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XV. Kapitel.

Der Hof kehrte nach Berlin zurück. Luise sah sich in einer aufgeregten, von hundert Gerüchten durchschwirrten, von Parteien zerrissenen Stadt. Ihr Bruder George war es, der ihr jetzt die Nachrichten vermittelte. Der frische, kluge Sechsundzwanzigjährige, den ein Ohrenleiden vom Waffendienst ausschloß, besaß Luisens Temperament und ihre Art der Auffassung. Der König wünschte immer noch, daß die Königin nur höre, was er für gut befand. Der Prinz brachte ihr Einblicke in die Stimmung der Stadt. Nicht nur die Offiziere, an ihrer Spitze Prinz Louis Ferdinand, die Generale Blücher, Rüchel, Phull und Schmettau, die Minister Stein und Hardenberg waren in der ungeheuersten Erregung und wollten, daß Preußen die Sache Österreich-Deutschlands zu der seinigen mache und Napoleon den Krieg erkläre. Auch die Bildungsschicht des Landes, Männer wie der Verleger Friedrich Perthes, der Geschichtsschreiber Johannes von Müller und tausend andere, waren in leidenschaftlicher Agitation.

Die andere Partei, Lombard, Beyme, Haugwitz, General Zastrow und der König selbst erstrebten nach wie vor die Aufrechterhaltung der preußischen Neutralität.

Die Königin ersehnte nun eine Wendung durch den Zaren, ersehnte die Nachricht seines Kommens. Sie hatte mit Aufgebot aller Überredungskunst den König endlich dazu bewogen, in diese Zusammenkunft zu willigen und einen Einladebrief an den Zaren abzusenden. Nun wartete sie. All die fieberhafte Unruhe in der Stadt erfüllte sie mit Bangen. Dunkle Gerüchte, aufschwirrend, auftaumelnd wie Krähen über verlassenen Herbstfeldern, quälten.

Sie ritt durch den Tiergarten, gab einem unklaren Wunsch nach, und besuchte die »Ferdinanderie« in Bellevue. Sie hoffte, Prinz Louis Ferdinand zu sehen. Er war nicht zu Hause. Am gleichen Abend, kurz nachdem der König ins Theater gefahren, ließ der Prinz sich bei der Königin melden. Sie empfing ihn allein, im Nebenzimmer saß ihr Bruder.

Louis Ferdinand sagte: »Ich wurde dreimal von Herrn von Köckritz beschieden, Ihro Majestät seien nicht zu sprechen. Der Besuch in Bellevue ließ mich hoffen, heute empfangen zu werden.«

»Ich erfuhr nichts von Ihrem Kommen –« Luise brach ab, erschreckt, entsetzt von dem Aussehen des Prinzen.

Er wandte ihr ein von Leidenschaften verzerrtes Gesicht zu, sein blondes Haar hing in Ringeln halb über die Stirn, seine Augen waren flackernd, fiebernd.

»Sie haben mich endlich gerufen. Endlich also wissen und begreifen Sie, daß wir Verwandte sind – und gleich fühlen, so sehr Sie das auch immer desavouieren wollten. Sie warteten bis zu einer höchsten Notstunde des Vaterlandes. In allerletzter Stunde rufen Sie mich. Hier bin ich, Teuerste. Wie schön Sie sind, Luise.« Und er trat mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Luise, tödlich erschrocken, wich zurück.

»Sie rasen, Prinz.«

Er warf den Kopf in den Nacken, sie sah seine Hände beben, seine Gestalt von Zittern überflossen. Das Licht der Kerzen verflimmerte ihr zu einem unwirklichen Schein. Seine Stimme war voll Ungestüm:

»Soll ich ersticken an den Formeln der Konvention? Muß ich sprechen, wie es meine Kaste und meine Zeit vorschreibt? Hat nicht zu jeder Zeit das Herz eigne Worte für seinen Aufruhr gefunden? Du mein Abgott, du mein Gram, Luise, ich rufe es über die Jahrhunderte, daß ich dich so – heilig liebe.«

Sie streckte in Abwehr die Hand aus, sie weinte fast vor Enttäuschung. Geängsteten Herzens hatte sie Rat gewollt von Louis Ferdinand, und nun hörte sie ein Liebesgestammel.

