisse Euch im verflossenen Arbeitsjahr in Eurer Arbeit, in Eurem Glauben an die Welt bestärkt haben, welche Euch von Eurer Arbeit abgelenkt und, statt Euch zur Tätigkeit anzuspornen, mutlos gemacht und bewirkt haben, daß Ihr einfach die Hände in den Schoß legtet: ich mache nicht mehr mit!

Ruft Euch ins Gedächtnis zurück, welcher Geschehnisse Zeugen und welcher Geschehnisse Narren Ihr wäret! Man nehme doch das große öffentliche Leben eines Jahres, wie es einem die Zeitung vermittelt, her und schreibe, wie in ein Kontobuch, auf zwei gegenüberliegende Seiten die Ereignisse ein, an denen Interesse zu nehmen man gezwungen war, an denen Interesse zu nehmen einem zugemutet wurde, von denen Kenntnis zu nehmen man nicht umhin konnte, weil sie mit dem ganzen ungeheuren Apparat der Publizistik vor uns aufmarschiert sind.

Man schreibe, was einen vorwärtsgebracht hat, auf die Kreditseite, was einen gehemmt hat auf den Wegen des Lebens, auf die Debetseite der Welt sozusagen, und man wird Wunderliches erleben.

Es soll dabei gar nicht von der Vergeudung fremder Energien an Dinge, die wir als falsch und schlecht erkannten, die Rede sein (denn dies schlüge ins Kapitel Weltschmerz), sondern von der systematischen Herabstimmung, die unser eigener Lebenstrieb angesichts der Weltereignisse erfährt. Von der Verzweiflung bis hinab zum Ärger, dem täglich in kleinen Portionen verabreichten Ärger, der sich am Ende vielleicht zu einer gewaltigeren Ziffer zusammensummiert haben wird, als die Verzweiflung vorstellt, die Verzweiflung angesichts der Dinge, die diese Regung verdienen. Ja, schalten wir besser gleich die großen Ursachen der Verzweiflung aus, den Krieg, die Politik, die wirtschaftlichen Probleme und bleiben wir beim Ärger, beim Ekel, der uns, ob wir wollen oder nicht, in kleinen Gaben alle Tage lang eingeflößt wird.

Wie können wir dem entgegenwirken?

Zu Beginn dieses Arbeitsjahres sollten wir uns vornehmen, vor allem das Bedürfnis nach Sensationellem aus uns hinauszuwerfen: das Interesse an dem Tun und Lassen bestimmter Personen, von ganz oben bis hinab ganz tief unten auf der untersten Sprosse der Leiter. Wir wissen, daß dies Tun und Lassen ja zum größten Teil nur durch die Trägheit der Masse und durch die schlechte Gier des Durchschnitts nach nichtsnutzigem Klatsch ermöglicht wird. Das ist kein schlechter Anfang. Zudem ist er hierzulande nicht schwer. Denn wenn man zusieht, mit welchen Nachrichten aus der »Gesellschaft« ernsthafte Blätter Englands, Frankreichs und Amerikas ihre Spalten vollstopfen, dann lernt man unsere deutschen Zeitungen loben.

Sind wir erst auf diesem Wege, so müssen wir lernen, das Wichtigere zu vollbringen: nämlich Geschehnisse zu ignorieren, die dem fundamentalen, verbrecherischen Widersinn unserer wirtschaftlichen Zusammenhänge ihr Dasein verdanken. Dies ist kein Quietismus, keine Erziehung zum Vogel Strauß, sondern ein Behelf der Notwehr. Es ist aber schon ein fortgeschrittener Jahrgang, dem man mit solcher Zumutung kommen darf.

Vorerst handelt es sich darum, uns aufzulehnen gegen die Zumutung, daß wir an den Eitelkeiten, den trüben Machenschaften, kurz, allen Äußerungen der Selbstüberhebung der unproduktiven Klassen – der Repräsentierenden, der Unternehmer, der Amüseure – teilnehmen, daß wir sie durch unser Interesse unterstützen und fördern vom September bis zum Juli.

Es ist uns gar nicht sehr schwer gemacht, unserem Bedürfnis, zu bewundern, anzuerkennen, aufzublicken, nach Herzenslust frönen zu dürfen. In dieser Stadt, in diesem Lande, in dem wir leben, wird so ernst, angestrengt und schwer gearbeitet wie kaum in einer zweiten Stadt, einem zweiten Land der Erde. Energien und Leben opfern sich für die größten Dinge – und für die notwendige Fülle der kleinsten –, von denen die Menschheit lebt und an denen sie sich vorwärts entwickelt.

In Laboratorien, Seziersälen, in Schreibstuben, Fabrikhallen, in Theatern, Redaktionen kann man Selbstaufgabe, Zukunftsglauben, ungenannte und wahrhaft namenlose Anstrengungen am Werke beobachten, die die Welt vorwärtsbringen. Diese Art von Arbeit ist es, auf die wir unser Interesse und unsere Sympathie konzentrieren sollen; der wir mit aller Kraft der Seele, die unsere eigene Arbeit in uns frei und übrig läßt, Zuspruch zollen müssen.

Dem Scharlatan in jeder Form, der durch seine prunkende Macht, seinen Zynismus, seine Eitelkeit zu verblüffen sucht, ihm muß der Boden weggezogen, der Schall vom Munde weggerissen werden. Gewiß sind ihm seine Taten und alle Äußerungen seines Instinkts in der Seele ebenso wichtig, wie dem Ernstesten sein Glaube, gewiß ist sein Trieb ebenso von seiner Natur bedingt, wie der Trieb, sich in der Stille zu opfern, dem Edelsten von seiner Natur in die Seele gepflanzt wurde. Und sicher ist es, daß ein Lebenswerk die breite Öffentlichkeit ebenso benötigt, wie ein anderes sie zu meiden und zu scheuen hat. Sicher aber ist der, von dem viel die Rede ist, noch lange nicht zu verwechseln mit dem, der viel von sich reden macht. Jeder, der arbeitet und nicht gestört werden will in seinem Tun, muß sich trainieren, zu sichten, zu sondern, an dem Flüchtigen ohne vieles Gefackel vorüberzugehen, vor dem Bleibenden zu verweilen. Die Arbeit der im wahren Sinne Arbeitenden ist es, auf die sich jeder, der Bescheid weiß, zu konzentrieren hat. Das Unernste, das Verwerfliche, die Mache, wenn noch so viel Geschrei um sie herum und aus ihnen heraus erschallt, wenn sie sich noch so interessant und spannend geben, sie sollen verachtet sein und bleiben. Auf solche Weise allein kann man Herz und Hirn rein erhalten, sein Arbeitsjahr erquicklich zu Ende leben, sich auf sein nächstes Arbeitsjahr einen Sommerurlaub lang freuen, statt vor ihm einen Sommerurlaub lang Grauen und Angst zu hegen.

September ist es wieder, schon erheben sich die wohlbekannten Stimmen schrill im Chor der Ereignisse! Nun die Ohren zugestopft und die Zähne zusammengebissen.


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