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Von Prag her fuhr durch die Waldeinöden des sächsischen Erzgebirges ein vornehmer Herr mit eigener Reisekutsche. Er wollte zur Nacht noch Dresden erreichen. Aber der Wagen sank immer tiefer in Schneewehen, kroch mühselig und wie hoffnungslos dahin. Der vornehme Herr war beunruhigt. Wald, undurchdringlicher Wald war um den Weg. Bald würde das letzte Licht des Februartages erloschen sein. Es sollte noch Wölfe im Erzgebirge geben. Wer hat Lust darauf, von Wölfen zerrissen zu werden? Der Kutscher ließ mutlos seine Peitsche sinken und gestand, man war nicht mehr auf der Straße nach Dresden. In dieser erbärmlichen und fluchwürdigen Lage ging Trost und Beruhigung aus von einer Gestalt, die in normaler Situation auf den vornehmen Herrn den Eindruck eines Landstreichers gemacht hätte. Worte vor sich her stoßend, mit den Armen gestikulierend, überholte ein mäßig großer, in unförmige Kleider gehüllter Mann das Gefährt.
»Wer Ihr auch seid, lieber Fremder,« rief der vornehme Herr, »sagt dem Kutscher den Weg zu Eurer Herberge und kommt zu mir in den Wagen.«
Der Wanderer stand still. Er wandte ein rundes, sorgenvolles Knabengesicht, in dem die Augen eines Niegestillten brannten, dem vornehmen Herrn zu und antwortete in kühlem, preußischem Akzent:
»Wer Ihr auch seid, Fremder, ich steige zu Euch. Es ist noch ein harter Weg ins alte Forsthaus, wo Ihr ein Nachtlager findet.«
Er trat zu den Pferden, streichelte sie auf eine sonderbar gute Weise, beschrieb dem Kutscher die Richtung, und bestieg dann den vornehmen Wagen.
An der Art einer Verbeugung und des Niedersitzens erkannte der Insasse, daß er sich keinen Landstreicher eingeladen. Er wechselte die Sprache und fragte auf französisch, mit wem er die Ehre habe.
»Mit einem Menschen, wie ich es von Ihnen hoffe. Darf man das Glück der Namenlosigkeit nicht für eine Stunde im wilden Wald bewahren?«
So kann nur ein Deutscher sprechen, dachte der vornehme Herr, und gewährte mit lässiger Handbewegung.
Als aber das Ziel erreicht war, und der Reisende sich bewußt wurde, daß er dem Fremden ein Dach überm Kopf und ein leidliches Bett verdankte, lud er ihn ein, doch mit ihm noch einen Trunk zu tun in der Kaminhalle dieses Forsthauses, das auch eine Herberge war.
»Unter dem Schutz der Namenlosigkeit können sich Menschen vielleicht die besten Dinge sagen«, warf er aufmunternd hin. »Es ist sonderbar: weiß von Ihnen jemand, wo Sie diese Nacht verbringen? Von mir weiß es keiner. Wir könnten beide tot sein – und niemand grämte dies, ehe ihm ein Bote die Nachricht brächte.«
In den Augen des jüngeren Mannes glomm ein Lächeln auf: »Ja, erst wenn der Bote die Nachricht bringt – dann glaubt man uns vielleicht, daß unsere Traurigkeit eine höhere, festgewurzelte und unheilbare war.«
Erschreckt, gefesselt sah der vornehme Herr auf. Wagten noch andere von unheilbaren Traurigkeiten zu reden? Sollte man auch dies letzte Lebensschicksal nicht einmalig besitzen?
»Sprechen Sie von der Trauer um Ihr Vaterland?« fragte er rasch, goß Wein aus der Flasche in zwei Gläser. »Sie wird keine unheilbare sein. Tun Sie mir Bescheid. Dies Glas –« Sekundenlange Pause.
»Der Königin«, sagte feierlich der andere.
Er nahm den roten Wein, wie man den Kelch nimmt. Dann fühlte er die laß werdende Hand umklammert.
»Was wissen Sie denn von der Königin? Haben Sie sie schon erblickt, seit sie aus Petersburg zurück ist? Man fürchtet für ihre Gesundheit. Großer Gott, ist es wahr, daß sie jung sterben soll?«
Der Namenlose sah ruhig in das Gesicht des Erregten. »Jung? Die Königin ist meines Alters. Ist man da noch jung? Sie hat Unsägliches erlitten. Sie hat eine wundervolle Entwicklung durchschritten.«
Der Namenlose umklammerte eine Stuhllehne, bog das Gesicht tief herab in den Feuerschein des Kamins: »Sie nehmen Anteil an der Königin, ich fühle es, Herr. Ich weiß manches von ihr, denn eine ihrer Freundinnen kenne ich gut.«
»Erzählen Sie«, drängte der andere.
