Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Wagen der Königin und ihrer Damen fuhr durch die grünen litauischen Ebenen. Ist die Landstraße wieder die Heimat? Die Damen starrten hinaus in die grüne Welt. Die Tauentzien wünschte sich weit weg. Der Voß kroch das Elend bis ins innerste Mark.
Nach zehn Stunden Fahrt hielt der Wagen vor dem Pfarrhaus in Picktupöhnen. Es zeigte einen vorgebauten Windfang, sechs Fenster Front und ein hohes Strohdach. Der Pfarrer und die Pfarrerin zitterten, denn die Königin sagte, sie bäte um Verzeihung, daß sie ihnen Unbequemlichkeiten mache.
Luise suchte ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit niedrigen Stuben und fremdem Gerät, sie mochte nichts mehr denken, ehe der König kam.
Er ließ ein wenig warten. Es fiel ihm wohl leichter, in der Dämmerung seine Frau wiederzusehen. Als sein Wagen gegenüber am Schulhause, seinem Quartier, vorfuhr, kräuselte Spott die Lippen der alten Voß. Seine Majestät kamen mit Hardenberg. Mit einem Beistand.
Luise erschrak vor dem Gesicht ihres Mannes. Nie hatte sie so deutlich seine Willensschwäche ausgeprägt gesehen. Wohl, er kam von der demütigenden Begegnung mit Napoleon, und es war leichter gewesen, ihr zu schreiben, sie solle mit Napoleon sprechen, als es ihr zu sagen.
Tonlos stammelte Friedrich Wilhelm: »Ist mir äußerst fatal. Ist mir entsetzlich. Meinen alle, du allein kannst Preußen davor retten, französische Provinz zu werden.«
Sein Aussehen, sein Ton erbarmte sie. Luise nahm Friedrich Wilhelms Gesicht in ihre Hände, versuchte zu lächeln:
»Wir armen, armen Leute!«
Nun wurde er auf seine Art beredt. Er dankte ihr für den Entschluß, ging dann aber gleich in Klagen über. »Bin aus allem gerissen, führe ein lächerliches Leben, muß in Tilsit antreten wie Ordonnanzoffizier, muß französische Korps, die bei Auerstädt standen, manövrieren sehen – muß mit anhören, wie der Zar auf Napoleons frivole Scherze eingeht, und sich aufs rascheste in seine Rolle gefunden hat. Und ich«, er tastete nach seinen Orden, »muß für die Zusammenkünfte das Kreuz der Höllenlegion, der sogenannten Ehrenlegion, anlegen.«
Er hielt sich, wie immer, an Kleinigkeiten. Das lenkte über aufs Äußerliche. Diese ganze verzweifelte Angelegenheit der Begegnung der Königin mit Napoleon war nicht einmal nach höfischer Etikette vorbereitet!
Gelegentlich ihres wie zufälligen Aufenthaltes in Tilsit würde der Kaiser der Franzosen Notiz von ihr nehmen und ihr einen Besuch machen. Hohn flog über ihre Lippen:
»Ich werde mich kaum mehr wundern, wenn ich bei Napoleon um eine Audienz bitten soll.« –
Hardenberg beruhigte. Er stand vor ihr, begrüßte sie in der ihm eigenen Eleganz und Herzenshöflichkeit, er war auch in dieser Stunde jedem Schicksal überlegen. Er kam als ein Verabschiedeter. Erst nach der Entfernung dieses Ministers wollte Napoleon mit dem König Frieden schließen. Sie hörte Hardenbergs gütige Worte. Er sprach nicht von sich, nur von dem Wohl des Staates. Von den Mitteln, wie er noch zu retten sei. Sie sah sein schönes Gesicht bewegt, er schien ihr das Bild wahrer Mannestugend. Dies wurde Wohltat für sie.
»Teuerste Majestät,« antwortete er auf eine Bemerkung von ihr, »Sie wollen zu Napoleon nicht de cœur, sondern par cœur sprechen. Sehr gut. Alles ist aufgezeichnet, was Eure Majestät vorbringen wollen.«
Sie bat ihn, den Abend mit ihr zu verbringen. Sie fürchtete ein Alleinsein mit Friedrich Wilhelm.
Hardenberg sagte der Königin, sie würde Anblicke in Tilsit haben, geeignet, wankend zu werden. Der Glanz des französischen Lagers, der Pomp, mit dem Napoleon umgeben war, die Liebedienerei vor dem Kaiser, all dies sei nur zu überstehen, wenn sie sich vornähme, darüber hinwegzublicken wie über ein Maskenspiel. Die entsetzlichen Friedensbedingungen, Abtretung der preußischen Lande links der Elbe und rechts der Memel, der Verlust von Magdeburg, vorläufige Besetzung der preußischen Festungen durch französische Truppen, könne allein sie noch mildern. Sie sei die letzte Hoffnung.
