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Es ist Morgen! Die Lampe ist fast ausgebrannt! Josepha und die Gräfin sind um den Knaben beschäftigt, der von einem kurzen, trockenen Husten im Schlaf gestört ist. – Die Gräfin ist über Nacht dageblieben und hat nur wenige Stunden geruht. Sie hat Momente von Muttergefühl, wenn sie bei dem Kleinen ist! Dann findet sie, daß es schade um ihn wäre, und es ergreift sie die Angst, daß Gott ihr ein hohes Gut entziehen könne, weil sie es nicht zu schätzen gewußt! Es wäre nur gerecht, das sieht sie selbst ein – und weil es gerecht wäre, deshalb dünkt es ihr auch wahrscheinlich, und ihr Herz sucht in wenig Stunden nachzuholen, was es in Jahren versäumt. Vielleicht, daß es sich dadurch noch loskaufen könnte von der Strafe! – Aber wenn sie wieder fort ist, dann tritt das kleine, bleiche Gestirn an ihrem Horizont in den Hintergrund vor den bunten Erscheinungen der Welt, in der sie lebt, und nur manchmal, in einzelnen Momenten, empfindet sie es an einem dumpfen Schmerz, daß Gefühle in ihr schlummern, die nicht zur Entwickelung kommen können, und um die es schade ist, – wie ein Schatz, der an einer Stelle verborgen liegt, wo er nicht gehoben werden kann. Es ist die Analogie zu dem Gleichnis vom Knecht, der sein Pfund nicht wuchern ließ. Dieses Pfund, das Gott dem Menschen anvertraut, ist die Liebe! – Ein großes, edles Gefühl, das wir in uns unterdrücken, ist das vergrabene Pfund, das Gott von uns fordern wird, wenn die Frist um, für die er es uns geliehen! Es kommen Stunden, wo die unselige Frau dies erkennt. Dann klagt sie alles an, die Welt und sich selbst! Und das arme, kleine Wesen empfindet in seiner frühreifen Seele den Schmerz der »schönen Frau«, in der es ahnungsvoll die Mutter liebt, ohne zu wissen, daß sie es ist. Gemeine Kindernaturen lieben wie die Tiere diejenigen am meisten, welche für ihre leiblichen Bedürfnisse sorgen, und hängen daher oft mehr an der Wärterin als an der Mutter. Nicht so dieses Kind! Es ist gegen Josepha, die es um so treuer pflegt, je mehr es von der Mutter vernachlässigt wird, fast undankbar.
Josepha hat eine wahre Leidenschaft für den Knaben. Alle jene schmerzliche Liebe, die sie für ihren eigenen toten Sohn in dem verwaisten Herzen bewahrt, übertrug sie von der ersten Stunde an auf dies zarte, mutterlose Geschöpf. Es erinnert sie so vieles an ihr eigenes armes Kind: der starke Zug von Familienähnlichkeit zwischen ihm und Freyer, – das Geheimnis, mit dem es umgeben werden muß. Eine Mutter, die sich seiner zu schämen hat, wie Josepha damals – es ist nicht anders, als wenn ihr das eigene tote Kind wieder auferstanden wäre. Und dazu gilt sie auch noch für seine Mutter!
Die Gräfin hatte es im Orient geboren, und dort war es leicht, mit den Behörden abzukommen. Unter dem Namen Josepha Freyer war die Gräfin, – unter dem der Gräfin Wildenau war Josepha in Jerusalem angekommen, wo jene ihre Niederkunft hielt. Auf den Namen Freyer war das Kind getauft. – Als uneheliches Kind ward es in das Standesregister eingetragen, und Josepha nahm die Schande auf sich! So kehrte Josepha als die Mutter des Knaben nach Deutschland zurück.
