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Dritter Teil
Der Weg zur Vollendung

XX. Kapitel.

Kaiser Napoleon residierte in Berlin.

Das preußische Königspaar war hinausgedrängt in die letzte Stadt an der Grenze der Monarchie.

Nach dem unerhörten Zusammenbruch von Jena, nach dem schauerlichen Fall der meisten Festungen schien die völlige Unterwerfung Preußens nahe. Vor Friedrich Wilhelm stand die furchtbare Frage, ob er sich den Bedingungen des Eroberers unterwerfen oder mit dem Rest der Armee einen letzten Verzweiflungskampf wagen solle.

Die Königin trat für diesen Weg der Ehre ein. Friedrich Wilhelm wählte ihn. Denn die Friedensbedingungen Napoleons verlangten als erste Grundlage den Bruch Preußens mit Rußland. Sie waren also für den Freund Alexanders unannehmbar. Wohl schien der Krieg infolge der Jahreszeit und der für Preußen günstigen Schlacht von Eylau zu einem gewissen Stillstand gekommen: aber die Franzosen blieben als Herren im Lande.

Kein Vaterlandsfreund konnte sich der Erkenntnis verschließen: die Schlacht von Jena war nicht ein einmaliger Unglücksfall, sondern sie bedeutete die tragische Ouvertüre zu dem Leidensgang eines Staates, eines Volkes und seiner königlichen Familie. –

Kaiser Napoleon herrschte in Berlin. Seine Hofstaaten, ein Teil seiner Truppen hatten feste Winterquartiere in der Stadt bezogen. Sie glich der Hauptstadt einer französischen Provinz. Seine Majestät der Kaiser wählte allerlei Kunstwerke aus, die nach Paris zu schaffen waren, zum Beispiel persönliche Gebrauchsgegenstände Friedrichs des Großen und den Siegeswagen vom Brandenburger Tor.

Durch die Straßen von Berlin klang ein böses Liedchen, das begann:

Unser Demel
Ist in Memel.

Auf den Straßen von Berlin führten das große Wort jetzt alle jene, die bisher die Unzufriedenen im Lande Preußen gewesen, oder die sich als geborene Weltbürger fühlten. Lebte es sich nicht wunderschön jetzt in Berlin? Gewiß, der Kaiser bedrückte mit ungeheuren Kontributionen und Steuern. Aber er und sein Gefolge brachten auch Leben und neue Erwerbsmöglichkeiten. Rasch und gefällig hatte sich eine gewisse Bildungsschicht der Hauptstadt in das Neue gefunden, das ja für den Oberflächlichen, in welcher Gestalt es auch nahe, seine ewige Bezauberung besitzt. Auf das vorteilhafteste konnte man jetzt seine Weltbürgerideen zur Schau tragen. Wie stand es denn mit dem berühmten Vaterland und der vergötterten Armee! Sie hatten Pleite gemacht! Also hängt man geschäftstüchtig sein Mäntelchen nach dem Wind: Französisch war die Parole.

Berlin hatte kein 1789 erlebt, im Staate Preußen war keine Bastille zu stürmen, im Lande der Hohenzollern hatte es nicht die schreienden Kontraste der sozialen Ordnung gegeben, wie im Staate der Bourbonen. Der »Tiers-état«, der kleine Bürger, Bauer lebte vielleicht besser als der kleine Beamte, dem über Dürftigkeit und karge Aussichten der Stolz hinweghalf, dem König zu dienen.

Doch nun konnte jeder, der langsamer Entwicklung Feind gewesen, sich mächtig am Neuen freuen. Es brachte Ehre, über die alte Regierung zu schimpfen. Es war so interessant, sich mit Franzosen anzubiedern. Man fühlte die große Welt, wenn man einen Korporal oder gar einen Souslieutenant sprach. Man konnte erblicken, wie sich französische Generale in requiriertem Wein betranken, und sehen, wie viele durch Kontribution erpreßte Pfund Wachslichter ihre Nächte erhellten, ihre Freuden beleuchteten. Sie waren erfolgreich, sie waren Sieger, sie brachten der Welt die Befreiung und, mon Dieu, parbleu, wahrhaftig und wirklich, die Franzosen sprachen in wunderbarer Geläufigkeit die anbetungswürdig vornehme, unnachahmliche französische Sprache! Schon dieses Mirakel allein konnte bezaubern. Kaiser Napoleon veröffentlichte Schmähungen über die Königin. Hm, ja! Man besaß ein Seidenwarengeschäft in der Breiten Straße oder ein Chaisenverleihinstitut am Molkenmarkt und hatte nie bei Hofe verkehrt. Oder man war ein ehrgeiziger Makler, ein erfolgloser Schauspieler, ein verkrachter Advokat oder Literat, eine reiche Bankiersfrau, Gattin eines mehrfachen Hausbesitzers oder eine berühmte, geistvolle Weltdame, ließ Geburtsvorurteile nicht gelten und war nicht zu Hofe gekommen!

