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Der Weg zur Zukunft

Ja, es läßt sich nicht leugnen: in manchem Menschen ist in diesen Kriegstagen der Wunsch laut, in die Zukunft zu flüchten, in eine sagenhafte, ferne Zukunft – und man kann nichts Besseres tun, als diesen Flüchtlingen aus dem zerstörten Heim der Gegenwart den Weg zu weisen, damit sie nicht irregehen und in den Wäldern der Verzweiflung umkommen müssen. Wie wird es in jener erträumten Zukunft aussehen, die wir fern von all den wirren Tatsachen und Spekulationen der Gegenwart mit den Bausteinen unserer übriggebliebenen Hoffnungen aufbauen möchten?

Welt und Menschheit befinden sich in einer steten, folgerichtigen Entwicklung, und Zeiten, wie diese gegenwärtigen, vermögen sie wohl zu hemmen, zurückzuwerfen, vernichten aber können sie sie keineswegs. Darum ist es das Einleuchtendste, auf die jüngste Vergangenheit, die vom Krieg jäh unterbrochene Epoche, zurückzugreifen, um ein Bild der Zukunft mit allen Zügen der Wahrscheinlichkeit gestalten zu können. Es ist gefährlich, sich hierbei auf seine eigene rein persönliche Anschauung zu verlassen. Es handelt sich ja darum, den breitesten Massen das Heim der Zukunft zu bereiten. Ihr Standpunkt und ihre Einschätzung der Vergangenheit müssen Maßstab und Anhaltspunkt bieten. Die Wenigen finden sich schon selbst zurecht.

Die jüngste Vergangenheit, der Zeitabschnitt vor dem Kriege, hat Lobpreiser und Tadler. Ja sogar Lobhudler und Verleumder. Es ist aber weder die Vergangenheit, die die Lobpreiser und die Lobhudler, noch die Vergangenheit, die die Tadler und die Verleumder meinen, nach deren Bild die Zukunft gestaltet werden soll.

Die Tadler der Vergangenheit lieben es, uns die wohlige Sicherheit vorzuwerfen, in der wir uns in der verflossenen Friedenszeit gewiegt haben. Diese Leute gefallen sich in der Wiederholung der Phrase vom »langen Frieden«, der als Rache für seine eigene Lebensdauer den Krieg hervorrufen mußte. Es ist erstaunlich, wie gedankenlos solche unsinnigen Redensarten von jung und alt nachgebetet werden! Als ob der Friede zu lange währen könnte! Als ob es einen wirklichen Frieden geben könnte, der mit Notwendigkeit seine Vernichtung im Schoß trüge! Hätten diese Leute recht, die Weltgeschichte würde nur Waffenstillstände kennen. Ja, ist denn der Frieden nicht der ursprüngliche Zustand, in dem das höher entwickelte Geschlecht der Menschen seine angemessene Daseinsform zu erblicken hat? Das einzige Argument, das gegen sein Erscheinen ins Treffen geführt werden kann, ist: daß wir sein Herannahen und seinen Triumph nicht eifrig und freudig genug vorbereitet haben. Wer den Frieden als ein Prinzip auffaßt, das, wenn auch nur zeitweilig, durch das Prinzip des Krieges vernichtet werden muß, verdient, daß sich das Schwert zu allererst gegen ihn selbst kehre. Vertraget euch miteinander, helfet einander, erweiset einander Vertrauen und Ehrerbietung – seid gut und gerecht – das ist das einzige Gebot, das der Menschheit bisher ihren Weg zur Vervollkommnung gewiesen hat, und wer die Weltgeschichte nicht mit der Nase auf dem Buchstaben, sondern in großem Zug zu lesen versteht, wird hinter all den Mäandern die gerade Linie dieses Urgesetzes und ersten, höchsten Gebotes verfolgen können. Sie wurde den Menschen von ihren edelsten Träumern und Lehrern vorgezeichnet und führt eisern und mit unbeirrbarer Beharrlichkeit zu der Höhe hinauf, auf der jene Gesetzgeber gestanden haben.

»Si vis pacem, para bellum« – auch eines jener Paradoxe, die, von den gefährlichsten Feinden der Menschheit geschmiedet, sich durch den fortgesetzten Gebrauch als ihr sicherster Schild bewährt haben. Es ist schon so: nur durch Frieden entsteht Frieden; friedfertige Gesinnung ist die beste Gewähr für dauernden Frieden; das fortgesetzte zielbewußte Denken an die Möglichkeit des Krieges aber muß ganz gewiß den Krieg herbeiführen. Erst wenn es gelungen sein wird, den Gedanken an die Notwendigkeit des Krieges aus dem Intellektleben und dem Instinktleben der Menschheit auszuschalten, wird sich der Frieden als die absolut naturgemäße Lebensatmosphäre der Menschheit und nicht als ein Stadium in dem Auf und Ab ihrer Entwicklungsgeschichte darstellen. Der Weg zu einem solchen Ziel mag noch lang sein, aber er ist vorgezeichnet und wird einmal gegangen werden.

