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Hoch über dem rauschenden Wildbach, wo der hervorbrechende Strom morsches Gestein gesprengt und im tollen Wirbel rollende Blöcke übereinandergewälzt – da liegt ein Mann auf feuchtbespülter Klippe, miterzitternd von der Erderschütterung der niederstürzenden Wassermasse. – Mit rauher Wange drängen sich unheimlich nahe die von Gischt triefenden Felswände an ihn und klemmen ihn ein in den kühlen moosigen Spalt, durch den kein Stück Himmel sichtbar ist, kein Sonnenstrahl sich hereinstiehlt.
Hier rastet der Wanderer, der, um alles betrogen, den Weg zur Heimat sucht. – Den Kopf auf die Hand gestützt, schaut er schwindellos nieder in den Schwall des schäumenden, zerstäubenden und sich ewig erneuernden Falls! Vor sich auf dem Gestein hat er ein kleines Taschenbuch liegen, – dahinein schreibt er mühselig Schmerzensworte, – wie sie ihm aus der Seele quellen – langsam und zäh, gleich den harzigen Tropfen, die nur aus dem geritzten Baum träufeln. Denn wo ein Menschenherz eine tiefe tödliche Wunde empfängt, da ist es, als ob die Poesie, die im Mark des Volkes unbewußt lebt, der Wunde entströmte. – Alle unsere alten, wehmütigen Volkslieder, sie sind solche Tropfen aufgefangenen Herzblutes. Denn wer seinen Schmerz heilig hält, der läßt ihn nicht in die Erde versickern, der sucht ihm eine Form, in der er ihn bewahren kann, in der jener wiederum zu ihm redet, mit der einzigen Stimme, die der Einsame noch hören mag: der des eigenen Echos. So ringt sich's allmählich aus dem Herzen des Unglücklichen los – bald ein Wort, bald eine Träne – und endlich ein Vers. Der Sohn eines Gebirgsvolks, das gewohnt, seine Schmerzen und Freuden hinauszusingen, zu jubeln und zu weinen, dichtet sich selbst sein trauriges Wanderlied, – denn keins der Lieder, die er kennt und im Gedächtnis trägt, spricht es aus, das namenlose Weh, das er erfahren. Er weiß nicht, wie er es macht – er weiß nichts von Metrik und Reimkunst. Nur aus dem natürlichen Gefühl für Rhythmus und Tonfarbe heraus hat er das Gleichmaß des Verses, die Anordnung des Reimklangs gefunden. Und als er es fertig hat, das heißt, als er alles gesagt, was er fühlt, da kommt's ihm vor, als sei das Lied ihm zugeflogen, wie auch wohl einmal der öden Felswand der Same einer Kulturpflanze zufliegt und dort aufgeht. –
Aber jetzt, nachdem er die Form dafür geschaffen, erfaßt ihn erst die ganze Größe seines Elends!
Er birgt das Büchlein in die Brusttasche und erhebt sich, weiterzuschreiten auf dem mühvollen Pfad, den er sich ausgesucht, hoch über die Berge, wo nur vereinzelte Gehöfte liegen und er keinem Menschen begegnet. –
Und während die Gräfin Wildenau daheim im verlassenen Jagdschloß über den zurückgelassenen Hüllen weint, mit denen er die Knechtsgestalt abgestreift, schreitet der Auferstandene über die Höhen dahin, vom Nachtwind umsaust, vom Regen gepeitscht, im dünnen Röcklein, – frei – aber auch vogelfrei, dem Schmerz, den Elementen – dem Hunger! – Frei, aber so frei, daß er nicht einmal ein Obdach hätte, wo er sein Haupt innerhalb vier schützender Wände bergen könnte. –
»Vorbei, vorbei sind Lieb und Treu,
Im Wind verweht wie eitel Spreu –
Und nichts geblieben, als die Reu
Und langes Leid, das ewig neu!
»Ich hab' nicht Hof, ich hab' nicht Haus –
So arm und bloß zieh' ich hinaus,
In Wetternacht, in Sturmesgraus –
Mein Stab zerbricht, mein Stern löscht aus!
»Von Sturm zerschlissen das Gewand,
Das Hirn versengt vom Sonnenbrand,
Das Herz zerfleischt von Menschenhand,
Ein Schatten – schleich' ich durch das Land.