Was fehlte nun noch, um Josepha die Illusion zu vervollständigen, daß es ihr eigenes Kind sei, und daß sie es als Mutter lieben dürfe? Nichts als die Gegenliebe des Kindes! Und das schmerzte sie bitter. Sie mochte ihm geben und tun, was sie wollte, ihm ihre Tage und Nächte weihen, ihre ohnehin sehr wankende Gesundheit aufopfern, – es half nichts. Wenn einmal nach Wochen und Monaten die »schöne Dame«, wie er sie nannte, kam, so strahlten seine melancholischen Augen und sein ganzes Wesen belebte sich. Er streckte ihr die Aermchen entgegen mit einem Ausdruck, als wolle er sagen: »Wenn du nicht bald gekommen wärst, wäre ich gestorben!« Dann existierte keine Josepha mehr für ihn, und selbst der Vater, den er sonst als Paten, »Göth«, wie man es hier nennt, sehr ins Herz geschlossen, war vergessen. Das wurmte Josepha bis zur Unerträglichkeit. Sie übte die Mutterpflichten in ihrer ganzen Schwere, ihr Herz trug Mutterliebe mit all ihren Schmerzen und Kümmernissen, – und wenn die andere kam, – die es gar nicht verdiente, die gar nichts tat, die kein Mutterherz und kein Mutterrecht hatte – dann nahm sie ihr das Kind weg und Josepha hatte nichts, als die Plage und die Schande! Jene genoß im Flug, spielend, gedankenlos die Freuden, die einzigen, die Josephas Opfer hätten lohnen können, das süße Kindeslächeln, das zärtliche Kosen und Schmeicheln der Kindesliebe, für das sie ihr Leben hingegeben hätte! Und sie knirschte die scharfen, weißen Zähne zusammen und eine heimliche, fast zum Haß ausartende Eifersucht gegen die Gräfin faßte Wurzel in dem verbitterten Gemüt. Was kann sie noch an dieser Frau achten? Wofür ihr dankbar sein? Sie tut ihr Gutes – weil sie sie braucht, – was liegt Josepha an sich selber! – »Sie soll mir weniger geben, aber ihre Schuldigkeit an Mann und Kind tun, das ist mir lieber,« grollt sie insgeheim. »Solch ein Kind haben und ihm nicht Mutter sein, ihm nicht den Sonnenschein, die Wärme des Mutterherzens geben, die es braucht – dann aber kommen und einer anderen wegnehmen, was man selbst nicht verdienen mochte!«
Solch einen Mann haben, das Höchste, was Josepha auf Erden kennt, – einen Mann, dem die ganze Welt zu Füßen lag, wie dem lieben Gott, einen Mann, so fromm, so gut, so bescheiden und so treu – und ihn verstoßen, in ein so altes, einsames Schlößchen verstecken, damit nur ja niemand die Schande merkt, daß die hohe Dame sich mit einem armen Schnitzer eingelassen! Dann aber kommen und wie die Vögel Beeren stehlen, ihm die Küsse von den Lippen naschen, wenn's niemand sieht – dazu ist er gut genug! Und das läßt er sich gefallen, der stolze, der strenge Mann, den die ganze Gemeinde fürchtete und ehrte. Man könnte verrückt darüber werden!
Und sie muß das so »hinunterfressen« Jahr für Jahr, – und darf nichts sagen, – denn wehe, wenn sie einmal über die Gräfin murrte –! Er läßt ja nichts auf sie kommen – ob's ihn gleich umbringt. Sie muß es mit ansehen, wie er sich um diese Frau abhärmt, sie sieht ihn nach und nach verfallen und abmagern, denn das gottlose Weib tut es ja allen an und verzaubert Mann und Kind, daß sie um sie sterben müssen vor lauter Liebe, nachher treibt sie ihr Unwesen mit einem anderen weiter!
Das sind die furchtbaren Anklagen, die in Josephas leidenschaftlicher Seele gegen die Gräfin wühlen und alles austilgen, was sie der ehemaligen Wohltäterin schuldig ist.
»Ich möchte wohl wissen, was sie anfinge ohne mich,« ist dann stets das Raisonnement ihres undankbaren Hasses. »Die kann mir wohl schön tun, – wenn ich wollte, wäre es mit ihrem ganzen sündhaften Treiben aus. Verdienen tät' sie's – und was liegt mir am Gehalt! Ich hab' mich so auch durchgebracht, ich brauche das Sündengeld nicht. Aber – dann müßt' ich ja von dem Knaben weg – der hätte dann gar niemand mehr. – Nein, nein, Josepha, trag's halt, so lang's geht – und schweig um des Kleinen willen!«
Das sind die Kämpfe, die da oben in der Brust der stillen Bewohner des Jagdschlosses sich vollziehen und die Abgründe, die sich zu den Füßen der ahnungslosen Frau unterhöhlen!
