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XXIII. Kapitel.

Das Land war zerstückelt, das Land war verwüstet. Niedergebrannte Dörfer, Ruinen von Edelsitzen, gebrandschatzte Städte, durch Lasten und Steuern schier erdrückte Einwohner gaben Zeugnis von der Lage des Staates. Französische Truppen hielten die Festungen, die großen Städte besetzt, trieben die ungeheuerlichen Kontributionen ein. Bettlerscharen durchzogen die Dörfer, Armut und tiefste Einschränkung war das Los der Provinzen, die unter preußischer Herrschaft geblieben.

Luise ging einem neuen Winter in dem harten Klima von Memel entgegen. Ihre tieferschütterte Gesundheit hätte einen Aufenthalt im Süden verlangt. Aber wie konnte sie an eine Entfernung vom König denken? Er brauchte ihre Nähe, ihren Trost. Sein Schicksal war das ihre.

Alles, was Luise in den Jahren von 1804 bis 1806 erlebt hatte, fand seine Wiederholung: Unruhe und Angst, ständige Bedrohung.

Damals aber ging die große Bewegungslinie durch diese Dinge. Jetzt lagen sie in der Niederung des Gefügten. Einst war Unglück das Ereignis, jetzt war es das tägliche Brot geworden.

Verbannt nach Memel! Verbannt in Enge und Armut und ewige Unruhe, denn auch dieses Los konnte einem noch elenderen Platz machen!

Sie wußte, woher all der Jammer kam. Jenes bewegliche Instrument, genannt der Friede von Tilsit, gab Napoleon Recht und Macht zu immer neuen Forderungen und Bedrohungen.

Wohl war Friedrich Wilhelm III. souverän geblieben über die Hälfte seiner Erbstaaten. Aber er mußte sich aus Paris vorschreiben lassen, welche Minister er nehmen durfte, welche äußere Haltung seiner Regierung zustand. Der König, durch die furchtbaren Erlebnisse matt und arm geworden, wußte keine Auswege.

Luise hatte lange die Augen geschlossen vor seinen Unzulänglichkeiten. Als eine rechte Frau schonte sie seine Schwächen. Sie gehörte ihm an, war seine Gattin, er stand ihr hoch über aller Kritik.

Aber das furchtbare Erlebnis des Krieges und des Zusammenbruchs hatte sie verwandelt. Sie konnte und durfte nicht wieder zurücktreten in die einstige Ruhe häuslichen Genügens. Sie hatte die Augen Europas auf sich gerichtet gesehen bei der Begegnung mit Napoleon. Sie war durch die Tragödie des Zusammenbruchs gegangen. Und die tief in ihr Herz verankerte Liebe zum Vaterland verlangte Betätigung. Was sollte werden?

Ein fieberhaftes Verantwortungsgefühl hatte Luisens Seele ergriffen. Sie bemühte sich, die Notwendigkeiten der Zeit zu begreifen und zu erfassen. Ihr Ohr war hellhörig geworden. Mit dem Instinkt der Frau und mit dem Geist der Idealistin begriff sie, daß diese Totenstarre, die über dem Lande zu liegen schien, wie die Ohnmacht war, die einen Körper niederwerfen kann. Oder daß sie der kalten Ruhe von Eisdecken über Flüssen glich, unter denen die Wasser sich sammeln. In unsäglicher Bitternis wußte sie: dem König hatte es sein Schicksal nicht geschenkt, aus tiefster Not sich aufzuraffen zur Führerschaft über sein Volk. Und nach Führerschaft riefen alle im Lande, in deren Herzen das Gefühl der Schmach brannte über die Knechtschaft, über die Abhängigkeit.

Sie wußte, es gab einen Mann, der befähigt war, auch an eine verloren scheinende Sache sein Herz und seine Kraft zu setzen. Es war der Reichsfreiherr Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein. Die Sache Deutschlands betrachtete er als den Sinn seines Lebens. Er vertrat sein Ideal von einer deutschen Nation nicht weich und gefühlsselig. In seinem Wesen lagen unerbittliche Härten, sein Verkehrston war streng, unerreichbar fern lag ihm die Verbindlichkeit und geistige Eleganz Hardenbergs.

Dieses letzte stand als eine Klippe in Luisens Plan. Aber es mußte glücken. Lange innere und äußere Kämpfe gingen voraus, bis die Königin alles vorbereitet hatte zu der zweiten, stilleren Großtat ihres Lebens: die Rückberufung Steins an die Spitze der Geschäfte vom König zu erzwingen.