Großer Gott, was war mit ihm?

Der Prinz, in grenzenloser Erregung, stieß heraus:

»Wissen Sie es nicht, Luise, daß Sie die einzige Hoffnung der Patrioten im Lande sind? Wir ersticken in diesem namenlosen Zustand. Wir ertragen diese Situation nicht mehr. Sie allein vermögen etwas über den König. Ich bitte, ich flehe, hören Sie auf mich –«

Luisens Mundwinkel streckte Hochmut:

»Wahren Sie wenigstens die Form, Prinz Louis.«

Er hatte die Gebärden eines Verzweifelten: »Die Form, Luise? Ich werde tot sein, wenn dir noch Sterne leuchten. Ah, ridikül mit seinem Untergang zu prahlen. Aber dir allein entschleiere ich mein Herz – gieß es in das deine, das zu schweigen gelernt hat. Zu schweigen selbst da, wo der Elan deines Herzens das Heroische fordert und dein Weibtum nichts mehr weiß von den Banden der Hörigkeit, sondern nur das Große – barmherziger Gott, nur das Natürliche will, was in unserem Augenblick die Tat ist.«

Sie fühlte sich von hilfloser Schwäche überrieselt, sie trat an die offene Tür zum Zimmer ihres Bruders.

»Ich bitte, daß Sie mich verlassen.«

Louis Ferdinand lachte auf. »Sie können es auch befehlen. Sie können es auch erreichen, daß Sie mich nicht anders mehr sehen, als uniform, eingeengt, eingeschnürt, eine bunte Puppe mit glitzernden Sternen, mit der Maske statt eines menschlichen Gesichts.«

Es war totenstill im Raume. Sie aber fühlte, als höre sie das Rauschen des Herbststurmes, als höre sie das unfaßliche Klagen des Windes, der über das Land raste. Sie richtete sich auf:

»Sie können nicht zu mir gekommen sein –« ihre Stimme wurde ganz tief und ganz ruhig – »nicht zu mir gekommen sein, Louis Ferdinand – Prinz von Preußen – Neffe des großen Königs – um mir in dieser angstvollen Zeit – als Trost zu geben, daß Sie – mich schön finden.«

Er sah sie einen Augenblick entgeistert an. Dann riß er sich zusammen:

»Ich kam, um Ihnen zu sagen, die Offizierskorps der preußischen Armee wollen den Krieg. Sie wollen, daß jene ungeheuerliche Verletzung der Hoheitsrechte Preußens, die im Durchzug französischer Truppen durch Ansbacher Gebiet liegen, mit dem Schwert gerächt wird. Und sei es gegen den Willen Seiner Majestät –«

Sie antwortete rasch, in letzter Abwehr:

»Was Sie planen, Prinz, ist Revolution!«

»Süßes Wort, Luise. Jedes große Gefühl ist seiner Natur nach revolutionär. Wissen Sie das nicht, Luise? Scheuen Sie, die Ruhe Ihres Herdes, großer Gott – die Ruhe Ihres mütterlichen Bettes zu stören, wenn es – das Vaterland, wenn es die Ehre – wenn es Hohenzollernehre gilt?«

Sie tastete nach einer Stuhllehne.

»Sind wir – denn das Vaterland?«

»Solange wir seine ersten und treuesten Diener sind: ja!«

Ihre Gestalt sank zusammen, sie saß nieder.

»Der König ist für mich der Begriff von Ehre.«

Spöttisch fragte der Prinz: »Nicht auch der bequemen Ruhe, Eure Majestät?«

Sie wurde dunkelrot. »Wie fern sind Sie seiner adeligen Seele! Hat der König es nötig, zu beweisen, daß er Bravour besitzt? Wie Sie, Prinz, stand er als Jüngling mutig vorm Feind. Der König will seinem Volk den Frieden bewahren, weil er den Krieg kennt. Und wenn jenes Monstre aus Paris der Welt die Botschaft des Mordens bringt, in Friedrich Wilhelms schönem Herzen lebt die Religion des Friedens! Und Sie wagen, über ihn zu lächeln? Vielleicht wird eine Zeit sein, da sich Rassen und Nationen vereinigen in der Religion des Friedens.«