»So kehr' ich heim, gebleicht das Haar,
Des Glaubens und der Liebe bar –
Und wer mich sieht, der schlägt wohl gar
Ein Kreuz vor mir – daß Gott bewahr'!«
So tönt das düstere Wanderlied durch die Nacht, von Gipfel zu Gipfel, von Höhe zu Höhe, auf der Strecke vom Grieß nach Ammergau. Und wo es vorbeikommt, da flattert erschreckt der Vogel vom Baum am Wege tiefer in den Wald, da flüchtet das Wild und lauscht im Dickicht, da zuckt das Kind in der Wiege zusammen und weint im Schlaf. Auf den einsamen Höfen bellen die Hunde.
»Es war keine Menschenstimme, es wird ein geschossenes Tier oder ein Uhu gewesen sein,« tröstet der Bauer sein aufschauerndes Weib und lauscht noch eine Weile dem geisterhaft verhallenden Klageton, bis alles wieder still ist – und der Spuk vorüber. Doch als es wieder Morgen wird und die Zeit da, wo das Gebetläuten alle bösen Geister verjagt, da verstummt auch das Lied und nur das, was es geweissagt, wird wahr! Wer in dem heruntergekommenen Mann mit den hohlen Augen und Wangen den Christus-Freyer von Ammergau erkennt, der möchte wohl vor Schreck ein Kreuz schlagen und rufen: »Daß Gott bewahr'!« Aber je heller es wird, desto tiefer birgt er sich in den Wald. Er schämt sich! – Und immer matter wird sein Gang, immer schlechter sein Anzug vom langen Marsch im Regen und Sturm.
Er hat noch einige Pfennige in der Tasche – gerade so viel, als er besaß, da er Ammergau verließ. Die spart er sich auf für die Einkehr, die er einmal in vierundzwanzig Stunden halten muß. – Er könnte Ammergau leicht um Mittag erreichen, – aber er mag nicht bei Tag dort einziehen, als ein zerlumpter Bettler. Deshalb rastet er tagsüber und wandert bei Nacht.
In einem altehrwürdigen Einödhof, dem »Schild«, am Wege von Steingaden nach Ammergau, spricht er vor, aber nicht beim Wirt, – nur den Knecht fragt er, ob er sich ein paar Stunden in die Streu legen dürfe? Und der besinnt sich eine Weile, ehe er es erlaubt, – so zweifelhaft sieht ihm der Mann aus. Aber zuletzt sagt er: »No so flagg di nei', aber daß d' mir nix mitgeha heißt, wannst d' ausg'rascht' bischt!«
Freyer schweigt. Jetzt kocht der edle Zorn nicht mehr in ihm auf, der ihn den gräflichen Lakaien vor der Tür der Gattin zur Seite schleudern ließ – jetzt ist's die Heimat, die ihn straft, die in ihrer rauhen Sprache zu ihm redet, – die darf ihm sagen, was sie will, er nimmt's hin, wie der Sohn von der Mutter. Er hängt sein vom Regen durchnäßtes Gewand zum Trocknen in die Sonne, die jetzt wieder warm scheint, dann schlüpft er in die Tenne und legt sich in die Streu. Ein wohltätiger Schlummer umfängt ihn. Armut und Niedrigkeit nehmen die gebrochene Seele mit liebendem Mutterarm auf, wie ein Armer die welke Blume, die der Reiche achtlos weggeworfen, aufhebt und im tönernen Scherben daheim wieder aufblühen läßt.
Ruhe aus, müde Seele! Du brauchst die einfach edeln Proportionen deines Seins nicht mehr zu dehnen und zu verzerren, um sie Verhältnissen anzupassen, für die du nicht geboren. Du brauchst nichts anderes mehr zu sein, als was du bist, ein Kind des Volks, das da gesäugt ward am heiligen Busen der Natur und immer wieder dahin zurückkehren kann, ohne sich dessen schämen zu müssen! Denn siehe, Armut und Niedrigkeit breiten den schützenden Mantel über dich aus und entziehen dich den Blicken des Hohns und der Verachtung, die dir das Herz zerrissen.
Friede liegt auf dem Antlitz des Schlummernden, aber tief und schwer sind seine Atemzüge, als ob ein mächtiges Gefühl unter der ruhigen Oberfläche des Schlafes seine Seele bewege, und aus den geschlossenen Lidern stiehlt sich eine Träne.
Mehrere Stunden rastet der erschöpfte Körper so im Zwischenspiel von Wachen und Schlafen, von unbewußtem Schmerz und Trost.