Luise flammte auf: »Und der Zar?«
Hardenberg sah an ihr vorüber, antwortete nach einer Pause: »Der Zar beteuert, er habe sein Äußerstes getan.«
Sie blickte auf Hardenbergs vornehmes Profil, sah den Zug des Grams um den schönen Mund und wußte: er ließe mich nicht gehen, wenn es nicht die Entscheidung um Sein oder Nichtsein wäre. Und als habe er ihre Gedanken erraten, blickte er ihr plötzlich voll ins Auge:
»Ich kenne Sie seit Ihren Kindertagen, Königin Luise. Das Schicksal hat Sie bestimmt, eine Krone zu tragen. Sie wurden umjubelt und gaben dem Land das Bild der Anmut und einer edlen Gesinnung. Jetzt aber, Eure Majestät, sind Sie erst wirklich die Königin geworden, denn Sie sind die erlauchte Frau, die am meisten um das Land leidet.«
Sie reichte ihm beide Hände und stammelte mit tränenverdunkelter Stimme: »Dank – Dank – und meine Treue.« –
Der König ging zur Nacht ins Schulhaus zurück. Luises Gefühl für ihn war nur Mitleid. Der König von Preußen muß seine Frau als Bittstellerin ausschicken? Es gab kein Beispiel dafür in der Geschichte der Hohenzollern. Beispiel? Warum suchte sie nach einem Beispiel? Mary Stuart mußte ihre Todfeindin Elizabeth Tudor um die Gnade des Daseins anflehen. Mary Stuart war eine Schuldvolle gewesen.
Trug sie, Luise, ein Verschulden?
Sie demütigte sich und sann nach. Hatte sie zuviel getanzt und gelacht? Hatte sie sich zuwenig um die Dinge des öffentlichen Lebens gekümmert? Ein bitterer Zug ging um ihren Mund. Der König wußte ihr bisher jede Einmischung zu verbieten.
Großer Gott, wenn er ihr erlaubt hätte, öfter mit bedeutenden Männern wie Hardenberg zu sprechen, sie wäre nicht so unwissend geblieben. Sie hätte, wenn auch nicht große Gedanken, so doch große Einsichten bekommen können.
Sie starrte vor sich hin: War es zu spät? Konnte aus ihr, wenn sie alles dransetzte, nicht noch eine Frau von vertiefterem Wissen werden?
Sie schlief erst gegen den Morgen ein, erwachte von Pferdegetrappel und aufgeregten Schritten im engen Hause.
Als sie das Wohnzimmer betrat, stockte ihr für einen Augenblick der Herzschlag. Stürmischen Schrittes, umweht von seinem alten Zauber, eilte ihr Alexander entgegen.
Sie wollte kühl sein, und fühlte ihr Herz zittern.
Denn wie es uns geht bei teuersten Menschen: sie dürfen uns enttäuscht haben, und vor ihrem Anblick wird doch die alte Neigung, die alte Vertrautheit in neuem Glanze wach. Alexanders Lächeln umschmeichelte sie wie einst. Er sollte der Freund des Korsen sein? Nein, nur unentrinnbares Verhängnis konnte ihn zwingen, wider Willen mit dem Ungeheuer zu paktieren. Wärme floß um Luise. Und ihr Herz hob sich in einer Zuversicht: Alexander war gekommen, zu sagen, daß er ihr den fürchterlichen Schritt abnehmen würde! Was ihr Mann nicht konnte, was der aufs äußerste bedrängte König von Preußen nicht vermochte, würde der mächtige Zar, der große Freund tun: ihr diesen Demutsgang zu einem Verhaßten ersparen!
Sie sprach: »Ich bin hier, um den bittersten Weg meines Lebens gehen zu sollen. Ich weiß nicht, wie ich es vermag –«
Da lächelte der Zar, küßte ihre Hand und antwortete:
»Teuerste Freundin, Sie sind doch so reizend! Ihre Anmut wird selbst den Zorn Napoleons bannen. Und überdies, erinnern Sie sich an das Wort des weltmännischen Henri quatre: Paris vaut une messe – Sie, teuerste Freundin, machen einen guten Frieden mit un peu de tête und mit Ihrem Scharm.«
Ihr Blick wurde leer und gläsern. Eine eisige Hand hatte den Hauch von der kostbarsten Blüte ihrer Seele gestreift. Ein tändelndes Wort zerriß eine teuerste Illusion: sie war in dem Traum gegangen, das Geheimnis einer Sternenfreundschaft verbände sie mit Alexander. Eine einzigartige Beziehung, eine erhabene Zärtlichkeit vereine sie im Geiste. Sie sank aus ihrem Traum, eine Angebetete zu sein.