Es ist die Rache der beleidigten bürgerlichen Moral, über die sie sich so erhaben dünkt. Dieses unscheinbare Moment in dem Entwicklungsgang der Menschheit, deshalb so unscheinbar, weil es vorzugsweise den kleinen, schlichten Leuten eigen ist, wird stets siegen im Kampf gegen die Emanzipation sogenannter »höher organisierter« Naturen, denn es ist das Schicksal des individuellen Titanentums, im Kampf gegen das Kleinliche unterzugehen! Hier aber ist es ein großes, ewiges Weltgesetz, das sein Kontingent von Anbeginn aus niederen, unscheinbaren Elementen zusammenstellte und in dem die sogenannte »bürgerliche Moral« wurzelt, – das Christentum. Deshalb wird jene siegen und stets in ihrem Recht sein, auch wo das kleinliche Philisterheer, das sich um ihre schlichte Fahne schart, einen weitaus edleren Feind erlegt, als es selbst ist, einen Feind, um den Götter trauern würden! – Wehe der großangelegten Individualität, welche sich mit philiströsen Elementen verbindet – ihm Rechte über sich einräumt und glaubt, dennoch ihre eigenen Wege gehen zu können, – sie wird gegebenen Falls eher vor Gott Erbarmen finden, als vor dem Richterstuhl dieses Buchstabendienstes und den Spießen und Stangen seiner Miliz!
Es war etwas wie solch eine stechende Lanzenspitze, was die Gräfin aus den Augen Josephas traf, als sie sich soeben über das erwachende Kind beugte.
Josepha will den Knaben aufrichten, aber er wehrt sie heftig ab und will nicht von ihr genommen sein. Mit sehnsüchtig verklärtem Blick drängt er sich in die Arme der »schönen Dame«. Die Gräfin zieht das kleine, schmächtige Körperchen an die volle Brust. Da gewahrt sie den herben, verbitterten Zug um die trockenen, von Hitze aufgesprungenen Lippen Josephas und die etwas hektisch angeglühten, hart hervortretenden Backenknochen. Das alles macht der Gräfin einen unbehaglichen, abstoßenden Eindruck. Es ist etwas in Josephas Benehmen, was der Gräfin nicht gefällt. Wenn sie könnte, sie würde die Person, »die sich immer mehr zu ihrem Nachteil verändert«, fortschicken. So aber ist sie an sie gebunden mit unlösbaren Ketten, ja, von ihr abhängig – und muß sie fürchten. Sie hat diese Empfindung, so oft sie kommt. Unter solchen Eindrücken ist ihr allmählich jeder Besuch auf dem Jagdschloß zu einem Bußgang statt zu einer Erholung geworden. – Der Mann vorwurfsvoll und verstimmt, das Kind kränklich, die Wärterin renitent und unheimlich! Eine so verwöhnte Frau, der alles Unangenehme stets aus dem Wege geräumt wird, muß schließlich den Ort meiden, wo sie keine Stunde frei aufatmen kann.
»Josepha,« sagt sie dumpf und zwei tiefe Schatten legen sich um ihre vermachten Augen, »willst du nicht dem Kinde für Frühstück sorgen?«
»Zuerst muß er gewaschen werden!« sagt Josepha in jenem Ton, der die Gräfin schon oft verletzte, – der Ton, mit dem Wärterinnen, denen die Kinder zu viel überlassen sind, die jungen Mütter belehren, daß, »wenn sie sich sonst nichts um ihre Kinder kümmern, sie auch in der Kinderstube nichts dreinzureden hoben!«
Die Gräfin bekämpft sich mit vornehmer Selbstbeherrschung. Dann sagt sie ruhig, ihre Stimme klingt matt und heiser: »Das Kind dünkt mich schwach, ich halte es für besser, daß man ihm zuerst etwas Nahrung reicht und es dann wäscht!«
»Ja,« bettelt der Kleine, »mich dürstet!« Und das einfache Wort mahnt die Gräfin daran, wie sein Vater am Kreuz sprach: »Mich dürstet!« Wenn ihr diese Erinnerungen kommen, da erfaßt sie der ganze Schmerz ihrer einstigen schönen – jetzt so elend verkümmernden Liebe! Sie hebt den Knaben, leicht wie ein Hauch, – ein Aethergebild, – aus dem Bettchen auf ihren Schoß und hüllt ihm mit den Falten ihres Morgenkleides die nackten Füßchen ein. Er schmiegt sein dunkles Lockenköpfchen an ihre Wange. Solche Momente sind süß, aber sie werden durch zu viel Bitterkeit aufgewogen.