Wieder stand sie bittend vor Friedrich Wilhelm:

»Darf ich nicht durch Frau von Berg an Stein schreiben lassen?« fragte sie.

Der König wandte spöttisch ein, Stein sei kein Jurist, kein Fachmann, sondern jemand, der den Bergbau studiert hätte.

Sie rief ungeduldig: »Wohin haben uns denn die Fachleute geführt? Eine Reform kann immer nur der Mensch mit unbefangenem Blick machen! Der Fachmann baut ewig weiter an seinem Fach. Er vertraut der unveränderlichen Gültigkeit der Fundamente. Nur der Unbefangene mit dem freien Blick hat die Kraft, auch ein Fundament zu kassieren, wenn er es für schlecht erkennt.«

Der König stand mißmutig am Fenster, langsam formten sich seine Worte: »Haben ungewissen Frieden. Ersticken in Gelderpressungen. Können kaum Atem schöpfen, notdürftig zu existieren. Stein redet von Reformen, ist in Wahrheit ein Revolutionär –«

Sie trat dem König näher. Sie legte die Hände auf seine Schultern.

»Jedes große Gefühl ist seiner Natur nach revolutionär«, sagte sie, ohne Wissen ein Wort Louis Ferdinands wiederholend. »Und eine große Vaterlandsliebe mag wohl auch einmal geheiligt scheinende Tradition zerbrechen, wenn sie fürchtet, unter der Last der alten vermag eine neue Jugend nicht mehr zu atmen! Höre mich doch –« sie nahm die Hand des Königs und streichelte seine schmalen Finger – »wir selbst, als wir so jung an den Hof kamen, litten unter hundert Dingen, die uns alt, unnütz, eine erstarrte Etikette waren, und wie wir damals, so leidet noch heute das Volk unter hundert veralteten Einrichtungen, Lasten, Beschränkungen. Stein will erleichterten Besitz und freien Gebrauch des Grundeigentums schaffen. Und ist der Wunsch nach einem Stück Land oder einem Garten nicht ein so tief begreiflicher für alle?« Sie lächelte dem König zu: »Weißt du noch, wie wir nach Paretz flohen in die kleine einfache Freiheit?« Sie nahm seine Hand an ihre Lippen, stammelte, von Erinnerungen überwältigt: »Ach, weißt du noch?«

Friedrich Wilhelm sah sie still an: »Sprich die alten Namen nicht mehr aus, Luise. Laß uns hoffen, daß wir die Orte unseres Glückes wiedersehen. Wenn es dir so viel bedeutet, so will ich deinen Wunsch erfüllen –«

Sie war am Ziel und begriff gleich: um zwischen Stein und dem König ein gutes Einvernehmen herzustellen, würde viel Takt und Klugheit aufgewendet werden müssen. Sie dachte an seine schroffe, unbiegsame und unhöfische Art. Der König aber gab unendlich viel auf die geschmeidigen Formen des 18. Jahrhunderts, unter denen er aufgewachsen. Die Kabinettsräte hielten sie automatisch fest, Hardenberg waren sie Natur.

Die Ankunft Steins zögerte sich hin. Das Warten wurde quälend. Denn die politische Lage spitzte sich immer mehr zu. In schreckensvoller Häufung kamen neue Botschaften von Bedrückung, Gewalttat, Willkür, eine Flut grauenhafter Einzelheiten des französischen Regiments. Und alles, was an Unterdrückung geschah, bestand scheinbar zu Recht auf Grund des beweglichen Instruments, genannt der Friede von Tilsit.

Die Räumung des Landes blieb abhängig von der Zahlung der Kontributionen. Die Höhe dieser Schuld war aber nicht in festen Zahlen ausgedrückt. Sie sollte nach und nach durch Abrechnungen der französischen Marschälle und Bevollmächtigten festgestellt werden.

Inzwischen waren die öffentlichen Kassen beschlagnahmt, die Steuern zogen napoleonische Beamte ein. Man befand sich völlig ohne Hilfsquellen, als Daru, der Machthaber in Berlin, geruhte, eine Aufstellung zu machen, die von dem zerstückelten preußischen Staat eine sofortige Zahlung von 150 Millionen Franken forderte.

Luise starrte das Wort an: Einhundertfünfzig Millionen Franken!