Die Anmut und die Klugheit der Königin beruhte sicherlich auf einem »on dit«, von Hofschranzen verbreitet.

Sollte der Kaiser nicht vielleicht doch besser wissen, wie es in Wahrheit um Luisens vielgepriesene Tugend stand?

Freilich, Pfarrer Erman »aus der Kolonie« hatte den Mut gehabt, Napoleon dem Großen zu sagen, er rede die Unwahrheit über die Königin. Nun, Erman war ein Hugenottenabkömmling, dem lag es noch im Blute, das Leben zu riskieren. Vielleicht auch denen, die sich wie die Maulwürfe jetzt vergraben und aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hatten, aber in ihren Häusern und bei geheimen Zusammenkünften lächerliche Royalistenpläne zur Errettung des Vaterlandes aus welscher Knechtschaft schmiedeten. Die ewig Gestrigen! Die Reaktionäre. Die Jammervollen, die nach dem alten Fritzen seufzten, während man doch den neuen Cäsar, den großen Kaiser Napoleon in Berlin besaß. Gewiß, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit waren erst nur schöne Transparente, Ölpapiere mit Funzeln dahinter. Darum schwebte »Liberté, egalité, fraternité« in der Luft. Aber – man befand sich wie in Paris. Man atmete die Luft dieser unvergleichlichen Stadt, wenn man nur einen Korporalsrücken sah.

»Vive l'empereur! Unser Demel ist in Memel –«

Man verschwieg der Königin, so gut es ging, die ganze Wahrheit über die Zustände in Berlin. Sie mochte denken, daß man dort unter der Gewaltherrschaft Napoleons ebenso litt, wie die königliche Familie und die um sie versammelten Patrioten.

Luise mußte jeden Morgen wieder allen Mut aufbieten, um in einen neuen Tag zu gehen, gefaßt auf neue Unglücksbotschaften und bereit, der Beistand ihres in Gram und Mißmut versunkenen Gatten zu sein.

Er und die Kinder riefen sie immer wieder zur Wirklichkeit zurück.

Noch hatte sie den furchtbaren Sturz des Staates, den ungeheuren Wandel ihres Schicksals nicht erfaßt in aller Auswirkung. Noch klang in ihrem Ohr, in ihrem Herzen das Sturmlied, das Vernichtungsgetöse von der Kurischen Nehrung her. Sie begriff es noch nicht, daß sie aus diesem Chaos wieder hervorgegangen sein sollte.

Wozu? Zu welchem Zweck? Zu welcher Berufung?

Ihr Herz fragte sich dies. In den fürchterlichen Nächten auf der Kurischen Nehrung hatte sie ihre Seele Gott befohlen, bereit, sich dem allmächtigen Willen zu unterwerfen, wenn ihr Schicksal ein früher Tod sein mußte.

War sie am Leben geblieben, gesunder geworden, nur um ein halb nutzloses, halb beschäftigtes Dasein zu führen, das ihr vorkam wie das Unterkriechen Schiffbrüchiger in irgendwelche Verhältnisse?

Aber hinter dem allem stand die unermeßliche Not des Vaterlandes und die ewige Angst.

Ein Nichtbegreifen war in Luise.

Man erwartete hier den Frühling, um neue kriegerische Versuche zu machen. Unter Napoleons Fahnen standen Darmstädter, Badenser gegen die Preußen. Wer vermochte diesen Bruderkampf zu verstehen?

Immer wieder richtete sich Luisens Hoffnung auf den Zaren. Sie sprach mit Hufeland davon, der sie in den Krankheiten und Kränklichkeiten behandelte, von denen sie wieder befallen wurde, als starrend von Frost und Schnee der Winter seine größte Gewalt erreichte.