Droben »Auf der Wies«, eine Viertelstunde vom »Schild«, läutet's in der Wallfahrtskirche. Da ist ein uralter Christus, »Unser Herrgott von der Wies«, schlichtweg »das Wiesherrle« genannt, aus verwittertem bemaltem Holz am Marterpflock mit Ketten behangen, die rasseln, wenn das Bild ungläubig verspottet wird, und mit rechten Haaren, die immer wieder wachsen, wenn eine ruchlose Hand sie beschneidet. Es kann auch zu Zeiten besonderer Heimsuchung Blut schwitzen und viel Hunderte pilgern herauf auf die »Wiese«, das weit und breit beliebte, wunderkräftige »Wiesherrle« vertrauensvoll aufzusuchen. – Es ist ein schreckliches Bild des Leidens und man muß zuerst ein leises Grausen überwinden, wenn man den gegeißelten Leib und das nachgedunkelte, schmerzverzerrte Gesicht mit dem schwarzen Bart und den langen Haaren sieht, wie sie oft Toten im Grabe noch gewachsen. Und das Gesicht schaut einen mit gläsernen starren Augen unverwandt an, als wolle es fragen: »Glaubst du an mich?« Der ausgemergelte Körper ist so natürlich, daß es gerade so gut ein einbalsamierter Leichnam sein könnte, den man so aufrecht hingestellt. – Aber das Grausen verliert sich, wenn man eine Zeitlang hinschaut, denn ein Ausdruck bei Duldens liegt doch in dem unheimlichen Gesicht und das starre Auge beginnt die Wimpern zu regen, das Bild belebt sich, leise schwankt die Kette und die geronnenen Blutstropfen werden wieder flüssig. Warum sollten sie auch nicht? Das Herz, das ewig liebt, kann auch dem Glauben ewig bluten. – Hunderte von wächsernen Gliedern und silberne Herzen, herausgeschworener Knochen und sonstige Anomalien geben Zeugnis von überstandenen Drangsalen, wo das Wiesherrle geholfen hat. – Aber auch böse kann es werden, das beweist sein Kettenrasseln, wenn es gereizt wird, und dies gibt ihm etwas Gespenstisches, Dämonisches und macht es zugleich gefürchtet.
Unter dem Schutz dieses seltsamen Christusbilds, dessen Macht sich über die ganze Hochebene dort droben erstreckt, ruht unbewußt das lebendige Christusbild von einst. – Da weckt ihn von der Kirche herüber Vespergeläute. Er fährt rasch auf und stößt im Aufstehen an den Hackklotz, wo das Holz gespalten wird. Eine Sperrkette, die darauf hingeworfen, fällt herunter. Freyer hebt sie auf und hält sie einen Augenblick, bevor er sie auf den Pflock zurücklegt, in der Hand, der Geißelung im Passionsspiel gedenkend.
»Jesus Maria, das Wiesherrle!« schreit eine Stimme erschrocken und die Tür von der Wohnstube zur Tenne, die leise aufgemacht worden, wird heftig zugeschlagen.
»Vater, Vater, kommt g'schwind – 's Wiesherrle ischt in der Tenna« – schreit es drinnen mit zitternder Angst.
»Dumm's Madle,« hört Freyer nun einen älteren Mann sagen. »Bischt verruckt? Was hascht denn g'secha?«
»G'wiß Vater, auf Ehr' und Seligkeit, geat's nur naus, 's Wiesherrle steat drauß z' mittla im Heu und Stroh. – I han's jo g'secha! Ach, unser Herrgott steh mir bei und 's heilig' Kreuz, Amen!«
Und Freyer hört, wie die Dirne stöhnend und schwer auf die Ofenbank fällt. Dann hört er den Vater ärgerlich: »Narrets Ding du, narrets!« brummen und mit den nägelbeschlagenen Schuhen auf die Tür zugehend. »Isch Ebber da draußt?« fragt er und schaut hinaus. Aber als Freyer auf ihn zutritt, fährt der Bauer fast selbst erschrocken zurück: »Ah Sakra, was ist dös! Was derschreckt's ei'm denn so, könnt's nit red'n?«
»Ich gab' den Knecht gefragt, ob ich ein wenig da rasten dürft und nachher Mittag machen, und da bin ich verschlafen.«
»Des werd's schon wissa, warum Des so faul seid's, – werd's d'Nacht zum Tag g'macht habe! Nachher schaut's drei, daß d'Leut an Enk derschrecka! Macht's daß'ts weiter kämt's und schlaft's Enkere Räusch' wo anderscht aus! Mir braucha koa Mirakl – und koane Wiesherrla im Haus.«
»Ich bezahle alles!« erwidert Freyer demütig, fast bittend und streckt dem Wirt seine kleine Barschaft hin, denn Hunger und Durst überwältigen ihn.
»Was frag' i nach Enkere paar Batze, des wär' mir a Zech!« brummt der Wirt ärgerlich und schlägt die Tür ins Zimmer wieder zu.