Der Prinz stand betroffen. Er senkte das Gesicht, antwortete erst nach einer Pause:

»Sie haben sich tief gebeugt, Königin Luise. Sie vertreten, oder doch, Sie verteidigen, was Sie nicht für möglich halten können. Die Religion des Friedens im brandenden Europa? Im Augenblick der höchsten Gefahr? Luise, lassen Sie den König nicht zum Märtyrer seiner Friedensliebe werden! Es geht darum, daß das Haus Friedrichs des Einzigen – ausgelöscht werden soll. Nun, Königin Luise, ist Ihnen, dies zu verhindern, nicht das Opfer wert, eine einsame Nacht zu haben?«

Ihr Gesicht ward bleich wie das einer Sterbenden.

»Das Haus Friedrichs des Großen –«

»Wird aufhören, ein Machtfaktor zu sein, wenn es sich nicht rasch entschließt, zu handeln.«

Sie erhob sich. »Der König erwartet den Besuch des Zaren. Ich will tun, was ich kann, den König zu einer Allianz mit dem Zaren zu bewegen. Wenn es mir nicht gelingt –« ihre Augen sahen ins Ziellose – »jedem Menschen sind seine Grenzen gezogen. Wir würden verzweifeln, glaubten wir nicht, dies sei Gottes Wille.«

Sie stand einen Augenblick schweigend. Dann kamen matt, automatisch, höfische Worte: »Ich danke Ihnen, Prinz.« Sie machte eine abschließende Bewegung. Er küßte ihre Hände. Seine Stimme klang verändert, resigniert:

»Wir waren bestimmt, einander nahe zu sein –«

Sie starrten einander schweigend an. – –

Kanonendonner begleitete den Einzug des Zaren. Feste um Feste rauschten für ihn. Die Prunksäle des Berliner Schlosses umfaßten eine europäische Gesellschaft. Der Zar mit dem Fürsten Czartoryski und größtem Gefolge, der Vertreter des Kaisers, Erzherzog Anton, Napoleons Gesandter, ein außerordentlicher englischer Botschafter, sie alle waren gekommen, um Preußen für ihre Interessen zu gewinnen.

Eine ungeheuere Spannung lag über Luise, während sie, die große Repräsentation der Monarchie, Tag um Tag, Abend für Abend die Flut der höfischen Feste, die Paraden, Theatervorstellungen, Empfänge durchlief – während aufs neue die faszinierende Persönlichkeit Alexanders ihr Sein erschütterte.

Sie hatte an der preußenfreundlichen Gesinnung Alexanders zweifeln müssen. Jubelnd hörte sie nun, daß er zu einem Bündnis bereit war. Preußen würde für die deutsche Sache mitfechten! Preußen würde sich verteidigen gegen die Übergriffe Napoleons. Doch der König in seiner unbeirrbaren Friedensliebe ließ sich nur auf einen Vertrag ein, der die Bedingungen der bewaffneten Vermittlung Preußens regelte. Graf Haugwitz wurde ausersehen, dem Kaiser Napoleon die Forderungen nach Unabhängigkeit der Schweiz, Neapels und Hollands und Räumung der alten deutschen Reichslande vorzulegen. Die Verwerfung dieser Bedingungen sollte die Teilnahme Preußens am Kriege ohne weiteres zur Folge haben.

Alexander selbst brachte sofort nach Unterzeichnung des Potsdamer Vertrags der Königin die Nachricht der vollzogenen Tatsache. Sie hatte sich Zurückhaltung auferlegen müssen in all den Tagen. Es war nicht das zwanglose Zusammensein von Memel gewesen, sondern immer die große Repräsentation. Sie sah sich zum erstenmal wieder mit Alexander allein. Der Novembersturm ließ die Bäume im Lustgarten erzittern, fuhr in brausenden Strichen die Fensterreihe entlang. Im Kamin prasselten Holzscheite, ohne daß ihre Wärmekraft das Zimmer durchdrang.