Der Arzt stand am Fenster und blickte durch Eisblumen hinaus in den Schloßhof. Er kämpfte mit angeborener Schüchternheit, überwand sich und sprach ins Zimmer zurück:

»Eure Majestät setzen Hoffnung auf einen einzelnen Menschen. O gewiß, es gibt kein edleres, kein idealischeres Band als die Freundschaft, keine gottgeliebtere Tat als die Freundeshilfe. Doch was vermag in diesen bangen, verwirrten Zeiten der einzelne Mensch, und sei es der Beherrscher eines Weltreiches!«

Sie antwortete rasch und feurig:

»Der Beherrscher eines Weltreiches wird wohl etwas vermögen gegen den Usurpator, der sich erfrechen will, die alten Throne Europas umzustoßen. Sie kennen den Zaren nicht, lieber Hufeland! In seinen Händen liegt Macht, in seinem Herzen lebt unerschütterlich rein und groß der Wille zum Guten. Napoleon repräsentiert das Böse, Alexander die Idee der Menschenbeglückung. Und wie am ersten Schöpfungstag Licht und Finsternis sich scheidete, so wird es auch hier sein – am Tag, auf den wir hoffen.«

Hufeland trat der Königin näher. Besorgnis lag in seinen etwas matten, verschleierten Augen.

»Eure Majestät führen mich selbst zu dem, was ich sagen wollte. Sie sprachen vom ersten Schöpfungstage. Teuerste Majestät, nicht Menschen scheideten das Licht von der Finsternis. Dies zu tun ist die Handlung des ewigen Gottes.«

Sie schwieg betroffen. Sie neigte das schöne Gesicht.

»Es ist nicht immer die Zeit der Wunder«, fuhr Hufeland fort. »Oder besser gesagt, das Menschenherz erwartet die Wunder als strahlende Ereignisse. Mir ward es zum Wunder, wie Ihre Majestät die Schreckenstage der Flucht erlebten. Und für Ihre Majestät sind jene Zeiten gewesen wie ein banger Tod.«

Sie schauerte zusammen. »Ich begreife es ja auch noch nicht, daß ich noch lebe. Manchmal denke ich, als eine Fühllose sei ich hervorgegangen aus all der Not. Es gibt wieder schöne Dinge: daß der Freiherr vom Stein sich versöhnen ließ, daß Kolberg so tapfer verteidigt wurde von Gneisenau und Nettelbeck, daß der Hauptmann von Schill ein Freikorps gegründet hat und mit seinen Ideen die Jugend begeistert, all dies ist Hoffnung. Aber all dies scheint auch, als trüge man Sandkörner herbei, um eine Festung zu bauen. Mein Herz ist in rasender Ungeduld nach dem großen Ereignis – nach der Hilfe des Zaren. Ich habe die Kraft nicht mehr, nicht die Geduld, zu warten!«

Sie war erblaßt, ihre Hände zitterten. Der Arzt wußte wohl, was sie verschwieg: an der mürrischen Laune, an der Unfrische und Ergebung ihres Mannes zerrieb sich ihr Aufstrom.

Wieder begann Hufeland:

»Haben Eure Majestät nie bedacht, daß die großen Prüfungen, die Sie erdulden, nicht ein Zürnen des allmächtigen Gottes sind, sondern sein Liebeswille, der Sie, die Sie gläubig sind von Kindheit an, immer näher zu sich zu führen trachtet? Eure Majestät suchen Hilfe bei einem Kaiser. Auch er ist nur ein Geschöpf des Allmächtigen. Gott aber hat nur einen Mittler zwischen sich und den Menschen gesetzt. Hoffen Eure Majestät auf ihn, Jesus Christus, und mit jedem Schritt wird Ihre Seele stiller werden.«

Luise hob das schöne Gesicht. Sie erhob langsam die hohe Gestalt, sie reichte Hufeland beide Hände:

»Dachten Sie von mir, ich hätte nichts gelernt aus unserm Unglück, das doch erst ein Anfang ist? Aber Sie zeigten mir wohl: es fehlt mir noch viel, mich ganz dem Willen Gottes zu unterwerfen. Ich kann nicht anders, ich sehe im Zaren sein auserwähltes Rüstzeug zu unserer Hilfe. Ist das denn unrecht von mir? Gott bedient sich doch menschlicher Werkzeuge. Er hat seine Lieblingskinder auf Erden, seine stolzen Bekenner. Wer, wie Alexander, für das Edle und Gute kämpft, darf uns doch als ein Werkzeug Gottes erscheinen?«

Hufeland verbeugte sich. Die Königin war dreißig Jahre alt. Durfte man es ihr verargen, daß ihr Glaube an Gott noch den rührenden Weg über den Menschenglauben ging?