Auch dieses Bild stammt von den Verleumdern der Vergangenheit: die Friedenszeit, die wir alle erlebt haben, sei ein großes stagnierendes Gewässer gewesen, das sich zu einem alles verpestenden Morast verwandelt hätte, wenn nicht plötzlich durch höhere Fügung Granaten und Schrapnelle hineingeflogen wären, die den trüben Tümpel von unterst zu oberst gekehrt haben. Den Lobhudlern der Vergangenheit kann man es vorwerfen, daß sie eben diesen Zustand der weichlichen Versunkenheit als etwas Kostbares, unwiederbringlich Verlorenes beweinen. Jawohl, in jener Zeit, auf die der Krieg folgte, war allerdings eine Lust an Plunder und Firlefanz, die Überschätzung von Belanglosigkeiten unverkennbar. Und mancher von uns hat sich aufgebäumt dagegen, daß allerhand Verrottetes ernst genommen werde, noch dazu im Namen der Kunst oder unter der Maske irgendwelcher ethischen Tendenzen! Es war also bereits damals ein wohlangewandter und energischer Widerstand gegen jene Auswüchse und Wucherungen vorhanden, und darum ist es albern, zu behaupten: daß der Krieg als Strafe kommen mußte oder um die Menschheit von dem Übel zu erlösen.

Ja, es war Kampf genug vorhanden, aber er war darauf gerichtet, die Atmosphäre zu säubern und den Lungen der Gegenwart, das heißt der Friedenszeit, gesunden Lebensstoff zuzuführen, der ihre Dauer gesichert hätte. Es war ein Kampf um wirtschaftliche und moralische Dinge, der die Schäden an ihrer Wurzel angriff, nicht bei ihren Auswüchsen packte. Auch in der Zukunft, die sich heute mancher Sehnsüchtige erträumt, wird es nicht ohne Kampf abgehen. Ja, der Kampf ist sogar ein wichtiger Bestandteil in dem Gebilde und Gebäude jener Zukunft, und unter den Bausteinen, aus denen wir es aufführen wollen, befinden sich etliche, die unsere Hoffnung mit Glut- und Blutfarben bemalt hat. Der Kampf jener Zukunft wird also derselbe sein, den der Krieg unterbrochen oder vereitelt hat, das ist sicher. Er wird der Kampf gegen Faktoren sein, die die Ideale des Friedens an ihrer Entfaltung gehindert haben.

Von Lobern wie Tadlern kann es der Klarsichtige in gleicher Weise erfahren, welcher Art die Faktoren und Elemente gewesen sind, von denen wir die Zukunft befreien müssen, so daß es sich in ihr zu leben lohnen soll. Jeder von uns hat solch einen Lober und Tadler in sich sitzen. Beide hat die Erfahrung der Kriegszeit gründlich auf den Mund geschlagen. Nun müssen wir unsere Natur daraufhin prüfen und durchforschen, was in ihr stichhält und was an ihr absurd geworden ist. Immer wieder müssen wir uns sagen, daß die Zeit, die wir erleben, keine Parallele in der Weltgeschichte besitzt; daß uns Leiden auferlegt sind, wie sie keiner Menschengeneration vor uns beschieden gewesen sind; daß auf uns heutigen Menschen darum eine schwerere Verantwortung lastet, als sie Menschen vergangener Zeiten auf ihren Schultern gefühlt haben.

Es muß ein jeder, der nicht resignierend die Hände in den Schoß legt und sich abseits begibt, die Arbeit an der Zukunft schon in dieser Stunde, mit diesem Atemzug und Herzschlag beginnen, und zwar an sich selber beginnen. In der Umwelt, den näheren und entfernteren Umkreisen der Gesellschaft, des Staates, der Menschenrassen wird so unendlich vieles zu erwirken, umzugestalten, zu erreichen sein, wenn eine Weltkatastrophe wie die gegenwärtige sich nie mehr wiederholen soll.

Deutlicher als je zeigt sich gegenwärtig in der Welt die Abwesenheit der Macht, die der Einzelne auf die Allgemeinheit auszuüben vermag; die Zerklüftung der Menschheit; das Hinhorchen nach verschiedenen Seiten der zersplitterten Gruppen; das finstere Mißtrauen, das ingrimmige eigensinnige Beharren auf dem eigenen Standpunkt. Es kann keiner in die Breite wirken, er stößt sich an Grenzen. Darum muß jeder bei sich selber beginnen. Das Haus der Zukunft kann nur von innen aufgebaut werden. Jeder hat schuld an dem Geschehen, das über alle hereingebrochen ist, sei es durch sein tätiges Mitwirken oder durch seine Passivität. Glauben wir nur nicht an Schuldige und Unschuldige – jeder trägt auf irgendeine Weise, sichtbar oder unsichtbar, die Schuld an dem Weltgeschehen. Ebenso ist jeder verantwortlich für die Zukunft, verantwortlich durch seine Hilfe und durch sein Abseitsstehen. Enger, als es sich Menschensinn auszudenken vermag, hängt von unserer Selbsteinkehr und Selbstschau, von der Erziehung jedes einzelnen Individuums dieser wach gewordenen, ernüchterten Menschheit die ganze geahnte, erträumte, hinter den fernsten Nebeln wartende Zukunft ab; die Zukunft der Tausende von Generationen nach uns, die ewiger Frieden heißen wird.


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