»Ein lang ersehnter Augenblick«, sagte Alexander, zog Luises Hände an seinen Mund und nahm mit einer unnachahmlich zärtlichen und zugleich eleganten Bewegung diese Hände sekundenlang an sein Herz. »Ich hatte gehofft, stillere Stunden mit Ihnen verbringen zu dürfen, meine teuerste Freundin. Die Umstände erlauben es nicht. Aber die kleine Stunde, die uns bleibt –«

Sie fragte vor Erregung ganz konventionell: »Eure Majestät wollen uns wirklich heute noch verlassen?«

Er lächelte schwermütig: »Zur Nacht. Doch die Nacht ist noch fern – .«

Sie konnte seine Stimme nicht hören, ohne angerührt zu sein von Geheimnis und Rätsel. So gab sie auch den einfachen, tatsächlichen Worten »die Nacht ist noch fern« eine übertragene Deutung. Ein wenig überhastet sprach sie von ihrer Sorge und von ihrer Hoffnung: Sorge um die Eroberungspläne Napoleons, Hoffnung auf ein klares Bündnis zwischen dem Zaren und dem König. Der Zar, abhängiger von seinem deutschfeindlichen Bruder und seiner deutschfeindlichen Umgebung als von der Freundschaft des preußischen Herrschers, bog dem politischen Gespräch aus. Er tat es auf die liebenswürdigste, galanteste Weise: »Teuerste Freundin, in der einzigen kurzen Stunde, da ich Sie sprechen kann, da ich allein das Glück Ihrer Gegenwart genieße, dürfen wir da nicht bei den persönlichsten Dingen verweilen?« Er sah sie mit seinen verschleierten Augen zärtlich an. Sie fühlte wieder: in diesen Augen träumt seine geheimnisvolle Seele. Er saß ihr nahe, er sprach davon, wie oft er ihrer gedacht. Einmal müsse sie nach Petersburg kommen. Dann erst könne sie ihn ganz verstehen, und ihm dann ganz verzeihen, was sie vielleicht in den letzten Zeiten manchmal an ihm gestört habe. Seine ungeheueren Aufgaben, wie wären sie in wenigen Jahren zu lösen? Die russische Weltmacht, einst auf Barbarei begründet, das russische Weltreich, unerschlossen noch in seinen Schätzen des Bodens, der träumenden Kraft des in seinen edlen Eigenschaften noch unerlösten Volkes, könne nur begreifen, wer es bereist habe. Und er schilderte ihr in flackernder, unruhiger Weise die schönen Landschaften der Krim, die erhabenen Felseneinsamkeiten des Kaukasus – er sprach ihr von der Wolga, dem ewigen Strom Rußlands, und von dem eintönig-schwermütigen Gesang der Wolgaschiffer. Dies alles hieß: Komm. Komm und verstehe mich aus meinem Ursprungsland. Komm – du sehr Geliebte.

Luise vergaß, was sie gegen ihn auf dem Herzen gehabt. Sie sah wieder sein bezauberndes Lächeln, hörte den Schmeichelton seiner Stimme und wußte wieder, es gab seinesgleichen nicht mehr. Er war ein Einziger – er war Feuer und Kraft, vereint mit der Tugend, der unerschütterlichen Reinheit des Herzens. Dann – geheimnisvoll und weich klang seine Stimme – sprach er ihr nun von einem Plan, den er einst zu verwirklichen gedachte, einer heiligen Allianz zwischen den Völkern, einer unsichtbaren Loge im Geiste, deren Tempeldiener einzelne sein würden, vorbestimmt durch ihr Gottesgnadentum, die Welt zu befreien. Betörend klang seine Stimme:

»Luise, ich empfinde unsere Freundschaft als eine heilige Allianz im Geiste. Als eine ewig unzerstörbare, ewig wirksame Nähe der Seelen.«

Sie fühlte seinen heißen Mund am weichen Flaumhaar ihrer Schläfe – sie fühlte seinen Mund auf ihren Händen, und es war, als streiften Alexanders Lippen ein Tabernakel.

War dies das alte Zimmer? War dies – sie selbst?