Da steht der unglückliche Mann, in dem die ahnende Seele des Mädchens mit Schauder den gemarterten Christus erkennt, dessen Jammergestalt aber der derbe Bauer als einem Landstreicher die Tür weist, – hungernd und dürstend, zum Sterben kraftlos und soll heute noch einen Weg von fünf Stunden machen. Er nimmt seinen Hut und Stock, hängt sein getrocknetes Gewand über die Schulter und geht.
Wie er hinaustritt, hört er noch die letzten Klänge des Vespergeläutes, und jetzt auf einmal zieht es ihn zu dem, mit welchem er soeben verwechselt worden, und ihm ist, als riefe er ihm mit der verhallenden Glockenstimme zu: »Komm zu mir, ich hab' einen Trost für dich!« Und er schlägt den Waldpfad ein, der zum Wiesherrle führt. Bald ist die stattliche, weiße Wallfahrtskirche erreicht und er tritt hinein in das Innere, wo der prunkhafte Zopfstil des vorigen Jahrhunderts mit den rohen Anschauungen des Gebirgsvolks, für das und durch das sie erbaut ist, wechselt.
Da sind Totenschädel, Heiligengerippe und pausbäckige Amoretten, grausige Martyrien und arkadische Schäferinnen, nackte Sünderinnen und Teufel, die sie in die Tiefe reißen, Gotteslämmer und Höllenhunde, alles durcheinander! Und über dem chaotischen Gewirr wölbt sich auf phantastischen Säulen die mächtige Kuppel mit einem perspektivisch gemalten Himmelstor, das sich je nach dem Standpunkt des Beschauers bald legt, bald stellt, – bald verkürzt, bald streckt. Ein Kranz von Dachluken, ebenfalls schön dekoriert, durch welche der blaue Himmel hereinschaut und bauende Schwalben aus und ein fliegen, bildet gleichsam das Geschmeide in der Architektur der Schlußkrone. Auch das Gottesauge fehlt nicht, ein erblindetes Stückchen Spiegel, das inmitten goldener Strahlen über der Kanzel eingelassen ist und blitzen soll, wenn die Sonne scheint. – Und dergleichen Spielereien mehr. Es sind die läppisch überladenen Formen einer üppigen, sinnlichen Welt, die sich nach einer besseren Welt sehnt, aber sich auch diese nur in dem korrumpierten Geschmack ihres eigenen Zeitalters denken kann.
Und da ist es, in einem Glasschrein, mitten unter all dem Flitterkram, auf dem goldverschnörkelten Hochaltar, das arme schlichte Wiesherrle am Marterpflock, in Ketten. Und die beiden, das hölzerne Gottesbild und das von Fleisch und Blut, stehen sich Aug' in Auge gegenüber, – der Christus von Ammergau grüßt den Christus von der Wiese. Es ist wahr, sie sehen einander ähnlich, wie das Leiden und der Schmerz! – Lange kniet Freyer vor dem Wiesherrle und was die beiden sich vertrauen, hört nur Gott, in dessen Dienst und durch dessen Kraft sie wirken – jeder in seiner Art.
»Du bist glücklich,« sagt das Wiesherrle. »Glücklicher als ich! Mich schuf nur Menschenhand und nur der Glaube belebt mich; wo der fehlt, da bin ich eine tote Holzpuppe, die man ins Feuer wirft. Du aber bist von Gott erschaffen, du lebst und atmest, kannst dich bewegen, handeln – und was das Höchste ist, leiden wie der, den wir vorstellen! Ich beneide dich! –«
»Ja!« ruft Freyer. »Du hast recht; leiden wie Christus, das ist das Höchste! – Mein Gott, ich danke dir, daß ich leide!«
Das ist der Trost, den das Wiesherrle für seinen kranken Bruder hat. – Es ist ein einfältiger Gedanke, aber er gibt ihm die Kraft, alles zu ertragen. Man meint immer, für ein großes Unglück brauche es auch einen großen Trost. Das ist gar nicht wahr, je ärmer der Mensch ist, desto mehr Wert hat ihm die kleinste Gabe, und je unglücklicher er ist, – der kleinste Trost! Gerade wer ganz verarmt, der nimmt vorlieb mit dem Geringsten. Dem Reichen, der Tausende verlor, aber noch Tausende besitzt, ist es kein Trost, wenn ihm ein Goldstück geboten wird, das dem Armen, der nichts mehr hat, ein Vermögen dünkt. – Dem rüstigen Landwirt, dem ein Hagel seine Felder zerstörte, ist es kein Trost, wenn man ihm eine Blüte schenkt, die in der schwülen Dachkammer eines Kranken Freude und Entzücken verbreiten würde.