»Bringe ihm Milch – frisch gemolkene –!« wiederholt sie in dem leise befehlenden Ton, der keinen Widerspruch zuläßt noch voraussetzt.
»Dann kommt er ganz aus seiner Gewohnheit,« – wirft Josepha hin, als sei durch die Anordnung der Gräfin die dem Kinde notwendige Regelmäßigkeit der Lebensweise auf das bedenklichste gestört. Aber sie geht, den Befehl zu vollziehen, denn es ist ihr weniger darum, ob das Kind zuerst gewaschen oder gesättigt werde, als darum, die Gräfin fühlen zu lassen, wie wenig Recht sie habe, in ihrem eigenen Kinderzimmer etwas zu sagen.
Die Gräfin fühlt das auch und eine Masse Röte der Beschämung und des Unwillens steigt in ihrem Gesicht auf, vergeht aber ebenso schnell, als ob der Schmerz die Blutwelle verzehrt habe, die der Groll aufgewirbelt.
»Ist deine Mutter, – Josepha, – gut gegen dich?« fragt sie, als Josepha draußen ist.
Der Kleine nickt gleichgültig mit dem Kopf!
»Schlägt sie dich nicht, ist sie sanft?«
»Nein, schlagen tut sie mich nicht,« berichtet das Kind. »Lieb haben tut sie mich!«
»So, hast du sie auch lieb?« fragt die Gräfin weiter.
»Hm – ja!« sagt der Kleine achselzuckend, dann schaut er zärtlich zu ihr auf: »Dich hab' ich lieber!«
»Das ist nicht recht, Josepha ist deine Mutter – die mußt du am liebsten haben!«
Der Knabe schüttelt nachdenklich den Kopf: »Ich hätte aber lieber dich zur Mama!«
»Das geht nicht – leider, – das darf ich nicht!«
Der Knabe sieht sie traurig enttäuscht an.
Da findet er einen Ausweg: »Aber nicht wahr, – im Himmel, – wenn ich einmal in den Himmel komme, – da wirst du meine Mutter?«
Die Gräfin durchschauert's – ihr wird unbeschreiblich weh ums Herz, und doch wieder wohl – ein seliger Schmerz! Tränen quellen ihr aus den Augen, sie umschlingt das Kind und küßt es leise.
»Ja, mein Kind! Im Himmel – darf ich vielleicht deine Mutter sein!«
Jetzt bringt Josepha die Milch und will sie ihm geben, aber der Knabe will sie nicht von ihr, die Gräfin soll ihm die Schale halten. Sie tut es auch, aber die Hand zittert ihr so dabei, daß Josepha helfen muß, sonst würde alles verschüttet, – die Gräfin hat das Gesicht abgewandt.
»Nicht einmal zu trinken kann sie ihrem Kind geben!« denkt Josepha bei sich und räumt im Zimmer umher.
»Josepha, ich bitte dich, laß mich ein wenig allein,« – sagt die Gräfin fast flehend.
»So?« Josephas Wangen färben sich hochrot, es ist als zögen sie sich noch schärfer um die vorstehenden Backenknochen zusammen: »Wenn ich Erlaucht – zu viel bin – dann kann ich ja gleich gehen!«
»Josepha!« sagt die Gräfin und wendet ihr jetzt plötzlich ein von Tränen überströmtes Gesicht zu. »Ich werde wohl eine Viertelstunde mit meinem Kinde allein sein dürfen, ohne daß es jemand andern zu beleidigen braucht! Ich vergebe dir das Wort – um deiner so natürlichen Eifersucht auf das Kind willen – und denke, du wirst es jetzt schon bereuen; – nicht wahr?«
»Ja!« sagt Josepha etwas zögernd, aber von den Worten der unglücklichen Frau so überwältigt, daß sie hingeht, um auf die Hand der Gräfin mit ihren rauhen, trockenen Lippen einen harten, halb widerstrebenden Kuß zu drücken. Dann weicht sie, mit einem leidenschaftlichen Blick auf das Kind, der Mutter, deren Recht sie ihr vor Gott selbst streitig machen möchte, wenn sie nur könnte.