Eine Angebetete war sie nicht für Friedrich Wilhelm. Sondern die Mutter seiner Kinder, seine Frau. Sie hatte es ihm längst verziehen, daß er in seiner Not sie rief, Haus und Heimat zu vertreten.
Alexander, der ihr von einer heiligen Allianz der Freundschaft gesprochen, mahnte diese Alliierte in scherzenden Worten, durch ihren »Scharm« auf ihren Todfeind einzuwirken?
Genug, genug.
Nach kurzer Pause stellte die Königin mit kühler, hochmütiger Stimme dem Zaren die konventionelle Frage nach dem Befinden der kaiserlichen Damen. –
Und nun kam Luisens bitterster Weg.
Die Königin fuhr mit ihren Damen schon um vier Uhr aus Picktupöhnen ab, geleitet von einer Abteilung Garde du Corps. Die Fahrt war auf eine Stunde berechnet. Man passierte ein Kosakenlager, dann war der ganze Weg von französischen Truppen umgeben. Luise schloß die Augen, sich den Anblick zu ersparen. An der Fähre empfing sie Marschall Kalckreuth und überschüttete sie mit Belehrungen. Sie wehrte unwillig ab und bestieg den Hofwagen.
Ihr Herz stand unter dem eigenen Befehl, sich auf diesem Wege keine Gedanken, keine Betrachtungen mehr zu gestatten. Sie wollte kalt, ganz kalt sein, kein Mensch mehr, der sich selbst rührt und sein Herz weich macht, sie wollte nichts sein als eine Funktion.
Sie stieg eine steile Treppe hinauf zur Wohnung des Königs. Als sie in sein Zimmer eintrat, war der Zar im Gespräch mit Friedrich Wilhelm. Der Zar, er schien ihr kleiner als sonst, verbarg Beschämung und Nervenschwäche unter lebhaften Worten:
»Die Angelegenheiten des Staates stehen schlecht, unsere ganze Hoffnung steht auf Ihnen, retten Sie den Staat.«
Theaterszene, dachte sie flüchtig, hörte die leise Stimme der Tauentzien, sah sie eine Türe öffnen, ging mechanisch in ein Nebengemach. Die Gräfin bat: »Ich darf doch Eurer Majestät die Frisur ordnen, an der Schläfe hat der Wind eine Locke gelöst.« Sie fühlte kühle Finger an ihrer Stirn, blickte lässig in den hohen Wandspiegel; sie trug ein weißes, silberdurchwirktes Kreppkleid, das Perlendiadem im Haar. Die Tauentzien flüsterte: »Eure Majestät haben einen ausgezeichneten Tag. Wie schlank sind Eure Majestät wieder geworden. Eure Majestät sehen anbetungswürdig aus.«
Luise schloß sekundenlang die so schwermütig gewordenen Augen:
»Mein Gott, Lisinka, soll mich dies trösten?«
Die Tauentzien machte eine hochfahrende Bewegung.
»Majestät, dies ist kein Trost, sondern auf Ehre eine neidvolle Wahrheit.«
Diese Geste werd' ich dir später danken, dachte Luise.
Die Annäherung Napoleons wurde gemeldet. Der Zar, bebend in nervöser Schwäche, stürzte ans Fenster, rief halblaut: »Er hat Murat, Berthier, Talleyrand, sämtliche Marschälle bei sich – mon Dieu, eilen wir –«
Aufruhr, Rennen, Laufen. Die Chargen und Statisten der Szene eilten an ihre Plätze, Friedrich Wilhelm und sein Gefolge zur Haustüre, der Zar in den Flur, die Hofdamen an den Treppenaufgang.
Die Königin hatte, der Hofsitte gemäß, ihren »Gast« allein am Endpunkt der Treppe zu begrüßen.
Sie war nun ganz ruhig. Ihr Herz schlief irgendwo, fern. Sie dachte, ich bin nichts mehr als die Figur eines Spiels. Hochmut floß über sie hin. Sie würde die Formeln herunterplappern. Für ewig lächerlich würde ihr das Wort Sire sein, nachdem es zu einem Parvenü gesprochen. Sie hörte Stimmen, fühlte sich eiskalt werden, vernahm einen raschen Schritt, dann ein Stolpern auf der Treppe. Und ehe sie noch die Wirklichkeit begriff, stand im grünen Rock, untersetzt, so, daß ihr Blick auf sein dunkles Haar fiel, Napoleon vor ihr.