Was bedeutete diese Zahl? Konnte sie aufgebracht werden, wenn jeder preußische Untertan nichts für sein weiteres Fortkommen behielt als Bett und Tisch? Oder war diese Schuld überhaupt nicht zu tilgen, bedeutete die Nennung der Summe nur ein Hohnwort, das man Ohnmächtigen zuwarf, um ihnen zu sagen, ihr seid verloren?

Sie flüchtete in ihre Zimmer. Mißbefinden überwältigte sie. Sie war wieder guter Hoffnung. Im vierten Monat. Diesem armen unglücklichen Haus sollte wieder ein Kind geboren werden. Sie krampfte die Hände zusammen. Großer Gott, sie wollte die Hoffnung nicht auf Menschen setzen. Aber Gott bediente sich doch der Menschen als Werkzeuge. Wenn nur Stein endlich käme. Sie verzweifelte ja sonst.

Schluchzen stieg ihr hoch, erschütterte ihren Körper. Nein, nein – nicht so haltlos weinen. Das schadete dem Kleinen unter ihrem Herzen. Das war schlecht gegen das Kommende. Sie riß sich zusammen, trocknete die brennenden Augen, ging zu ihrem Schreibtisch. Vielleicht fand sie in Büchern Worte der Aufrichtung, der Ermunterung.

Und sie las; aber was sie zur Hand nahm, waren im Druck erschienene Predigten, gehalten in den Kirchen der abgetrennten Landesteile, der verlorenen, teuren Provinzen. Abschiedsdank an das Haus Hohenzollern! –

 

Der Freiherr vom Stein stand vor der Königin. Sein Gesicht machte sie für Sekunden erschrecken. Ungleiche dunkle Brauen hoben sich in hochmütigem Schwung über großen, gleichgültig blickenden Augen, die lange, starke Nase senkte sich gegen den Mund, um den keine Verbindlichkeit lag. Knapp war die Verbeugung.

Luise sprach Dankesworte für das Kommen des Freiherrn. Sie merkte im ersten Augenblick, daß sie hier nicht durch Anmut siegte, daß ihm ein Frauenwort nicht viel galt.

»Sie treffen uns in unglücklicher Lage«, nahm sie das Gespräch wieder auf. »Eben erfahren wir das Gerücht von der Flucht der königlichen Familie aus Neapel übers Meer.«

Stein unterbrach sie brüsk: »Seine Majestät hat Abdankungspläne. Ihre Verwirklichung würde heißen, daß Preußen zur französischen Provinz erklärt wird. Das darf nicht sein. Der russische Gesandte, Graf Tolstoi, der eben mit mir bei Seiner Majestät war, wird in Paris sich im Auftrag seines Souveräns nachdrücklich für Preußen verwenden. Er wird einen kurzen Aufschub der Schuldzahlungen erreichen. Meine Aufgabe ist es nun, neue Geldquellen zu erschließen. Aber –« Stein hob das volle Gesicht mit dem Doppelkinn aus der weißen Halsbinde – »Ich kann nicht arbeiten, solange diese Kabinettsräte am Ruder sind. Ich muß unmittelbar mit Seiner Majestät verhandeln. Ich verlange die Entlassung von Beyme.«

Sie erschrak, fragte hastig: »Hat der König dareingewilligt?« Stein zuckte die Schultern. Sie bat: »Haben Sie Geduld. Nur kurze Zeit Geduld. Der König kann nicht so leicht sein ganzes bisheriges System aufgeben.«

Die Stimme Steins wurde schneidend:

»Und wohin hat Seine Majestät dies System geführt?«

Mein Gott, dachte sie, und wie soll Friedrich Wilhelm diesen Ton ertragen? Seit er König ist, haben ihm seine Räte alles gefällig und untertänig nahegebracht – er wird mir sagen, Stein diktiert, wie Napoleon diktiert!