Als aber die Tür sich hinter ihr geschlossen hat, da hält sich die Gräfin nicht mehr. Sie stellt den Knaben vor sich in das Bettchen und wirft sich in Schluchzen ausbrechend davor nieder, des Kindes zarte Kniee umfassend: »Mein Kind – mein Kind – vergib mir,« ruft sie alles vergessend, – »bitte für mich bei – Gott!«
Da geht die Tür auf und Freyer tritt herein. Schnell wird ihm alles klar, was das Herz der Gräfin bewegt, wie er sie so vor dem Bett des Knaben hingegossen sieht.
»Fassen Sie sich – was soll das Kind denken!« Er beugt sich über sie und hebt sie auf.
»O Mama, nicht weinen!« sagt der Knabe und streichelt das weiche Haar des vor ihm gebeugten Hauptes. Er weiß nicht, warum er sie jetzt auf einmal »Mama« nennt – es ist die Aussicht auf den Himmel, wo sie seine Mutter werden will, – nun sagt er es schon zum voraus!
»O Freyer, töte mich – ich bin nichts Besseres wert – kürze ihn mir ab, den Kampf eines verfehlten Lebens! Ein Tier, das nicht mehr genesen kann, bringt man um, aus Erbarmen, warum nicht auch einen Menschen, der sein Elend doppelt empfindet!«
»Magdalena – Frau Gräfin, – so kenne ich Sie ja gar nicht!«
»Ich mich selbst auch nicht! Was bin ich denn? Was ist eine Mutter, die nicht Mutter, – – ein Weib, das nicht Weib sein kann? Es ist ein Fisch, der nicht schwimmen, ein Vogel, der nicht fliegen kann! Solch ein armes, verkrüppeltes Geschöpf schlägt man aus Mitleid tot. Was ist das für ein Leben? Eine Egoistin, die noch den Schmerz derer fühlt, die sie unglücklich macht: eine Aristokratin, die nicht außerhalb ihrer Sphäre existieren kann und doch vergeht im Verlangen nach dem Ewig-Menschlichen, eine Kokette, die mit Herzen spielt und doch sterben möchte für eine wahre Empfindung – das ist meine Charakteristik! Kann es etwas Widersprechenderes, etwas Unseligeres geben?«
»Frau Gräfin, lassen Sie uns hinausgehen, das sind keine Gespräche für das Kind.«
»O, das versteht er ja nicht!«
»Er versteht mehr, als Sie glauben, Sie wissen nicht, was er oft für Fragen thut, – ach, Sie bringen sich selbst um die edelsten Freuden dadurch, daß Sie die merkwürdige Entwickelung dieses Kindes nicht mitbeobachten können!«
Sie nickt, schweigend in das Anschauen des Knaben versunken.
»Kommen Sie, Gräfin, die Sonne ist so schön aufgegangen – die kühle Morgenluft wird Ihnen gut thun. Ich klingle Josepha, daß sie zum Kind geht,« spricht er ruhig und drückt auf die Klingel.
Der Knabe sitzt im Bettchen und sein Atem ist kurz und ängstlich, seine großen Augen hängen bittend an der Gräfin: »O Mama – liebe Himmelsmama, – dableiben – nicht fortgehen!«
»Ach, wenn ich könnte – mein Kind, – wie gern blieb ich ganz da. Aber ich komme gleich wieder, ich gehe nur eine halbe Stunde in die Sonne hinaus.«
»Ach, ich möchte auch in die Sonne gehen! Kann ich nicht mit hinaus und ein wenig herumspringen?«
»Heute noch nicht, erst wenn dein Husten vorbei ist, mein armes Bübchen! – Ich verspreche dir aber, ich rede nur von dir und denke nur an dich, bis ich wiederkomme! Einstweilen soll Josepha dich waschen und anziehen, weißt du, das verstehe ich ja doch nicht – das kann Josepha besser!«
»Jawohl, dazu bin ich gut genug!« denkt die Gerufene, als sie im Eintreten die letzten Worte hört.