Sie hatte für die Festigkeit ihrer Stimme gefürchtet. Sie erlebte eine Überraschung: ganz ruhig, ganz einfach hörte sie sich sagen, sie bedauere, daß Seine Majestät eine so unbequeme Treppe steigen müsse. Rasch kam die Antwort.
»Auf dem Wege zu einem solchen Ziele darf man vor keinem Hindernis zurückschrecken.«
Sie wandte frappiert das Gesicht. Es war ein eleganter Satz – und das Lächeln, mit dem Napoleon seine Worte begleitete, umschwebte einen feinen, schön geschnittenen Mund.
Rasch wurde eine Vorstellung des Gefolges bewirkt, das Vorzimmer durchschritten.
Und dann standen sich Luise und Napoleon in einem kleinen Salon allein gegenüber.
Sie senkte den Blick auf den Gehaßten, staunte, wurde irritiert: was sie von seiner Häßlichkeit gehört, war zu dieser Stunde nicht vorhanden. Sie sah einen kleinen, außerordentlich fein gebildeten Kopf, sah Züge, die den Denker und den Herrscher verrieten, und sah ein Lächeln, in dem vielleicht eine Spur von Verlegenheit schwebte.
Dieses kleine, seltsame Lächeln gab der Königin ihre ganze Fassung zurück. Sie erhob sich über ihr Unglück. Sie war ganz die große Dame von Geburt, die große Dame in einer Weltstellung. Ihre Stimme klang kühl:
»Ich lerne Eure Majestät in einem für mich höchst schwierigen Augenblick kennen. Ich sollte vielleicht nicht über die Interessen meines Landes mit Ihnen sprechen, da Sie mir öffentlich den unbegründeten Vorwurf machten, daß ich mich zuviel mit Politik abgegeben habe.«
Napoleon verbeugte sich leicht. »Seien Eure Majestät überzeugt, daß ich niemals das alles geglaubt habe, was man während unserer politischen Zerwürfnisse so indiskret verbreitet hat.«
Sie staunte. Besaß dieser Mann so viel Frechheit oder so viel Takt, Tatsachen auf diese Weise zu wandeln?
Rasch fuhr sie fort: »Wie immer es sei, ich würde es mir nie vergeben, wenn ich diesen Augenblick nicht benutzte, freimütig mit Ihnen zu sprechen. Wir haben einen unglücklichen Krieg geführt. Sie sind der Sieger. Aber muß ich annehmen, daß Sie Ihren Sieg mißbrauchen werden?«
Er ging einen Schritt auf sie zu. Ein Widerspiel heftiger Erregung überflackerte sein Gesicht. Temperament brach aus.
»Wie konnten Sie Krieg mit mir führen?«
»Sire, der Ruhm Friedrichs des Großen hat uns über unsere Mittel getäuscht.«
Ein kurzer Ausruf entfuhr ihm. Seine Augen blitzten zu ihr hin. Er schien eine Sekunde lang wie ein freimütiger Duellant, den Respekt erfaßt vor einer guten Parade.
Durch ihr Herz zuckte jählings ein Ahnen, daß sie dem Außergewöhnlichen gegenüberstand.
Napoleon wandte sich etwas zur Seite, stützte die Hand auf die Marmorplatte eines Tisches.
»Warum haben Sie mich gezwungen, die Dinge aufs Äußerste zu treiben? Wie oft bot ich Ihnen den Frieden an! Österreich wies vernünftige Bedingungen nicht zurück. Sie aber haben nach Auerstädt jedes freundschaftliche Abkommen verweigert. Und meine Botschaften nach der Schlacht von Eylau wollte man kaum anhören.«
Sie wollte aufflammen vor diesen Lügen. Sie wollte vom Stolze einer Nation sprechen – und erinnerte sich, wie sehr Hardenberg sie gebeten, nur als Frau, als Mutter aufzutreten:
Ihre dunkle Stimme durchschwang ein Beben:
»Was die ersten Verhandlungen nach der Schlacht von Auerstädt betrifft, so war es gewiß nicht der König, der sie abbrach – und in letzter Zeit – Sire, Sie wissen dies ja besser als ich – hing es nicht mehr von uns ab, in Sonderverhandlungen einzutreten. Doch ich wage nicht, meine Ansichten über die großen politischen Angelegenheiten zu formulieren. Ich bin nur eine Frau. Ich denke an meine Heimat, meine Familie. Sie haben selbst bei jeder Gelegenheit bewiesen, wie sehr Ihnen das Schicksal der Ihrigen am Herzen liegt. Müssen Ihnen nicht dann auch die Sorgen einer Mutter gerechtfertigt und achtungswert erscheinen? Die Ruhe und die Selbständigkeit eines Landes bedeuten die Wohlfahrt seiner Bewohner.«
Napoleon wandte sich ihr mit einer lebhaften Bewegung zu.