»Lassen Sie dem König ein wenig Zeit, Exzellenz. Lassen Sie sich nicht abstoßen durch ersten Widerstand. Ich beschwöre Sie um König und Vaterland, um meiner Kinder, um meiner selbst willen um Geduld.«

Sie überbot sich: »Es ist meine Sache, Exzellenz, daß ich den König dazu bewege, mit Ihnen direkt zu verhandeln und Beyme zu entlassen. Aber auch hierin muß ich um Geduld bitten – der König kann nicht rasche Entschlüsse fassen, es liegt dies nicht in seiner Art.«

Sie sah auf, als erwarte sie Anerkennung. Doch Stein verbeugte sich nur. Seine gedrungene Gestalt, sein unfreundlicher Ausdruck erschienen ihr wie ein steinerner Protest gegen alles, was er hier fand. Schienen ihr wie ein Befehl, sich zu ändern, zu steigern, zu wandeln. Und wie unter einem Zwang rief sie: »Was soll ich noch, Exzellenz? So sprechen Sie doch. Sie finden mich zu allem bereit, was in meinen Kräften steht. Mein Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten ist bisher nur der geringste gewesen. Der König wünschte ihn nicht. Und« – fügte sie mit einem weichen Lächeln hinzu – »ich bin Mutter vieler Kinder. Ich bin oft nicht gesund gewesen. Doch was ich tun kann, soll geschehen. Vielleicht kann sich der Mensch auch über seine scheinbaren Möglichkeiten erheben. Ich bin zu jedem Opfer bereit. Auch zu dem, selbst nach Paris zu gehen, und Napoleon noch einmal um Mäßigung zu ersuchen.«

Sie dachte, sie habe ihr Äußerstes angeboten. Aber der, den sie doch als Retter des Staates ersehnt, blieb verschlossen.

»Das würde eine kostspielige Reise sein, Ihro Majestät. Das oberste Gesetz in diesem Lande heißt jetzt: Sparen, sparen. Nur wenn der Hof darin mit eklatantem Beispiel vorangeht, kann man von Volk und Bürgerschaft das gleiche fordern. Und es muß gefordert werden.«

Sie dachte flüchtig an all die Entbehrungen, die sie erlitten, in denen sie lebte. Ihr wollte es scheinen, als wäre der Titel Königin vielleicht noch der einzige Luxus, den sie führte. Sie enthielt sich einer Klage. Und in der unerschütterlichen Anmut ihres Herzens fragte sie: »Sonst nichts, Eure Exzellenz? Sparen ist Resignation. Und Resignation kann immer nur die halbe Leistung unseres Charakters und unserer Lebenskraft sein. Ich hoffe von Ihnen, Exzellenz, daß Sie mir sagen, wie ich erwerben kann! Ich bin nur eine Frau. Aber ich bin von der Vorsehung auf einen hohen und verantwortlichen Platz gestellt. Sagen Sie mir, wie ich wachsen kann, um diesen Platz wirkungsvoller zu vertreten, als ich es bisher getan habe.«

Da geschah Unerwartetes:

Der Freiherr vom Stein schob seine gedrungene Gestalt der Königin näher, tastete nach ihrer Hand. Sie gab sie ihm mit rascher Bewegung, er küßte sie: »Die Worte Eurer Majestät geben mir schönste Hoffnungen.« –

Unruhe, Unruhe lag um Luise. Sie hatte ihr Wort gegeben, die Verabschiedung des Kabinettsrats Beyme durchzusetzen. Das hieß nun, sie mußte sich häuslichen Unfrieden antun, und ihren Gatten peinigen und quälen, daß er dieses Wort einlöse. Beyme selbst war es, der sie aus dieser Not befreite, er bat freiwillig den König um seine Entlassung, und Friedrich Wilhelm entschloß sich, den ihm so werten Beamten zum Präsidenten des Kammergerichts zu bestimmen.

Luise atmete auf. Sie war entzückt, als Stein nach wenig Wochen seiner Wirksamkeit das Edikt über erleichterten Besitz des Grundeigentums erscheinen ließ. Es war der erste Auftakt zu dem großen Reformplan, das Volk zur Teilnahme an den Interessen des Staates heranzuziehen, die bisher unfreien Stände aus unzeitgemäßen Lasten und Fesseln zu befreien, und sie zu denkenden Staatsbürgern heranzubilden. Aus dumpfem Schlaf aufrütteln wollte er den kleinen Bürger, den Landmann, aus einem Schlaf, der fast zur Agonie geworden.