»Nun, ihr Leben liegt offen vor der Welt. Außer der Königin ist sie eine preußische Offiziersfrau; was das heißt, weiß man zu Berlin und Potsdam. Es ist nichts Leichtes, bei Gott nicht, wenn man preußischen Offiziersgehorsam mit Phantasie, mit Blumenleichtigkeit, mit ein wenig Verschwendungssucht und Lebenslust und dem unstillbaren Drang nach Expansion vereinigen soll. Tragödie genug für ein Leben. Aber« – der Namenlose lächelte zart – »die Königin wurde zum tapferen Menschen. Sie hat eine schönste Menschlichkeit als Mitgift der Natur bekommen: das weiche Gemüt und Vogelgrazie. Eine Schwalbe möchte man sie nennen. Wandervogel war sie vielleicht von Natur. Ein süddeutsches Herz, immer bereit, sich auszuströmen, und mit einer ewigen Kraft, zu lieben, wo andere nur karg zustimmen. Wann ihre Stunde war, da sie einsah, sie könne nicht nur ein Naturwesen bleiben, weiß ich nicht. Vielleicht, als Louis Ferdinand vor ihr erblaßte, sie durch ihn eine Ahnung des Geistigen empfing. Sie hat sich über sich selbst erhoben. Sie hat um das Große gerungen. Sie hat, und dies ist viel, das Sentimentale, das Weinerliche selbst und die Dutzendmoral, mit der sie behaftet gewesen, in sich besiegt. Und zwar mit anscheinend ganz unzulänglichen geistigen Mitteln. Auf sie paßt das Wort, das Schillers Witwe über den Charakter ihres großen Toten sagte: Sein Beispiel lehrt, wieviel der Mensch über sich vermag. Es ist wundervoll, daß diese Frau – zum Menschen erstanden durch die Kraft des Gemüts – infolge ihres Königinnenschicksals vor aller Augen gerückt wird. Ihr Weg der Selbsterziehung war kostbar, ihr Weg der Läuterung wird zum Symbol eines Volkes. Sie fragten vorhin, ob sie jung sterben soll? Wir glühen in dem Wunsch, sie möchte Deutschlands Befreiung erleben. Vielleicht bringt sie die Jahre hin. Sie war oft krank. Sie hat überstanden, was vieler Menschen Tod gewesen wäre. Aber was sind Jahre? Vielleicht fühlt ihr Herz schon die schauernde Frage: Wann, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein –?«
Der vornehme Herr starrte seinen sonderbaren Gast an. Doch der verließ seinen Platz am Feuer, trat ans Fenster, öffnete es weit und sagte: »Der Mond ist aufgegangen. Ich mag nicht schlafen. Ich gehe durch die schöne Nacht – Leben Sie wohl.«
Brüsk stand der vornehme Herr auf, vertrat dem andern den Ausgang.
»Sie machen sich ja krank – Sie sehen so seltsam müde aus; ich bitte Sie, fahren Sie morgen mit mir.«
»Ich muß durch die Nacht gehen,« klang es spielerisch – »Phöbus zu, wenn Sie das verstehen –«
Der Erschrockene lief dem Enteilenden nach. Rief in den Schnee hinaus Bitten um Verbleib. Der Schnee nahm lautlos die Schritte des Wanderers auf.
»Wer war dieser Herr?« fragte der Reichsgraf von Medem die alte Frau im Forsthaus.
»Ich hätte dem Herrn von Kleist gern umsonst ein Bett angeboten,« kam es aus einer großen Kattunhaube, »aber er ist so stolz.« – –
Der Reichsgraf von Medem fuhr viele, viele Tage lang. Februarstürme tobten um das alte Schloß von Königsberg.
Luise saß am Spinett, als Medem ihr gemeldet wurde. Sie spielte, wie so oft, die ihr gewidmeten Kompositionen Louis Ferdinands. Und dachte dabei, daß sie einmal zu seinem Gedächtnis die Eroika von Beethoven hören solle. Sie hatte es immer verschoben. Medem? Für Sekunden war es Luise, als wehte der scheue, kleine Frühling von Frankfurt zu ihr herüber. In lebhafter Bewegung erhob sie sich.