Alexander saß neben ihr auf dem langgestreckten, modischen Sofa nieder. Sein Gesicht kam dem ihren nahe. Ein Hauch seines Parfüms traf sie, ein Etwas, wie strahlende Gesundheit, flutete herüber. Er hielt Luisens Hände in festem Druck. Und er flüsterte mit seiner weichen, singenden Stimme:

»Unsere heilige Allianz braucht keine Worte. Sie ist in unseren Sternen beschlossen für immer.«

Sie war ihm mit ihrer Seele nahe – und war doch getragen wie in unnennbare Fernen. Auf blauem Meer schwammen silberne Segel, und Gott allein war im Äther.

Wird so – einmal – der Himmel sein, dachte sie – und wir träumen alle wieder wie die Kinder – –

Luise hörte sich plötzlich wieder die korrektesten Worte sprechen. Und sie lächelte Friedrich Wilhelm zu: der Hof war um sie versammelt. »Sieh doch, Fritz.« Der König folgte ihrem Blick: Ja, der Zar war der scharmanteste Mann des Erdkreises. Mit den ältesten und mit den unschönsten Damen hatte er eine Art, die fast der Zärtlichkeit glich. Dafür liebten ihn auch alle.

»Darf ich noch einen Tag bleiben?« wandte sich der Zar plötzlich an die Königin.

Sie erbebte vor Freude. Er war auf dem Weg zu seiner Armee nach Österreich hin. Er opferte einen Tag, um ihr Sanssouci, ihre Pfaueninsel, ihr Charlottenburg noch zu sehen?

Und doch kam die Abschiedsstunde allzu rasch. Beim Souper drückte der Zar plötzlich sein Bedauern aus, daß er das Grab Friedrichs des Großen nicht besucht habe.

»Dies kann noch geschehen«, sagte Friedrich Wilhelm.

Es schlug Mitternacht von den Türmen Potsdams, als man mit Fackelbeleuchtung den Weg zu der Garnisonkirche antrat. Friedrich Wilhelm, Luise, der Zar und ein kleines Gefolge gingen zu Fuß. Der Reisewagen des Zaren fuhr langsam hinterher. An der Kirchentüre blieb das Gefolge, zwei Offiziere vom Regiment Garde du Corps, zurück. Wachskerzen bezeichneten den kurzen Weg zwischen den Bänken zu der ebenerdigen, kleinen Grabkammer.

Die beiden Gardes du Corps standen wie eherne Gestalten. Aber sie flüsterten: »Hätte keine Envie zu solch lugubrer Distraction –«

»Meinen, wenn Ihr Herr Vater in so beschleunigtem Sarge läge, wie des hochseligen Zaren Paul Majestät? Und wenn Sie zu dieser – Beschleunigung etwas beigetragen hätten?«

»Mon Dieu, Kamerad, reden Sie sich nicht auf die Peter-Pauls-Festung.«

»Sans-souci, mein Wertester, Sans-souci ist Parole!«

Das Flüstern wurde leiser:

»Glauben wirklich, der Herr Zar hat – den Mordplan gebilligt?«

»Weeß von nischt, glaube an nischt. Hat ein Geheimnis in den schönen Augen, der Herr Zar. Ist ein Engel, und Engel wissen nichts mehr von Sünde.«

Im engen, ärmlichen Raum stand der Zar zwischen den Särgen des Soldatenkönigs und Friedrichs des Großen. Ein paar Wachskerzen warfen Flackerlicht. Der König verharrte unter der Eingangstür – die Königin hatte ein paar Schritte in das Gewölbe getan. Schauer flossen über ihr Herz. Sie sah, wie Alexander sich vor dem Staub des Unsterblichen beugte, sah ihn erblassen. – Welch ein Geschlecht sind wir, fragte ihr Herz. Des Großen wenigstens teilhaftig durch unser Wollen?

Ein Schluchzen wollte ihr aufsteigen, sie rang es zurück: Alexander küßte den Sarg von Preußens größtem Toten!

Luisens Seele flammte auf vor der Geste dieses Hinfließens. Hände tasteten nach den ihren. Sie fühlte bebenden Druck, erregtes Leben überrieseln in die Kühle, die sie umschauerte.

Schweigend und ernst, schön und gebunden ins Pathoslose stand Friedrich Wilhelm reglos neben den beiden.