Bei aller Freude über die Steinsche Tat begriff Luise ihre ganze Bedeutung doch erst durch ein Gespräch mit einem Widersacher des Ministers. Der brave Köckritz ließ fallen: »Nun ist wohl auch bei uns Revolution? So gegen die Hälfte der preußischen Untertanen, die Kleinbauern, Kossäten, Söldner soll man wohl plötzlich Herren titulieren? Können ihre Lausejungens vielleicht Offiziere werden? Nette Geschichte!«

Sie flammte auf. Eine glühende Bewunderung für Stein erfüllte ihr Herz. »Die Befreiung von tausenden Mühseligen und Beladenen! Großer Gott, daß wir dies erreicht haben, läßt viel Trauriges vergessen.« Köckritz antwortete trocken: »Die bedingte Hörigkeit eines Teils der Untertanen war eine gute, alte Sache aus der guten, alten Zeit, Eure Majestät. Hätten wir nur die gute, alte Zeit noch!« Freilich, sie wurde oft zurückgewünscht.

Wieder kamen Schreckensbotschaften aus Berlin. Napoleons Bevollmächtigter drängte zur Zahlung der Kontributionsschulden und verlangte die Krondomänen zwischen Elbe und Oder als Eigentum für Napoleon. Dies war eine letzte Deutlichkeit. Wenn der Kronbesitz eines Landes einem fremden Souverän gehörte, wurde die Krone selbst zum Phantom, zum Schattenbegriff.

Luise empfing die Nachricht im Krankenzimmer durch die Voß. Sie überreichte der Königin das Billett Steins mit der Bitte, er müsse sie schleunigst sprechen. Auch solle herausgelegt werden, was sie an Schmuck und Kleinodien zu eiligem Verkauf in Rußland geben wolle. Es handele sich nun um die letzten Aufgebote, durch Geldzahlungen die Besitzergreifung der Domänen zu verhindern. Mußte der König sie aufgeben, so hieße das, auch der Krone zu entsagen.

Die Königin war unpäßlich, erkältet, von Neuralgien geplagt. Nach solchen Dingen fragte der Minister nicht.

Die Königin fiel weinend in die Kissen zurück, schluchzte: »Will man uns verjagen, so quäle man uns wenigstens nicht mit einem langen Todeskampf. Ich kann nicht mehr!«

Die Voß stand zitternd. »Und ich kann es nicht mehr ansehen, wie man Eure Majestät quält.«

Doch Luise saß schon auf dem Bettrand, versuchte, sich die Strümpfe überzuziehen. Sie taumelte beim Aufstehen. Jammernd leistete die Voß Kammerfrauenhilfe.

Draußen im Salon verbreitete ein Kaminfeuer geringe Wärme. Die Königin fröstelte. Stein beachtete ihr Mißbefinden nicht. Der Fünfzigjährige sprudelte heraus: »Die Agenten Napoleons wollen das preußische Volk zum Abfall von seinem Königshaus bringen. Da dies immerhin auf Schwierigkeiten stößt, wird die Abgabe der Krondomänen verlangt. Die Verwirklichung dieses Projektes würde den Untergang der Dynastie bedeuten. Wir müssen um jeden Preis andere Zahlungsmittel schaffen.«

Luise sah Verzweiflung auf Steins Gesicht. »Ich bin krank, Exzellenz, aber ich kann dennoch nach Paris fahren, wenn es sein muß.«

Der Minister senkte das Gesicht. Und Luise sah sich schon als eine Opfernde, die, wie Gestalten des Altertums alles, was sie an Gütern und Kostbarkeiten besaß, zu einem unersättlichen Moloch herbeischleppte. »Nein«, diktierte Stein. »Aber Eure Majestät müssen an Napoleon schreiben. Die Reise wird Seine Königliche Hoheit der Prinz Wilhelm machen. Doch Eure Majestät sollen an Napoleon und die Kaiserin Josephine schreiben, sie hat selbst viel Schreckliches erlebt.«

Luise bestätigte matt: »Wir müssen das übrige Gott befehlen. Die Menschen und ihre Wahrscheinlichkeiten sind nichts gegenüber Napoleon, il ne ressemble à rien.«

Stein warf ihr einen raschen Blick zu. »Sie halten ihn für außermenschlich? Nun, wir werden sehen. Wollen Eure Majestät bitte gleich jetzt den Brief an Napoleon entwerfen?« Und er drängte ihr eine Feder in die Hand. Sie nahm sie mit der Gebärde des Widerwillens. Malte in steilen Zügen das Wort: »Sire« – hielt inne, fragte: »Und der König? Hat Ihnen der König gesagt, was er zu tun gedenkt?«

Es war ein Augenblick geringschätzigen Schweigens von seiten des Ministers. Dann antwortete er kurz: »Es wird gut sein, wollten Ihro Majestät sich beeilen.« –

 