Unter der Flügeltür erschien ein alter Mann. Wahnsinn der Zeit. War es denn so furchtbar lange her, daß man ihn gekannt als einen von Leidenschaft Umwitterten? Ein schräger Spiegelblick: sie selbst schien noch jung.
»Sie kommen, Medem?« Sie reichte ihm beide Hände.
»Ich möchte unsere teuerste Majestät noch einmal sehen dürfen, ehe ich heim nach Kurland gehe.«
Es waren einfache Worte, und doch klangen sie so tödlich müde und wie aus weiter Ferne. Rasch begann die Königin ein Gespräch. Ob er Berlin passiert habe, wie dort die Stimmung sei? Er ginge heim nach Kurland, ach, wann käme sie wieder in das Herz ihres Landes zurück? Medem gab höflich Antwort. Aber seine Augen taten ihr weh. Sie waren voll Respekt und voll unendlichen Mitleids. Wußte er, daß sie von all den rauschenden Festen Petersburgs als eine Tiefermüdete zurückgekehrt, und daß die Reise keine politischen Früchte getragen? Wußte er von ihrer Enttäuschung um Alexander: Er war ihr veräußerlicht worden inmitten der kalten Pracht seiner Umgebung, veräußerlicht durch den Einblick in viele seiner Neigungen, die er früher zu verhüllen verstand. Die Königin fürchtete, Medem möchte von diesem geliebten Schatten sprechen. Er tat es nicht.
Der Graf starrte die Königin an, als wolle er seine Augen festsaugen an ihrem Bild. Es waren Augen, vor denen sie erschrak, sie glühten wie letzte Funken aus der Asche seines versinkenden Seins.
»Ich möchte, wenn dies möglich wäre, noch einmal ein Lied von Eurer Majestät hören. Vielleicht ist diese Bitte einem erlaubt, der Eure Majestät in der Frühzeit gekannt hat.«
Als er ihr zum Spinett folgte, streiften seine Hände die Handschriften Louis Ferdinands.
»Hat der Prinz einst Abschied von Eurer Majestät genommen?«
»Ja«, antwortete sie still. »Und er ging schön, wie er einst aufgegangen im Glanze seiner Jugend.« Sie wandte das Gesicht ab, beugte sich über ihre Noten. »Ich werde Ihnen Tiedges Lied ›An die Hoffnung‹ singen«, sagte sie im Bewußtsein einer Höflichkeit. Tiedge galt doch soviel bei den Verwandten des Grafen.
Sie begleitete sich selbst die Beethovensche Komposition.
»Die du so gern in heil'gen Nächten feierst
Und sanft und weich den Gram verschleierst,
Der eine zarte Seele quält –
O Hoffnung! Laß, durch dich emporgehoben,
Den Dulder ahnen, daß dort oben
Ein Engel seine Tränen zählt!
Wenn, längst verhallt, geliebte Stimmen schweigen,
Wenn unter ausgestorbnen Zweigen
Verödet die Erinnrung sitzt:
Dann nahe dich, wo dein Verlaßner trauert
Und, von der Mitternacht umschauert,
Sich auf versunkne Urnen stützt.«
Welch eine fürchterliche »Hoffnung« ist dies, dachte Medem, und war doch den Tränen nahe durch Luisens Stimme. Sie hatte an Kraft verloren, aber der gebrochene Klang darin machte sie noch herzbeweglicher.
Luisens Hände griffen rasch nach anderen Blättern.
»Hier ist ein neues Manuskript, das mir mein Bruder verschaffte, ein soeben entstandenes Beethovenlied.«
Und Luise sang dem Mann, der heim nach Kurland ging, um dort zu sterben, ewige Worte der Sehnsucht: »Kennst du das Land, das Land – dahin geht unser Weg –«
Sie wandte sich. Sie wollte hundert Dinge, die ihr auf der Seele brannten, mit Medem besprechen. Und verstummte vor dem Ausdruck seiner Augen.
»Darf ich im Klang dieses Liedes gehen, teuerste Majestät?« sagte der Graf in letzter Fassung. »Erlassen Sie es mir, Ihnen auf ewig Lebewohl zu sagen. Mein letztes Lebewohl, unendlich Geliebte, sage ich Ihnen mit meinem letzten Atemzug.«
Sie erblaßte – reichte ihm ihre Hände. Und ihr zuckender Mund stammelte: »Gott behüte Sie, lieber Freund!«