Was hätten Worte noch sagen können? Der Zar wandte die rätselvollen Augen ein letztes Mal zu Luise. Dann stieg er in den Wagen. Nachmitternachtswind, Novemberwind seufzte in alten Bäumen. Der Wagen fuhr rasch, verschwand im Nebel. Spukhaft klangen und verklangen Hufschlag und letzte Spur. –

Die Königin verbrachte die nächsten Tage wie im Traum. Sie war so in sich selbst versunken, daß sie die schlechte Stimmung des Königs hinnahm, ohne sie zu deuten. Bis plötzlich Menschen vor ihr standen, Rüchel, Hardenberg, Prinzeß Radziwill im Auftrag ihres Bruders, und ihr sagten, ob sie denn wisse, daß Graf Haugwitz noch nicht abgereist sei, und ob sie ahne, was auf dem Spiele stünde, wenn Seine Majestät nun zögere, die dem Zaren gegebenen Versprechungen einzulösen?

Luise ging wie eine Bittstellerin in Friedrich Wilhelms Arbeitszimmer. Sie vernahm, die Rüstungen des Heeres seien noch nicht fertig. Man könne Napoleon das Ultimatum nicht überreichen, ehe sich die Armee an den Grenzen kriegsbereit gesammelt habe.

Der König schloß sich ein. Er tauschte Briefe mit seinem Hofprediger Sack. Sein Gewissen war geängstet. Als er endlich zehn Tage nach der Abreise des Zaren den Grafen Haugwitz verabschiedete, gab er noch einmal den Wunsch nach Erhaltung des Friedens zum Ausdruck.

Nun waren die Würfel gefallen. Dem Entschluß gegenüber wurde auch der König wieder gefaßter. Anfang Dezember stand die Infanterie kriegsbereit, auch Kavallerie, voran das Regiment Garde du Corps, rückte aus – –

Berlin und Potsdam, erfüllt von den militärischen Operationen, trugen alle Zeichen der Hoffnung. Schwärmerei für den Zaren, Haß auf den Unterdrücker Napoleon gestatteten sich laute Kundgebungen. Die Königin – wartete. Sie lag in Nächten wach und hörte den Schlag des eigenen Herzens. Sie war für immer aus ihrer Ruhe, aus der Sorglosigkeit des Daseins gerissen. Sie wußte es nun ganz: Europa stand in der großen Umgruppierung. Und für den preußischen Staat war eine Schicksalswende vor den Toren.

Äußerlich in langgeübter Form, innerlich von rastloser Unruhe erfüllt, gab die Königin gewohnte Empfänge, gab ihren gewohnten Tee auch an diesem grauen, kalten siebenten Dezembertag. Man saß um den Kamin gesellt. Die Königin hatte ihre Kinder zugelassen. Man machte gerade ein ihrem Alter angemessenes Spiel.

Da war plötzlich Lärm im Palais. Sporen klirrten, Türen fielen heftig ins Schloß. Die Kammerherren eilten, nachzusehen, kamen nicht zurück. Gräfin Voß, einem Wink der Königin folgend, verließ den Raum – und kehrte nicht zurück. Was war geschehen?

»Mama, darf ich hinüber und Köckritz fragen?« bat der Kronprinz. Luise nickte mechanisch. In ihrem Herzen war plötzlich eine schauerliche Stille.

General von Köckritz trat ein. Er verlor selten die Haltung, der stämmige, brave, ehrenfeste Köckritz. In diesem Augenblick war er ein Stotternder:

»Seine Majestät erhielt soeben Stafetten von Ihrem Gesandten in Olmütz: der Herr Zar hat eine Bataille verloren. Der französische Kaiser hat bei Austerlitz das russische Heer vernichtet.«

Alle Blicke flogen zur Königin. Sie saß entgeistert, bleich wie ein Steinbild. Eine Stimme schrillte auf:

»Um Gottes willen! – Und Haugwitz?«

»Der Herr Graf von Haugwitz hat – in Ansehung der französischen Truppenmassen nicht gewagt, dem Kaiser Napoleon vor dieser Schlacht das Ultimatum zu stellen.«

 