Wir fragen oft bei einem großen Unglück: Was gab dem Menschen die Kraft, das zu überstehen? Und es war nichts anderes, als jene kleinen Tröstungen, die eben nur der Unglückliche kennt. Die Seele, die den Verlust eines geliebten Wesens beklagt, während ihr noch viele andere zur Seite stehen, tröstet es nicht, wenn ihr eine leblose Marterfigur Geduld predigt – dem Verlassenen aber, der nichts mehr hat, was zu ihm redet, wird das tote Holzgebilde zum Freund und seine stumme Sprache zum Trost! –
Neben dem Altar steht ein Opferstock. Die milden Gaben, für die er bestimmt, sollen zur Erhaltung der Kirche und des Wiesherrle dienen, das ja doch auch von Zeit zu Zeit ein neues Hüfttuch bekommen muß! Dahinein wirft Freyer die paar Pfennige, die er noch hat und die von dem Schildbauer verschmäht wurden, weil er dem Wiesherrle so ähnlich sah, nun sollen sie diesem auch gehören. – Ihm ist zu Mut, als brauche er sein Lebtag kein Geld mehr, als höbe ihn der Trost, den er hier empfing, über jede Erdennot und Erdensorge hinaus.
Es dämmert schon, die Sonne ist hinter den blauen Höhenzügen der Pfrontner Berge untergegangen und jetzt schlägt die Stunde – die große heilige Stunde der Heimkehr.
Schon fühlt er selig den Pulsschlag der Heimat, einen geheimnisvollen Zusammenhang dieses Ortes mit dem fernen Ammergau. Und er hat recht: Wie kindlich auch hier das Göttliche dargestellt, es ist doch schon das Rauschen jener verborgenen Glaubensquellen darin, die im Passionsspiel zusammenfließen und den großen Glaubensstrom bilden, der eine dürstende Welt speisen soll. Wie wir oft auf unwirtlicher Höhe im wilden Gestrüpp das leise Murmeln eines versteckten Bächleins jubelnd begrüßen, das unten im Tale als mächtige Lebensader das Land unserer Heimat tränkt, – so sehnsüchtig will der heimstrebende Wanderer weiter eilen – ihr nach, der geheimnisvollen Quelle, die ihn zum Herzen der Mutter führt. Aber die Kniee brechen dem Hungernden, er kann nicht weiter, die Menschennatur macht ihr Recht geltend. Er muß essen, sonst bleibt er liegen. Aber woher etwas bekommen? Die letzten Pfennige sind im Opferstock, – er könnte sie nicht mehr herausnehmen, auch wenn er wollte. Es geht nicht anders – er muß jemand bitten – um Brot! Mühsam schleppt er sich hinüber zum Pfarrhof, – dort will er es wagen, der Geistliche wird weniger vor dem »Wiesherrle« erschrecken als der Bauer. Dreimal versucht er die Schelle zu ziehen, aber nur ganz leise. Ihm ist, als höre es die ganze Welt, daß er die Glocke zieht, um – zu betteln! Aber wenn sie nicht klingelt, öffnet ja niemand. Endlich, mit einer Anstrengung, als sei es der Glockenstrang des Kirchturms, – hat er geläutet. – Die Klingel tönt schrill. Die alte Pfarrersköchin öffnet. –
Freyer nimmt den Hut ab. »Dürfte ich Sie vielleicht um ein Stückchen Brot bitten?« stammelt er leise, und es ist, als sänke die hohe Gestalt mit jedem Wort mehr in sich zusammen.
Die Köchin, die keinen Bettler abweisen darf, mustert ihn einen Augenblick halb mitleidig, halb ängstlich. »Gleich!« sagt sie und geht, um etwas zu holen, macht aber vorsichtig die Tür vor ihm zu und läßt ihn draußen stehen, wie man es bei verdächtigen Individuen tut. Freyer wartet, den Hut in der Hand. Der Abendwind streicht frostig über die Hochebene und weht ihm die Locken um das unbedeckte Haupt. Endlich kommt die Köchin und bringt ihm Suppe heraus, mit einem Stück Brot, und – Freyer dankt und ißt es! Er darf sich dazu auf die Bank vor dem Haus setzen. Als er fertig ist, gibt er der Frau das Schüsselchen zurück – aber die Hand zittert ihm so, daß er es beinahe fallen gelassen hätte, und seine Stirn ist feucht. Dann grüßt er, nochmals dankend, ohne aufzublicken, und geht seines Weges weiter.