»Die schöne Mama hat geweint, weil sie ein Vogel ist und nicht fliegen kann,« erzählt der Kleine Josepha in teilnehmender Bekümmernis. »Aber du kannst auch nicht fliegen – und ich auch nicht – bis wir Engel werden – dann können wir's!« Und er breitet die Aermchen aus, wie Flügel, als wolle er auf und davon schweben, aber ein Hustenanfall läßt ihn in die Kissen zurücksinken.
Die beiden Gatten sehen sich in der gleichen schmerzlichen Sorge an.
Die Gräfin beugt sich über das Bettchen und es ist, als wolle sie mit ihren Küssen den Husten ersticken, der die kleine, wunde Brust zerreißt.
»Mama,« tröstet der Knabe, »es tut nicht weh – du mußt nicht weinen. In meiner Brust, da ist eine Spinne, die kitzelt mich, – drum muß ich husten. Aber sie spinnt ein großes, großes Netz von Silberfäden wie am Christbaum, das reicht bis in den Himmel, daran steig' ich hinauf!«
Die Gräfin kann ihrer Bewegung fast nicht mehr gebieten. Da nimmt Freyer ihren Arm und führt sie hinaus in den taufrischen Morgen.
»Du bist so besorgt um unser Geheimnis, und doch, wenn ich nicht gewissenhaft genug wäre, es dir hüten zu helfen, stünde es schlimm darum! Du würdest dich jeden Augenblick verraten, du bist unvorsichtig dem Kinde gegenüber. Es ist ja nicht mein, sondern dein Interesse, wenn ich dich warne. Laß dich jetzt nicht vor dem Knaben von deiner neu erwachten Mutterliebe hinreißen. Laß dich auch nicht ›Mama‹ nennen! Arme Frau – ich verstehe ja, es tut dir wehe – aber, entweder – oder! – Wenn du dem Kinde nicht wirklich Mutter sein kannst – oder willst – so mußt du auf diesen Namen verzichten!«
Sie senkt das Haupt: »Du bist hart wie immer, wenn du auch recht hast! Wie kann ich meine Fassung bewahren, wenn ich solche Worte von dem Kinde höre? Welch ein Kind! So oft ich komme, staune ich über seine geistigen Fortschritte! Wenn das nur natürlich, wenn es nur nicht die Ahnung eines frühen Todes ist!«
Freyer fühlt Mitleid mit ihrer Angst.
»Er ist eben ein in der Einsamkeit erzogenes Kind, nur von uns zwei traurigen Leuten, Josepha und mir, umgeben, da entwickelt sich so eine junge Seele ernster und sinniger als bei andern Kindern!« tröstet er sie.
Sie sind hinausgetreten auf einen baufälligen, von Gestrüpp umrankten Söller. Es ist ein herrlicher Morgen, aber der Wald umher und das vermodernde Herbstlaub sind weiß bereift. Freyer hüllt die fröstelnde Frau in einen Mantel, den er mitgenommen. Unter dem kalten Hauch des klaren Herbstmorgens und den besonnenen Worten ihres Gatten beruhigt sie sich allmählich und gewinnt ihre Fassung wieder.
»Etwas muß aber mit dem Kind geschehen,« sagt sie ernst, »so kann es nicht fortgehen, das Kind wird mir zu ätherisch! – Ich werde es mit Josepha nach Italien schicken.«
»Mein Gott, dann bin ich ja ganz allein!« sagt Freyer, mühsam seinen Schreck verbergend.
»Und doch muß es sein,« sagt sie bestimmt.