 

An einem der stürmischen letzten Märztage erhielt die Königin eine Stafette ihres Gatten, der auf Truppenbesichtigungen war. Friedrich Wilhelm sandte ihr einen Brief des Zaren mit der Meldung seines baldigen Besuches.

Sie konnte wieder lächeln, sie stürmte zu ihren Kindern, brachte ihnen die Freudenbotschaft.

Sie saßen so still in einem kühlen, hohen Zimmer und machten Papparbeiten. Einen Wandschirm für Papa. Sie schnitten namenlos brav Tier- und Menschenfiguren aus alten Zeitschriften aus und klebten sie an die Papierfläche. Der Kronprinz hatte noch Unterricht, Wilhelm ging, ihn zu holen.

»Wir wollen ein Frühlingsfest, einen goldigen Märzentag feiern«, rief Luise in ihrem alten Überschwang. »Es müssen doch Veilchen blühen; habt ihr noch keine gefunden?« »Unter dem Schnee?« fragte der kleine Karl melancholisch. »Oder Weidenkätzchen, gewiß blühen die Weiden schon.« »Ach Mama, über der Dange liegt doch die Eisdecke!« Mein Gott, mein Gott, ja. Man war hier noch in den Wüsten des Winters. Eine Sekunde lang hatte Luise geträumt, sie sei zu Hause in der alten Heimat, in Darmstadt oder drüben am Rhein. An der Bergstraße mochten jetzt schon die Mandelbäumchen rosa überhaucht sein. Sie starrte ihre vernünftigen Kinder an. Ach, sie lebten ja im Elend. Und vielleicht hatte auch ihr Vater nie als Kind Märzenfeste gefeiert. Sie drückte ein paar Blondköpfe an sich. »Als ich von Hildburghausen mit Großmama und Tante Ika nach Frankfurt fuhr, haben wir auch Veilchen auf einer alten Wiese gesucht. Und es blühten doch noch keine. Aber nachher – da sah ich zum erstenmal die blauen Augen von Papa –«

»Papas Augen sind doch grau, waren sie einmal anders?« fragte Charlotte im Ton einer kleinen Dame. Nein, nicht immer war alles grau gewesen. Luisens Arme hoben sich voll drängender Sehnsucht: nicht immer sollte alles grau sein. Der Kronprinz stürzte herein, pausbäckig, nervös, der Enthusiast mit gutgepolstertem Körper. Er vernahm die Lage: »Wenn Mama ein Frühlingsfest wünscht, müssen auch Blumen da sein; Charlotte, Alexandrine, Karl, ihr werdet sofort Blumen suchen, ich befehle es.«

Luise griff in seine Lockentolle. »Sei etwas galanter, bitte. Du hast deinen Geschwistern nichts zu befehlen.« Er wurde dunkelrot. Luise streichelte seine Wange. Sie wußte von sich selbst, wie schwer es sich lernt, Maß zu halten, wenn einem das Leichtaufflackernde im Blute umhertanzt.

»Der Zar kommt, Fritz. Weißt du noch, wie du in Paretz die Karnickel befreitest, weil Alexander die Leibeigenen befreit hatte?«

Dem Kronprinzen schien die Preisgabe seiner kindlichen Tat nicht angenehm. Er wurde noch röter und sprudelte heraus, daß er soeben mit Herrn Delbrück den ersten Kreuzzug durchgenommen habe.

Die Königin durfte sich keine Gelehrte nennen! Ihr Schulwissen war nie glänzend gewesen, ihr Unterricht so, daß er ins tiefe Dunkel der Vergangenheit Lichtstrahlen auf einige Begebnisse und Gestalten warf, die dem Hofprediger und dem Fräulein von Gélieu besonders teuer gewesen.

»Gottfried von Bouillon«, sagte Luise lächelnd. »Ja, nicht wahr, Mama, welch ein lächerlicher Name. Gottfried von Fleischbrühe, Gottfried von Speisehaus, ich hätte mich zu Tode geniert, mit solchem Namen neben Robert von Flandern, Raimund von Toulouse, Robert von der Normandie auszuziehen!«

Der bedächtige Wilhelm wandte ein:

»Gottfried von Bouillon war Duc de Basse-Lorraine.« »Nun, sollen wir dich vielleicht Wilhelm von Pfannkuchen, Prinz von Preußen nennen?« Der Kronprinz berührte mit den Pfannkuchen einen wunden Punkt, Wilhelm aß sie gar so gerne. »Wilhelm Fannkuchen«, krähte die kleine Alexandrine. Erlösendes Wort! »Können wir nicht Pfannkuchen zum Frühlingsfest backen lassen?« fand Luise.