»Aber Eure Majestät glauben doch nicht etwa, daß von einer Vernichtung Preußens die Rede ist.«
Er starrte sie an. Das gelbe Gesicht des Achtunddreißigjährigen überflog für Sekunden ein wärmerer Ton.
»Würden Sie erfreut sein, nach Berlin zurückkehren zu können?«
Sie antwortete in Affekt: »Ja, Sire, aber nicht unter jeder Bedingung. Es hängt von Eurer Majestät ab, uns diese Rückkehr zu erleichtern.«
Er schien geschmeichelt, lächelte. »Madame, ich werde sicher darüber sehr glücklich sein. Ah, Sie tragen da ein schönes Kleid. Wo ist es gemacht?«
»Bei uns, Sire!« »In Breslau?« »Nein, in Berlin.« »Wird Krepp in Ihren Fabriken hergestellt?« »Wahrscheinlich, Sire. Aber ich kann jetzt nicht an Krepp und Toiletten denken. Eure Majestät wissen, welche Interessen mich in dem Augenblick beschäftigen, wo ich durch Eure Majestät eine bessere Existenz für alle, die mir teuer sind, erhoffe. Ich weiß, daß wir Opfer bringen müssen, aber wenigstens trenne man nicht Provinzen von Preußen, die ihm seit Jahrhunderten angehören. Ich glaube mir nichts zu vergeben, wenn ich den grausamen Schmerz des Königs betone, falls er einige der ältesten Provinzen seines Hauses abtreten müßte. Er hängt an keiner Provinz so sehr wie an Magdeburg. Trotzdem Sie mir einen Vorwurf wegen Verlängerung des Krieges gemacht haben, kann ich mir doch nicht denken, daß Standhaftigkeit im Unglück in Ihren Augen ein Unrecht ist. Aber Sie lassen mich immer allein sprechen, Sire! Ist Rache dessen würdig, der sie widerstandslos ausüben kann? Eine Frau darf Ihnen sagen, was einem Manne wohl nicht anstehen würde. Erwerben Sie sich Rechte auf unsere Dankbarkeit –« sie stockte, quälte die Worte heraus – »und Ihre Siege werden Ihnen doppelt Ehre machen.«
Er lächelte. Ein Blick aufflammenden Interesses traf sie. Sie wußte es plötzlich, daß diese Augen ungeheuere Horizonte besaßen, sie empfand erschauernd eine Ahnung seiner Genialität.
»Es kostet Sie doch nur ein Wort, Sire, uns einen erträglichen Frieden zu geben. Ich kann nicht glauben, daß Sie unempfindlich sind gegen all die Leiden, die auf uns lasten.«
»Madame«, begann er mit veränderter Stimme.
Da trat im denkbar unglücklichsten Augenblick Friedrich Wilhelm ein. – Das Gespräch war zerrissen.
Napoleon atmete auf, verbeugte sich vor Luise, vor dem König. »Sie werden bei mir dinieren, ich freue mich – auf Wiedersehen!«
Die Königin fuhr in veränderter Stimmung zu diesem Festmahl. Napoleons Anblick hatte ihr das Grauen vor seiner Person genommen. Hoffnung flammte auf, sie könne wirklich etwas bei ihm erreicht haben. Diese Idee befeuerte sie. Sie hatte sich einen Barbaren vorgestellt. Sie war auf die äußerste Formlosigkeit gefaßt gewesen.
Einem Herrscher, den sie erblickt hatte, fühlte sie sich gewachsen – wenn sie es über sich gewann, Gram und Verzweiflung vieler Jahre, die er über sie gebracht hatte, in der innersten Herzenskammer zu verschließen. Ihr Entschluß war gefaßt. Gehen wir zu der Komödie. Nur der barmherzige Gott wendet seine Augen nicht von den Unglücklichen. Nur er wird die Mühseligen und Beladenen erquicken.
Der Sieger von Marengo, Auerstädt und Jena lädt sich nicht die Trostlosigkeit zu Tisch.
Luise saß zwischen Napoleon und Alexander. Und sie spielte, was sie einst gewesen: die Frau mit der anmutigen Geste, der beschwingten Rede. Sie kam sich vor wie jemand, der auf schwankendem, untergehendem Schiff noch versucht, der Gefahr zu lächeln.
Napoleon sagte ihr viele Schmeicheleien, und sie durfte wohl denken, daß die große Unterredung mit ihm einflußreich gewesen sei.