Die gelbe Wintersonne des zweiten Weihnachtsfeiertags verglomm hinter den Bäumen des Tiergartens. Ein Reiter jagte die Allee von Bellevue nach Charlottenburg entlang. Der Reiter hetzte sein Pferd. Der Reiter war ohne Mantel, im goldüberladenen Rock des Regiments Gensdarmes. In der Nähe vom Schloß stand das Pferd, schweißbedeckt, atemlos. Prinz Louis Ferdinand saß ab. Führte das Tier zur nächsten Wirtschaft. Befahl noch automatisch: Abreiben, gut zudecken – und rannte aus dem Hause. Wo verstecke ich mich? Wo brauche ich in kein Menschenangesicht zu sehen? Er lief über den Schloßplatz. Das Gitter mit den schwarzen Adlern starrte ihm entgegen. Droben träumte in verschollener Pracht der goldene Saal Friedrichs des Großen. Wo verstecke ich mich? Die Schritte des Prinzen stürmten dem Park zu. Der lag tief in Schneewehen. Jeder Schritt sank in eine kühle, weiche Last.

Das Leichentuch über ganz Preußen! Die Toten werden nicht mehr gerichtet!

Louis Ferdinand lehnte sich an einen Baum. Hier – sah einen wenigstens niemand. Hier konnte man wenigstens fluchen, ohne daß jemand sagte: Still, still, der große Kaiser Napoleon wird die Gnade haben, sich mit des Königs von Preußen Majestät zu verständigen! »Der Herr Zar«, höhnte der Prinz verzerrten Gesichts, »ist immerhin noch ein konzilianter Mann, ein nobler Mann. Nachdem ihm der Feldzug keine Fortune gebracht, vielmehr dem Gegner die Sonne von Austerlitz aufgehen ließ, hat er an den König Boten gesandt, ihn entbindend vom Vertrag von Potsdam. Und des Königs von Preußen Majestät – sehen das an. Köstlich! Entzückend! Die Religion des Friedens ist gerettet!«

Der Prinz hörte plötzlich ein Rufen, sah in der Nähe des Schlosses einen langen Kerl auftauchen, uniformiert wie er selbst. Nostitz! Verflucht, was wollte er hier?

Der Adjutant von Nostitz stelzte heran.

»Eure Königliche Hoheit – der tolle Ritt – ich flehe Eure Königliche Hoheit –«

»Mich ins Bett zu legen? Zum Teufel, Mensch, sind Sie meine Amme?«

Herr von Nostitz hob eine schmale Hand.

»Königliche Hoheit, nur ein paar Worte. Der Graf von Haugwitz mußte auf Befehl der Generalität seine Reise zu Napoleon verlangsamen. Er konnte nicht wissen, was wir heute wissen: wäre das Ultimatum vor der Schlacht von Austerlitz überreicht worden, so hätte sie Napoleon niemals gewagt. Nach dieser Schlacht hat Napoleon zu diktieren. Und wenn Haugwitz nun einen preußisch-französischen Vertrag unterzeichnete: er mußte zwischen Krieg und Frieden wählen. Der Krieg gegen den Sieger von Austerlitz – ich bitte Sie, Königliche Hoheit –«

»Wäre wenigstens noch ein Untergang in Ehren gewesen.«

»Untergang? Aber warum denn Untergang, Eure Königliche Hoheit? Umwandlung ist die Parole. Unser allergnädigster König –«

Der Prinz ergriff den Arm des Adjutanten. »Sagen Sie mir wenigstens – heute diesen Namen nicht. Ein Hohenzoller willigt ein, seine Stammlande abzutreten – und ich – lebe noch?«

Der Adjutant sah zur Seite. Er wußte, die Königin lag in Weinkrämpfen. Um Ansbach-Bayreuth. Um das alte, ihr so teuer gewordene Hohenzollernland, wo sie noch im letzten Sommer so glücklich gewesen.

»Es gab im Augenblick keine Wahl, mein Prinz. Aber der König wird Haugwitz nach Paris schicken, er wird noch verhandeln. Mein Prinz, der Besitz von Hannover, den Napoleon garantiert, ist wohl ein Opfer, das Opfer von Ansbach-Bayreuth, Neuenburg und Cleve wert.«

Louis Ferdinand unterbrach ihn.