Der Allerseelentag breitete seine Schwermut über das Land. Die Novemberstürme setzten ein. In diesen grau verhangenen Tagen ward das Warten auf Nachrichten zur drückendsten Last. Luise schleppte sich durch die Zeit. Sie glaubte an den Freiherrn vom Stein. Sie tat willig alles, was er anordnete. Aber sie war liebenswürdigere Formen gewohnt. Mit unerbittlicher Strenge führte Stein alle erdenklichen Vereinfachungen im Hofhalt durch. Er verlangte die Einschmelzung der Tafelgeschirre aus Edelmetall, und er beorderte auf das zurückbleibende Porzellan die sparsamsten Gerichte. »Wir haben kaum zu essen«, entfuhr es Luise beim Anblick des ersten Diners nach Steinschem Sparsystem.

Nicht der Brief an Napoleon, nicht Prinz Wilhelm, nicht die Kaiserin Josephine schufen eine Wendung, sie kam zu Luises unaussprechlicher Freude von Alexander. Briefe trafen von ihm ein, die von seiner Freundschaft Zeugnis gaben: der Zar hatte in Paris ein Nachlassen der überspannten Forderungen erwirkt. Die Domänenfrage trat in den Hintergrund. Freilich um den Preis, daß der König sich herbeiließ, an der Kontinentalsperre gegen England mitzuwirken. In die Besatzungstruppen kam einige Bewegung. Marschall Soult räumte das rechte Weichselufer.

Ein Gedanke durchblitzte Luise: Sie erriet, daß Napoleon seine Truppen für neue Ehrgeizpläne sammelte. Vielleicht zu einer Landung in England? Ihr Lebensbewußtsein erwachte wieder stärker. Und sie fand in Stein einen Verbündeten für ihren Wunsch, daß der König die Hofhaltung nach Königsberg verlegen möchte. Königsberg, die alte Krönungsstadt, zu bewohnen, war für das Ansehen des Monarchen besser, als in Memel in der Verbannung zu leben. Für sich selbst ersehnte Luise einen Klimawechsel und die Möglichkeit besserer Beihilfe für ihre bevorstehende Entbindung. Dieses Argument besiegte endlich das Zaudern des Königs.

Sein Ergehen war Luisens ständige Sorge. Sie sah, daß er in kein wirkliches Verhältnis zu seinem Minister gelangte. Sie wußte nur zu genau, er hatte am liebsten die Mittelmäßigkeit um sich, und in seinem ganzen Wesen lag eine unerschütterliche Abneigung gegen alles, was Genie oder dem Genie verwandt war. Doch Luise fühlte wieder die Hand Alexanders in der Führung ihres Geschickes. Und was ihr Herz so gerne glaubte, durfte sie sich dem nicht hingeben in den Februarwochen, die der Geburt ihrer Tochter Luise folgten?

Ach, eine kurze Zeit konnte sie wieder nur Mutter sein, nur Gattin, nur Freundin! Frau von Berg war herbeigeeilt, der Königin Gesellschaft zu leisten. Und nun, als wieder eine schöngeistige Atmosphäre um sie war, als statt der gräßlichen Begriffe: Kriegsschuld, Kontribution, Napoleon, Daru, Soult, wieder alte, teuere Namen: Goethe, Schiller, Jean Paul an ihr Ohr drangen, war sie fast glücklich. Konnte sie doch mit einer Verstehenden alles besprechen, was sie bewegte. Sie konnte auch endlich jemand im allertiefsten Vertrauen lächelnd mitteilen, daß sie sich oft entsetzlich geniere, wenn ihre Gäste gar so jammervolle Mahlzeiten erhielten.

Eines Apriltages trat die Gräfin Voß vor die Königin und erklärte, sie wolle auf einen Teil ihres Gehaltes verzichten. Luise kamen die Tränen.