Als der Wagen des Königspaares abgefahren war, wandte sich der Zar zu dem neuen Freund:
»Nun, Sire, habe ich zuviel von der Königin gesagt?«
Napoleon prüfte mit der Hand die Glätte seines Kinns, ließ es dann in der Faust versinken:
»Sie sprach mit Takt und Zartgefühl, so daß ich unmöglich beleidigt sein konnte. Sie besitzt Haltung und Gewandtheit.«
Alexander lächelte. »Sire, man darf sie nicht im Unglück lassen. Sie ist zur Freude geboren. Sie stammt aus einem heiteren Himmelsstrich, und ihre Seele ist dem Erhabenen zugeneigt. Welch ein Unglück für sie, einem nüchternen und erfolglosen, wenn auch so rechtlichen Mann verbunden zu sein.«
Napoleon antwortete gefällig:
»Die Königin ist eine reizende Frau. Ihre Seele entspricht ihrer Gestalt. Auf Ehre, anstatt ihr eine Krone zu nehmen, möchte man versucht sein, ihr eine zu Füßen zu legen.«
Er sah träumerisch vor sich hin, vielleicht war er für Sekunden wieder der junge General, der einst vor Josephine erblaßte.
Napoleon arbeitete noch lange in der Nacht. Als gegen ein Uhr Marschall Berthier bei ihm eintrat, fiel sein Blick auf die Niederschriften des Friedensvertrags. Raschen Auges sah er darin Streichungen.
»Wie gefiel Ihnen die Königin?« fragte der Kaiser. Der Marschall verbarg ein Lächeln. Er tat, als wisse er im Moment nicht, von wem die Rede sei. Dann sagte er gleichmütig: »Eure Majestät sprechen von der raffinierten Schauspielerin, die ihre schönen Augen gebrauchte? Nun ja, une femme! Man braucht sie zuweilen. Man bezahlt sie. Aber doch wohl nicht mit eroberten Provinzen, wie diese Intrigantin hofft?«
Der Kaiser machte eine Gebärde des Zornes. Berthier, geschmeidig, jedem Augenblick angepaßt, fuhr flüsternd fort: »Diese deutschen Frauen jammern unablässig über das Los ihrer Kinder und hoffen, damit auf Tränendrüsen zu wirken. Sogar ihre Liebhaber gewinnen sie damit. Vermutlich glaubt die schöne Luise diese Nacht, sie habe sich Provinzen und Festungen erweint. Nun ja, im Krieg und in der Liebe sind alle Waffen erlaubt. Aber daß der Sieger von Marengo auch die Mission haben soll, Gattinnen zu trösten, eine solche Hoffnung kann nur einem germanischen Hirn entspringen.«
Der Kaiser starrte in die Flammen eines Armleuchters, erwiderte scharf: »Sie hat sich gedemütigt.«
»Das tun Bettler immer«, antwortete Herr von Talleyrand, aus dem Dunkel einer Zimmerecke hervortretend. Er nickte Berthier zu. Der Marschall hatte die befohlenen Sätze gut vorgebracht. Das Weitere fand sich. –
Die Königin war nach Picktupöhnen zurückgekehrt. Die Königin hatte sich beruhigt. Sie war auch voll Hoffnung. Das Licht der großen Welt, der Schein dieser europäischen Abendgesellschaft warf doch Strahlen. Nicht die eines ewigen Trostes. Nicht die einer Beruhigung der Seele. Aber Luise hatte den Feind auf dem Boden des Respekts gefunden. Dies gab ihr das tausendmal verletzte äußere Selbstgefühl zurück. Sie ermunterte den König – sie wagte zu hoffen, eine Wendung zum Erträglichen wurde herbeigeführt. –
Luise saß zu später Frühstücksstunde mit dem König in der Pfarrhausstube. Sie machte Friedrich Wilhelm das Brot zurecht, wie er es liebte, sie hatte die kleinen fraulichen Freundlichkeiten der gnädigen Frau von Paretz.
Da ließ sich Graf von der Goltz melden. Und während er sprach, wurde aus dem freundlichen Zimmer der öde Schauplatz für neue Verzweiflung.
Goltz kam direkt von Napoleon und brachte die Aussprüche des Kaisers:
»Alles, was ich der Königin gesagt habe, sind nur höfliche Redensarten gewesen, die mich zu nichts verpflichten, denn ich bin fest entschlossen, dem König von Preußen die Elbe als westliche Grenze zuzuweisen. Es ist keine Rede davon, noch zu unterhandeln. Ich habe bereits alles heute mit Kaiser Alexander verabredet. Der König von Preußen hat seine Stellung nur der ritterlichen Anhänglichkeit dieses Monarchen zu danken. Ohne seine Fürsprache wäre mein Bruder Jérôme König von Preußen geworden und die jetzige Dynastie abgesetzt. In zwei Tagen muß der Friedensschluß, so wie ich ihn befehle, erledigt sein.«
Die Königin hatte kaum Worte mehr. Ihr war es, als umgäbe sie ein luftleerer Raum, in dem kein Ton mehr klingen kann. Erst als der Mittag eine Einladung Napoleons brachte, und ein Schreiben Alexanders, sie solle unter allen Umständen dieses dritte Zusammensein bewirken, brach ihr Temperament aus.