»Wissen Sie etwas von Luise?«

Herr von Nostitz sah in die Luft. »Es soll eine schlimme Nacht im Schloß gewesen sein. Konflikte, wie sie noch nie zwischen den Majestäten waren. Die Königin läßt sich nicht beruhigen. Sie weint ohne Aufhören um Ansbach-Bayreuth.«

Louis Ferdinand war eine Stunde später im königlichen Palais. Heute mißbilligte niemand sein Erscheinen. Verstörte, Verstummte wichen gleitend vor ihm zurück. Endlich kam er zu der Gräfin Voß. Sie stand in einem Vorzimmer, das den Blick nach der Oberwallstraße zu hatte. Sinnend betrachtete sie das kleine Palais, in dem einst Prinzeß Ika gewohnt. Es waren schon Stafetten abgesandt, sie und Solms herbeizurufen. Denn bald würde wohl der Marschall Bernadette in Ansbach einziehen.

Die alte Gräfin erschrak vor dem Prinzen. In welchem Aufzug kam er, mit nassen Reitstiefeln, mit verwirrtem Haar! Doch sie gehorchte, ging hinein zu der Königin und fragte, ob Ihre Majestät geruhe, den Prinzen zu empfangen.

Luise erhob das von Tränen entstellte Gesicht. Er kam? Sie winkte Gewährung.

Louis Ferdinand betrat den Raum. Vor dem Anblick der Königin wurde er still. Anklage erlosch. Dieser Frau hatte er keine Vorwürfe zu machen. Man sah es ihr an – sie war bis an die Grenzen gegangen, die Natur dem Weibe gegen ihren Mann setzt. In wortloser Betroffenheit sah der Prinz auf ihren schmerzverzogenen Mund, ihre geröteten Augen. Und endlich stammelte sie mit halbversagender Stimme die zu Gram und Gewissenssache gewordenen Begriffe: »Ansbach-Bayreuth.«

Sein Blick bekam etwas Scheues. Zorn und Ungestüm in seinem Blut verebbten vor dem Anblick Luisens. Daß sie ihn so empfing, ohne den Versuch, die Tränenspuren zu mildern, ohne irgendeine Rücksicht auf Wirkung, war ein Vertraulichkeitsbeweis, den er dankbar empfand.

»Ich bin ganz machtlos«, sagte sie endlich mit zuckenden Lippen. »Ich empfinde es als Notwendigkeit, daß man die Hohenzollernschen Stammlande mit dem Schwert beschützen muß. Die Unterlassung gibt ja zu, daß man das mystische Wort Vaterland nicht mehr für einen sittlichen Begriff hält.«

Der Prinz nickte heftig. »Sondern nur für einen geographischen. Ansbach-Bayreuth liegt etwas unbequem! So denken wohl die alten, schwerfälligen Generale. Sie träumen vielleicht noch von den Fritzischen Schlachten – ihr Ideal aber ist geworden, sich ruhig zu verhalten.«

Sie schluchzte auf: »Unser altes Ansbach, unser Bayreuth, ach, Franken, das geliebte Franken – das alte Hohenzollernland.«

Er näherte sich Luise, sein schönes Gesicht wurde still und feierlich.

»Dieses Unglücksjahr geht zu Ende. Es wird seinesgleichen in der Geschichte Preußens nicht mehr haben, Königin Luise.«

Sie stammelte mit zuckenden Lippen: »Der König muß Hardenberg entlassen, weil Napoleon es befiehlt. Unseren besten Freund müssen wir – opfern. Unsere Regimenter müssen heimziehen, ohne sich geschlagen zu haben – der Zar selbst hat den König von allen Vertragspflichten entbunden. Wir sind Abhängige von dem Ungeheuer in Paris geworden. Großer Gott, verstehen Sie dies, Louis Ferdinand – nicht daß es ist, denn dies fühlen wir – aber – daß – wir noch leben

Im Raume war es Dämmerung geworden. Schneeflocken wirbelten gegen die Fenster. Alle Farben lagen grau, erloschen. Der Prinz richtete sich aus seiner versunkenen Stellung auf, legte seine Hand an das Portépée.

»Ich schwöre es Ihnen, Königin Luise, mit diesem Degen werde ich um die Rückeroberung von Ansbach-Bayreuth kämpfen. Und ich schwöre Ihnen, Luise, ehe ein Jahr vergeht, wird dies geschehen.«


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