»Wie werde ich das ertragen? Das Kind war mein alles, mein guter Engel – mein Licht in der Nacht! Oft waren es seine kleinen Händchen, die meine Stirn kühlten, wenn die Flamme des Wahnsinns nach mir züngelte. Oft waren es seine Augen, seine Züge, in denen ich dein Bild reiner wiederfand, wenn es sich mir während der langen Trennung verwirrte und entstellte. – Wenn ich das Kind ansah, das gute, liebe, dann fühlte ich, daß dies heilige Band durch nichts zu trennen ist! Die Mutter dieses Kindes kann den Gatten nicht verlassen – um dieses Kindes willen muß sie mich lieben! sagte ich mir und lernte wieder hoffen, wieder glauben. Und nun soll ich mich von dem Kinde trennen! Gott, Gott – du gehst hart mit mir ins Gericht! Deinem göttlichen Sohn sandtest du am Oelberg einen Engel zum Trost – mir nimmst du ihn! Doch nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe!«
Er neigt traurig das Haupt: »Wenn es denn sein muß, so nimm ihn hin!«
»Das Kind ist krank, ich habe es schon zu lange in dies feuchte Gemäuer eingeschlossen, es braucht Sonne und milde Luft. Wenn es noch einen Winter hier in dem rauhen Klima zubringen müßte, wäre es verloren. – Aber wenn du dich so schwer von dem Knaben trennst, – so gehe doch mit ihm. Ich nehme für dich und Josepha irgendwo an der Riviera eine Villa. Es wird auch dir gut tun, wenn du einmal aus diesem Waldwinkel hinauskommst, – und hier in Bayern, wo dich jeder kennt, kann ich dich ja nicht unterbringen, ohne unser Verhältnis zu verraten!«
Freyer sieht sie mit schmerzlichem Lächeln an: »Und du glaubst – ich ginge?« Er schüttelt das Haupt: »Nein, so leicht kann ich dir's nicht machen. Noch sind wir Mann und Weib, noch gehöre ich zu dir, wie du zu mir! Und wenn es dich auch noch so selten zu mir treibt, – ja, wenn es im ganzen Winter nur eine Stunde wäre, wo du ein Herz brauchst, so sollst du das Herz des Gatten finden, so muß ich da sein!« Und er zieht sie sanft an seine Brust: »Nein, mein Weib, es wäre mir ein Trost gewesen, hätte ich wenigstens das Kind gehabt, – mußt du es mir nehmen, so ertrag' ich auch das noch, wie alles, was aus deiner Hand kommt, sei's Tod, sei's Leben, – aber trennen wird mich nichts von dir, auch nicht die Liebe zu meinem Kinde!«
Es ist etwas Unbeschreibliches in dem Ausdruck, mit dem er sie ansieht, während er die einfachen Worte spricht, und sie schmiegt sich an ihn, hingerissen von solch niegeahnter Treue, die das Einzige, das Letzte, was sie besitzt, klaglos hingibt für eine Stunde mit ihr!
»Mein Gatte, – mein guter, großer, edler Mann! Du bestes Herz auf Erden!« ruft sie, ihn wieder und wieder liebkosend und mit trunkenem Blick das schöne, hoheitsvolle Antlitz betrachtend: »Nicht für eine Stunde nur sollst du das Opfer bringen; dein Weib wird kommen und dich belohnen für deine Treue mit tausendfacher Glut. Oft – oft! Vielleicht öfter als je! Denn ich fühl' es, so kann es nicht fortgehen! Ich muß endlich Weib und Mutter sein dürfen, – ich habe es heute am Bette des heranwachsenden Kindes gefühlt, daß auch meine Schuld von Jahr zu Jahr wächst. Es ist Zeit, daß ich sie gutmache! Ich will, wenn ich heimkomme, ernstlich überlegen, was sich tun ließe, um mit den Verwandten ein Arrangement zu treffen! Ich brauche ja nicht zu gestehen, daß ich schon vermählt Bin, – ich könnte ja sagen, daß ich mich verheiraten möchte, wenn sie mir eine anständige Apanage zahlten, daß ich es aber nicht tun würde, wenn sie mir die Mittel zu einer standesgemäßen Existenz verweigerten! Dann werden sie wohl eher ein Opfer bringen, um mir die Heirat zu ermöglichen, die sie in den Besitz des ganzen Vermögens bringt, als mich durch Geiz zwingen, ledig und in dem Genuß des Gesamtvermögens zu bleiben. Das wäre eine Idee! Siehst du, wie erfinderisch die Liebe ist?« sagt sie mit anmutiger Koketterie, seine freudige Zustimmung erwartend.
Er aber wendet sich mit verdüsterter Stirn ab, – es ist, als ob über die ganze sonnige Morgenlandschaft plötzlich ein eisiger Schneewind hinzöge und alles in Winterstimmung umwandle:
»Lüge und Betrug in allem, – auch im Heiligsten! Wenn ich dich so reden höre, da schnürt sich mir das Herz zusammen! Ein so hohes Weib wie du zu Lüge und Betrug herabsinken, wie der Niedrigsten eine!«
Die Gräfin steht starr mit gesenkten Lidern, auf ihrer Stirn malt sich Scham und Stolz. Auch ihr schließt das Herz sich zu und Eiseskälte legt sich darum.