Sie weigerte sich – um endlich vor Friedrich Wilhelms Gesicht nachzugeben. Der König ward in Tilsit gewünscht, er fuhr eilends ab. Sie wagte ihm nicht den Trost zu versagen, daß sie nachkäme.
Ab sie in Tilsit anlangte, fand sie den König am Rande seiner Nervenkraft, mit Tränen kämpfend. Er hatte einen Wutausbruch Napoleons miterlebt, war mit Geringschätzung behandelt worden, hatte mitleidlose Eröffnungen erhalten.
Dennoch bestand der König darauf, daß sie mit ihm zu dem Festmahl ginge.
Es wurde ein entsetzlicher Abend.
Der große Herrscher, den Luise gestern erblickt, war in einen schlechtgelaunten, heftigen kleinen Mann mit tückischen und boshaften Zügen verwandelt. Er begrüßte die Königin mit lässiger und ironischer Höflichkeit. Er war erhitzt, unberechenbarer Laune, und über der Tischgesellschaft lag eine angstvolle Stimmung. Leeres Gespräch schleppte sich hin. Mit Schrecken hörte die Königin plötzlich ihren Gatten auf eine halblaute Frage Napoleons antworten:
»Eure Majestät wissen nicht, wie schmerzlich es ist, Gebiete zu verlieren, die sich eine lange Reihe von Jahren hindurch vererbt haben, und in der Tat die Wiege des Geschlechtes sind.«
Napoleon rief lachend: »Was Wiege! Wenn der Junge erwachsen ist, vergißt er die Wiege.« Der König fuhr rasch fort: »Aber die Ab- und Anstammung kann man nicht vergessen.« Mein Gott, warum mußte er den Kaiser darauf hinweisen, daß er keine Erblande besaß? Geistesgegenwärtig, rasch, lebhaft warf Luise ein:
»Das Mutterherz ist die dauerhafteste Wiege«, und sie fragte nach Madame mère, nach Laetitia Bonaparte. Höflich wandte sich der Kaiser ihr zu. Luises Hoffnung flackerte noch einmal auf, als er nach Tisch sie allein in ein Nebenzimmer bat. Sie fühlte, dies ist der letzte Augenblick, in dem sie wirksam sein kann. Sie dachte an ihre Kinder, an das Vaterland. Und überwand ihren Stolz, noch einmal zu bitten. Um Magdeburg!
Napoleon wandte sich brüsk: »Wollen Sie mir zum Abschied noch etwas abpressen? Sie vergessen, Madame, daß es an Ihnen liegt, meine Bedingungen anzunehmen oder abzulehnen.«
Sie wich zurück. Ihr Auge suchte die Türe. Aber noch einmal überwand sie ihren Stolz, es ging ja hier nicht um ihre Person, es ging um das Vaterland.
»Ist es möglich, daß der Held des Jahrhunderts und der Geschichte, dem ich gegenüberstehe, mir nicht die Freude erweist, ihm bezeugen zu können, daß er mich für das Leben verpflichtet hat?«
Ihre Stimme klang ihr selbst so fremd, klang dunkel und wie aus weiter Ferne.
»Ich beklage es, Majestät, es ist eine Wirkung meines bösen Sterns.«
Ihr Blick umfaßte noch einmal seine Gestalt.
Sie antwortete nicht mehr. –
Die Königin war allein in Picktupöhnen. Friedrich Wilhelm mußte zugegen sein, als Napoleon und Alexander zu Tilsit das Schicksal Preußens besiegelten. Luise irrte durch einen abendlichen Garten. Da standen, eine Bank zwischen sich lassend, zwei alte mächtige Linden. Der Duft ihrer Blüten, schwer von Süße, erfüllte die Luft. Luise wartete auf Nachricht. Um sie verglühte der Tag.
Luise saß auf der Bank zwischen den Linden. Erntezeit begann im Lande. Im fernen Land der Kinderheimat. Hier waren zerstampfte Felder. Hier lagerten fremde Soldaten. Der Anblick jedes einzelnen bekundete Preußens Ohnmacht. Und drüben, zu Tilsit, ward der Friede geschlossen. Hat je ein holdes Wort einen so entsetzlichen Klang gehabt wie dieser Friede, dieser Gewaltstreich, dieses ohnmächtige Unterliegen?