Die alte Gräfin Voß stand auf ihrem Posten. Kaum hatte sie das Rumoren, das Lachen, Laufen gehört, war sie schon an Ort und Stelle. Wie? Man buk Pfannkuchen? Wo man Butter, Mehl und Eier seit Monaten rationierte und sparte? Und die jüngere Kammerfrau war mit den Prinzessinnen zu einem Gärtner nach Blumen gelaufen. Der Prinz Wilhelm färbte mit Herrn Delbrücks roter Tinte Ostereier und richtete sich dabei erbärmlich zu? Und Ihre Majestät befanden sich drüben im Ankleidezimmer, sangen ein Liedchen, mon Dieu, ein Liedchen, das hieß: »Unsere Katz hat sieben Junge?« Lächelnd sagte dies Lisinka Tauentzien. Die Oberhofmeisterin hob sich auf den Stöckelschuhen, die sie der Mode zum Trotz immer noch trug.

»Meine liebe Tauentzien, da haben Sie sich verhört!« Lisinka Tauentzien verbeugte sich gleitend.

»Sie vermuten, teuerste Exzellenz, daß man zu Ehren des Herrn Zaren eine andere Arie sänge? Zum Beispiel: ›Nur wer die Sehnsucht kennt‹?«

Scharfe Antwort wollte kommen. Da raste und polterte es auf dem langen Korridor. Der Kronprinz tobte heran: hochrot das runde Gesicht, wirr das Lockenhaar. Er pustete, blieb sekundenlang stehen, schrie die Damen an: »›Unsere Katz hat sieben Junge‹, ist das nicht fein? Ein Darmstädter Liedchen! Das sangen Ma und Pa, als sie jung waren. Hurra, heute ist Frühlingsfest!« Er warf der Voß eine Kußhand zu, stürzte weiter, ein glühender, toller, wilder Bursch.

Lisinka Tauentzien, schmachtend und spöttisch, bog das aparte und leere Gesicht zu der alten Voß hin: »Nun?«

Die Voß stand pomphaft und steif, so recht die alte Garde.

»Liebe Tauentzien, die Königin kann nicht immer weinen.«

 

Die Königin fühlte, daß sie sich bei der Begegnung mit Alexander Zurückhaltung auferlegen mußte. Ihre Beziehung zu ihm war durch Napoleon der Welt in das höhnische Zwielicht der Verleumdung gerückt. Sie eilte nicht, wie sie wohl gewünscht hätte, dem in Memel Einziehenden entgegen. Sie blieb still in ihren Zimmern, unruhigen Herzens, niedergedrückt in dem Gefühl der Armut, des Elends, wohl auch veränderten Aussehens. Kam er so zurück, wie er sie in Potsdam an jenem unvergeßlichen vierten November von 1805 verlassen hatte? Ach, Unsägliches lag dazwischen. Man lebte ein armes, von tausend Einschränkungen beengtes Leben im letzten Städtchen des Landes: vertrieben, in Not, ungewisser Zukunft.

Würde nicht dieser Kontrast den Kaiser sehr beeindrucken? Sie wartete bebend, daß ihr Mann zurückkäme und ihr vom ersten Wiedersehen berichte. Und während sie so, flüchtigen Schrittes, fast fiebernd vor Erregung, ihre einfachen Zimmer durcheilte, fiel ihr plötzlich jenes Wort ein, das nun Friedrich Wilhelm sich zur Devise erwählt:

»Meine Zeit in Unruhe, meine Hoffnung in Gott.«

Sie lief zu ihrem kleinen Schreibtisch, umklammerte mit den Händen das Miniaturbild des Königs, sah in sein schönes, stilles, melancholisches Gesicht. Wußte: er, der Schüchterne, Zaghafte und unverbrüchlich Vornehme war es gewesen, der ihr Herz verhindert hatte, sich in schweifenden Hoffnungen oder in grenzenlosem Hinfließen zu verlieren. Er war das Brot und das Erdreich ihres Lebens.