»Liebe Voto, so weit ist es doch noch nicht mit uns –«

Doch die Voß beharrte, erklärte: »Alle Offiziere, die hier durchkommen, sind auf halben Sold gesetzt, und es gibt viele, die auch nicht das allergeringste an Sold mehr nehmen. Man weiß, daß manche dieser treuen, armen Offiziere Holz hauen, um ihr Brot zu verdienen, andere bei den Bauern in der Wirtschaft und auf dem Felde arbeiten, nur um leben zu können. Da habe ich, Eurer Majestät treueste und älteste Garde, es denn doch tausendmal besser.«

Die alte Voß, wohl begreifend, wie schwer Luisens freigebiger Hand es fallen würde, die Gehälter ihrer nächsten Umgebung zu beschneiden, sagte listig:

»Teuerste Majestät, untertänig, untertänig, aber ich meine, das Taschengeld für den Herrn Kronprinzen dürfte gerne ein wenig größer sein.«

Luise kam ein halbes Lächeln. Zu all ihren Sorgen war in letzter Zeit eine allernächste, häusliche getreten. Der Erzieher des Kronprinzen schien seiner Aufgabe nicht mehr gewachsen, und der Kronprinz setzte der Absicht seiner Eltern, ihm einen anderen Gouverneur zu geben, leidenschaftliche Auflehnung entgegen. Der Dreizehnjährige, weit über seine Jahre reif, stürmischen und schwärmerischen Temperaments, war zeitweilig sich und seiner Umgebung eine Qual. Er zeigte Trotz, Hochmut und Herrschsucht, mußte strengste Verweise erhalten, und war durchaus nicht auf dem Wege der Vernunft zu lenken. Rührte man an sein Herz, so konnte er sein Mißbetragen mit erschreckenden Tränenströmen bereuen.

»Herr Delbrück soll noch bleiben, bis wir nach Berlin zurückkehren können, der König hat dareingewilligt, und Fritz wird jetzt wieder ruhiger werden. Sie meinen, liebste Gräfin, ein größeres Taschengeld beruhigt eine flackernde Seele?«

Die Voß erwiderte das Lächeln der Königin:

»Untertänig, untertänig, ja. In Seiner königlichen Hoheit regt sich jetzt der junge Herr. Untertänig, wie bei jedem Jungchen, wenn es die Kinderschuhe ausgetreten hat. Da braucht man nicht, wie die klugen Pädagogen es tun, nach Dämonen suchen, die ihn antreiben, Geschwister und Verwandte zu plagen und zu quälen, die ihn unausstehlich ungezogen machen und ihm detestable Manieren geben, wie, untertänig, untertänig, sie der Kronprinz gerade beliebt. Es will eben aus dem Jungchen das Herrchen werden. Meine teuerste Majestät werden bald erblicken, wenn der Kronprinz jede Woche ein paar Taler in seiner Schatulle findet, wird das manche Benehmenskatastrophe in galanteste Liebenswürdigkeit auflösen. Es müßte nicht der Sohn seiner allerhuldreichsten Mutter sein, wenn er nicht einen noblen Charakter hätte.«

»Ein unerwartetes Plaidoyer von meiner gestrengen Oberhofmeisterin«, lachte Luise und fühlte sich beruhigter. Es war doch in diesem Frühling manches überstanden. Es war auch manches aufgeblüht: Auch in Ruinen wachsen wieder Blumen. Patriotische Männer hatten den Tugendbund gegründet, einen Orden zum Schutz des Vaterlandes und des Königshauses. Freikorps bildeten sich in der Stille. Prediger von Bedeutung traten an die Spitze einer nationalen Erneuerung. In Luisens Herz war ein wenig Stille gekommen. Sie hatte den großen Wunsch, ihrem Vater die Sorge um ihr Schicksal zu nehmen. So schrieb sie ihm:

»Königsberg, April 1808.

Bester Vater!

Ich habe mich ergeben, und in dieser Ergebung, in dieser Fügung des Himmels bin ich jetzt ruhig und in solcher Ruhe, wenn auch nicht irdisch glücklich, doch, was mehr sagen will, geistig glückselig. Es wird mir immer klarer, daß alles so kommen mußte, wie es gekommen ist. Die göttliche Vorsehung leitet unverkennbare neue Weltzustände ein, und es soll eine andere Ordnung der Dinge werden, da die alte sich überlebt hat und in sich selbst als abgestorben zusammenstürzt. Wir sind eingeschlafen auf den Lorbeeren Friedrichs des Großen, welcher, der Herr seines Jahrhunderts, eine neue Zeit schuf. Wir sind mit derselben nicht fortgeschritten, deshalb überflügelt sie uns. Das siehet niemand klarer ein als der König.