Sie hörte plötzlich auf ein fernes Wagenrollen, raffte sich zusammen. Verjüngte sich. Wenn so rasch Botschaft kam, war es vielleicht doch eine gute?
Sie durcheilte den Garten. Sah den Grafen von der Goltz einfahren, erblickte sein Gesicht – und wußte, jede Hoffnung war vorüber.
Graf von der Goltz stand der Königin in der kleinen Pfarrstube von Picktupöhnen gegenüber.
Luise bat: »Ich möchte die ganze Wahrheit auf einmal erfahren.«
Goltz stand steif: »Preußen hat den Friedensvertrag unterzeichnet. Abtretung der linkselbischen Gebiete, mit Magdeburg. Die polnischen Distrikte sind verloren. Über die Räumung des Landes und die Zahlung der Kriegskosten waren im Friedensvertrag keine festen Bedingungen zu erzielen. Wir müssen gewärtigen, den Feind noch lange im Lande zu behalten, wir müssen darauf gefaßt sein, daß Kontributionen ohne Beispiel gefordert werden.
Aber die Souveränität Seiner Majestät über die verbleibenden Provinzen ist gerettet.
Seine Majestät der König wird diesen Abend noch einer Einladung der beiden Kaiser folgen und in Tilsit bleiben.«
Der Graf schwieg. Die Königin antwortete automatisch: »Ich danke Ihnen.« Und sie bot letzte Beherrschung auf, reichte ihm die bebende Hand zum Zeichen der Entlassung. Der Graf beugte sich tief über die arme Hand. Er hätte gehen müssen. Aber er durchbrach die Etikette. Er sagte:
»Was von Deutschland noch lebt, deutscher Idealismus, deutscher Geist und deutsches Gemüt, hat den Machthabern Napoleon und Alexander eine einzige und dem Vaterland ewig unvergeßliche Verkörperung gegenübergestellt in der Idealgestalt unserer teuersten Königin. Eure Majestät wollen allergnädigst verzeihen, daß ich wage, dies auszusprechen.«
Luise war wieder im Garten des Pfarrhauses von Picktupöhnen. Sie hatte ihre Damen gebeten, sie allein zu lassen.
Sternenschein lag über dem Lande. Die Königin saß auf der einsamen Bank unter den alten Linden und starrte in die Nacht hinaus.
Verloren war alles, was sie erhofft. Vergeblich war die Demütigung gewesen. Preußen lag zertrümmert. Süddeutsche Truppen, die Rheinbündler, hatten jubelnd mitgeholfen zum Sieg der Franzosen über den Staat Friedrichs des Einzigen.
Wo lag Germanien? Blieb es nur noch ein Begriff des Herzens, ein Traum, ein Phantom?
Luise verkrampfte ihre Hände ineinander. War sie eine Närrin, eine Törin, wenn sie an dieses Germanien glauben wollte bis zum letzten Hauch? Galt ihr Name nun dem Gespött der Sieger, dem Gelächter der Unterdrücker?
Hilflose Sehnsucht überfiel sie, sich an einem Mutterherzen auszuweinen, sie, die nie die Mutter gekannt.
In den Lindenkronen rauschte der Nachtwind. Die ewigen Bäume Germaniens sandten den Duft des Sommers zu der Einsamen.
»Dies ist nicht der Linde Rauschen,
Dies ist meiner Mutter Stimme.«
Wo klang das einst? Am Rhein? In der Heimat? Alte, liebe Bäume. Luise hob die Hand nach der schmerzenden Stirn, strich wirres Haar von hellen Schläfen zurück. Und sie beugte ihre Gestalt, beugte die Hände zu den Knien, das Gesicht zu den Knien. So saß sie, ganz verlassen, hingekauert in schmerzvoller weiblicher Ohnmacht. Sie kämpfte den Kampf einer tiefsten Entsagung.
Sie hatte auf Menschen vertraut: Hatte gewohnt unter dem Schutz eines Gatten, sie hatte sich in tiefster Seele der Freundschaft eines Erlesenen geschmeichelt.
Und nun wußte sie in bängster Stille, daß Menschen uns immer nur begleiten bis zu der letzten Tür.
So saß sie, unter Lindenkronen und den Sternen der Sommernacht, und ihr Herz rang, über alles Zertrümmerte hinaus wieder zu dem Gefühl zu kommen, daß sie noch lebe. Silberlicht der Gestirne verschwebte über dunklem Land, Tau feuchtete das Erdreich. Und, kaum es wissend, stammelte Luise das Wort letzter menschlicher Hoffnung:
»Gott – dir – ergeb' ich mich.«