Seine Zeit, und damit auch ihre Zeit, ging in Unruhe. Ihrer beider Hoffnung war auf Gott gestellt. Aber Gott rechtet nicht mit den Menschen, wenn sie auch auf die hoffen, denen er Macht auf Erden gab. –

Tränen entstürzten ihren Augen, als sie Alexander erblickte. Sie konnte kaum ein Wort der Begrüßung hervorbringen.

Alexander, von neuem entzückt durch ihre Anmut, und erschüttert von dem so schmerzlich gewordenen Ausdruck ihres geliebten Angesichts, verfiel wieder ihrem Zauber.

»Was haben Sie gelitten, teuerste Freundin, und wie tief ist Ihnen mein Herz verpflichtet«, sagte er leise und lächelte. Dieses Lächeln, in seiner Wirkung dem Luisens verwandt, war seine größte Kraft. Es trug den Schimmer des Verstehens über alle Worte hinaus. Es begrub Herzeleid und Gram.

Dann sprach er hastig auf die Königin ein. Sie errötete vor Freude, er nahm sie ganz als Kameradin, als Bundesgenossin, als Machtfaktor. Sie habe recht, wenn sie auf Entfernung des verräterischen und heimtückischen Generals Zastrow dränge, sie habe doppelt recht mit ihrer Wertschätzung für Hardenberg und Stein.

Durch Alexanders Gegenwart kam freudige Bewegung über alle. Es war, als ginge eine Kraft von ihm aus, eine stärkere Lebensluft, in der man leichter atmete.

Der Ewigunruhige lud die königliche Familie zur Besichtigung seiner Garden ein, die in Kydullen standen, und reiste voraus.

Luise fieberte vor Erwartung. Friedrich Wilhelm wünschte, daß sie mit ausreiten möchte. Sie war sowohl eine elegante als eine ausdauernde Reiterin. Sie mußte lachen, wie genau sich der König über die Einzelheiten ihres Anzugs erkundigte. Natürlich, die verschnürte, pelzbesetzte Reitjacke, den schmalkrempigen, tief in die Stirn gedrückten Hut, gelbe, dänische Handschuhe. Und den Reitstock mit der Elfenbeinkrücke. Friedrich Wilhelm war zärtlich, wie in Tagen, die lang verklungen geschienen.

Ein blasser Frühlingshimmel stand über dem Land. Aufatmen ging durch die Herzen. Luise freute sich, daß der König die Kabinettsräte in Memel gelassen hatte und nur mit Hardenberg verhandelte. Dies war das erstemal, soweit man denken konnte, daß die Kabinettsgeschäfte unmittelbar durch einen Minister erledigt wurden. Ein Zug von Frische lag darin, ein Versprechen, vieles würde anders werden.

Luise sah den Zaren inmitten seiner Garden. Sie sah, körperlich angeregt vom Ritt und im Gefühl eigener guter Wirkung, die stolzen Truppen vorüberziehen, die schier endlosen Truppen. Durfte sie nicht wieder Mut fassen? Diese Garden würden sich einsetzen für Preußens Freiheit!

Sie sah das bunte Feld, sah Waffenblitzen, Fahnen im Wind. Sie dachte nicht an die Schrecken des Kriegs, in ihrem Ohr klang nur das erhabene, das beseligende Wort: die Befreiung.

Der Zar sprengte heran, salutierte vor ihr, drängte sein Pferd an das des Königs und streckte Friedrich Wilhelm beide Arme entgegen. Schwärmerisch klang seine Stimme auf:

»Nicht wahr, keiner von uns beiden fällt allein? Entweder beide zusammen, oder keiner von beiden!«

Luises schier versunkene Schiffe hoben sich auf sonnenbeglänzten Wellen.

Sie mußte sich Zurückhaltung auferlegen. Sie reiste nach wenig Tagen, fuhr fort in dem beglückenden Bewußtsein, daß eine große politische Konferenz der Monarchen und Hardenbergs bevorstand.

Über entsetzliche Wege ging wieder die Reise. Aber sie ging zu Schwester Ika, die im Hause des Grafen Schlieben in Königsberg wohnte. Königsberg! Dort sammelten sich alle Patrioten. Bald würde auch Hardenberg da sein, als leitender Minister. Luise machte Pläne während der mühseligen Reise. Sie war entschlossen, ihre ganze Kraft den Dingen des öffentlichen Lebens zuzuwenden. Ihre Seele beflügelten wieder Mut und Hoffnung.

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Aus einem Briefe der Königin aus dem Jahre 1807.


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