Gewiß wird es besser werden: das verbürgt der Glaube an das vollkommenste Wesen. Aber es kann nur gut werden in der Welt durch die Guten. Deshalb glaube ich auch nicht, daß der Kaiser Napoleon Bonaparte fest und sicher auf seinem, jetzt freilich glänzenden Thron ist. Fest und ruhig ist nur allein Wahrheit und Gerechtigkeit; und er ist nur politisch, das heißt klug, und er richtet sich nicht nach ewigen Gesetzen, sondern nach Umständen, wie sie nun eben sind. Er ist von seinem Glück geblendet, und er meint alles zu vermögen. Dabei ist er ohne alle Mäßigung, und wer nicht Maß halten kann, verliert das Gleichgewicht und fällt. Ich glaube fest an Gott, also auch an sittliche Weltordnung. Diese sehe ich in der Herrschaft der Gewalt nicht; deshalb bin ich in der Hoffnung, daß auf die jetzige böse Zeit eine bessere folgen wird ... Ist doch alles in der Welt nur Übergang! Wir müssen durch. Sorgen wir nur dafür, daß wir mit jedem Tage reifer und besser werden.

Gern werden Sie, lieber Vater, hören, daß das Unglück, welches uns getroffen hat, in unser eheliches und häusliches Leben nicht eingedrungen ist; vielmehr dasselbe befestigt und uns noch werter gemacht hat. Der König, der beste Mensch, ist gütiger und liebevoller als je. Oft glaube ich in ihm den Liebhaber, den Verlobten zu sehen. Es ist mein Stolz, meine Freude und mein Glück, die Liebe und Zufriedenheit des besten Mannes zu besitzen, und weil ich ihn von Herzen wiederliebe und wir so miteinander eins sind, daß der Wille des einen auch der Wille des andern ist, wird es mir leicht, dies glückliche Einverständnis, welches mit den Jahren inniger geworden ist, zu erhalten. Mit einem Worte, er gefällt mir in allen Stücken und ich gefalle ihm, und uns ist es am wohlsten, wenn wir zusammen sind. Verzeihen Sie, lieber Vater, daß ich dies mit einer gewissen Ruhmredigkeit sage; es liegt darin der kunstlose Ausdruck meines Glückes.

Unsere Kinder sind unsere Schätze, und unsere Augen ruhen voll Zufriedenheit und Hoffnung auf ihnen. Der Kronprinz ist voller Leben und Geist. Er hat vorzügliche Talente, die glücklich entwickelt und gebildet werden. Er ist wahr in allen seinen Empfindungen und Worten, und seine Lebhaftigkeit macht Verstellung unmöglich. Er lernt mit vorzüglichem Erfolge Geschichte, und das Große und Gute zieht seinen idealischen Sinn an sich. Ich spreche oft mit ihm davon, wie es sein wird, wenn er einmal König ist.

Unser Sohn Wilhelm (erlauben Sie, ehrwürdiger Großvater, daß ich Ihre Enkel nach der Reihe Ihnen vorstelle) wird, wenn mich nicht alles trügt, wie sein Vater, einfach, bieder und verständig. Auch in seinem Äußeren hat er die meiste Ähnlichkeit mit ihm; nur wird er, glaube ich, nicht so schön. Sie sehen, lieber Vater, ich bin noch in meinen Mann verliebt. Unsere Tochter Charlotte macht mir immer mehr Freude. Sie hat etwas Vornehmes in ihrem Wesen. Erhält sie Gott am Leben, so ahne ich für sie eine glänzende Zukunft. Karl ist gutmütig, fröhlich, bieder und talentvoll; Alexandrine, wie Mädchen ihres Alters und Naturells sind, anschmiegend und kindlich. Von der kleinen Luise läßt sich noch nichts sagen, möge sie ihrer Ahnfrau, der liebenswürdigen Luise von Oranien, der Gemahlin des Großen Kurfürsten, ähnlich werden.

Da habe ich Ihnen, geliebter Vater, meine ganze Galerie vorgeführt. Sie werden sagen: das ist einmal eine in ihre Kinder verliebte Mutter! Nun, sie haben, wie andere Menschenkinder, auch ihre Unarten; aber diese verlieren sich mit der Zeit, sowie sie verständiger werden. Umstände und Verhältnisse erziehen den Menschen, und für unsere Kinder mag es gut sein, daß sie die ernste Seite des Lebens schon in ihrer Jugend kennenlernen.

Geliebter Vater, ich empfehle Ihrem freundlichen Andenken meinen Mann, auch unsere Kinder alle, die dem ehrwürdigen Großvater die Hände küssen; und ich bin und bleibe, bester Vater, Ihre dankbare Tochter

Luise.«


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