»Und welchen besseren Vorschlag würdest du mir machen?«
»Keinen!« sagt Freyer leise, »denn den einzigen, den ich wüßte, würdest du nicht annehmen: es wäre der, zu büßen, was du gefehlt, offen einzugestehen, wie alles kam, und dann mit Mann und Kind in die Einsamkeit gehen und sich kümmerlich, aber redlich durchbringen! Die Welt würde dich auslachen, das ist wahr, aber die Edeln darunter würden dich achten. Ich kann mir nicht denken, daß ein sittliches Glück durch Betrug und Lüge zu erkaufen ist, – es gibt nur einen Weg, der zu Gott führt, – es ist der Weg der Wahrheit, – jeder andere führt in die Irre!«
Die schöne Frau blickt in unwillkürlicher Bewunderung zu ihm auf. Das ist jene innere Majestät, durch die ihr der niedere Mann einst so übermächtig wurde, und wie tief er sie auch verletzt und beschämt, sie beugt sich dieser Größe. Aber seinen Blick erträgt sie für heute nicht mehr, sie fühlt sich vor ihm gedemütigt, entwürdigt, die Freude an ihm ist ihr verdorben. Wie eine gemeine Sünderin steht sie vor dem Mann da, den sie so tief unter sich wähnte – der kleinlichen Lüge, des niedrigsten Betrugs ist sie von ihm überwiesen – dem Reinen, dem Wahren! Ihr ekelt an sich selbst. – Wo ist etwas, das diesen Schandfleck tilgt? Wo der Stolz, der sie über diese Schmach erhebt? In ihrem Standesgefühl? Weh ihr, was würden ihre Standesgenossen sagen, wenn sie wüßten, wie es um sie steht! Wäre sie dann nicht ausgestoßen aus allen Kreisen? Was gibt es dann noch, was sie wieder zu Ehren brächte? Sie kennt keine Würde, keine Ehre als die, welche die Welt gibt, und um diese zu retten, um jeden Preis und mit jedem Mittel – sinkt sie immer tiefer vor sich selbst und vor dem armen ehrlichen Mann, der sich ihrer eher schämen dürfte, als sie sich seiner.
Sie muß heim, sie muß ihr Palais, ihre Diener, ihre Gesellschaft wieder sehen, um es zu glauben, daß sie noch sie selbst ist, daß der Boden unter ihren Füßen noch hält, denn alles in ihr und um sie her wankt!
»Ich bitte, laß anspannen!« sagt sie und wendet sich nach der halbverfallenen Pforte, durch die sie herausgetreten. Es ist wirklich indessen trübe und kalt geworden. Ein bleicher Herbstnebel hüllt den Forst ein. Man weiß nicht, wird es regnen oder schneien.
»Ich habe den offenen Jagdwagen, – ich möchte heim, ehe es regnet,« entschuldigt sie sich, ohne ihn anzusehen.
Freyer öffnet ihr zuvorkommend die schwere alte Eisentür und erwidert nichts. Stumm schreiten sie einen dumpfig kalten, schmalen Gang entlang bis zur Türe, wo der Knabe weilt.
»Ich gehe anspannen zu lassen,« sagt Freyer und die Gräfin tritt ins Zimmer.
Zerstreut nimmt sie Abschied von dem Knaben. Sie bemerkt es nicht, wie er zusammenzuckt bei der Nachricht, daß sie heimfährt, sie hört nicht, wie er bittet: »Nimm mich auch mit!« Sie tröstet ihn wie jedesmal mit dem Versprechen, bald wieder zu kommen, und winkt Josepha mit sich hinaus. Der Knabe sieht ihr nach mit dem Blick eines sterbenden Rehs und ein paar große Tränen rinnen über die bleichen Bäckchen. Sie sieht es, aber sie muß fort, hier ist ihres Bleibens für heute nicht mehr. Draußen teilt sie Josepha den Plan mit, sie und das Kind nach Italien zu schicken, aber diese schüttelt den Kopf.
»Dem Kinde fehlt nichts als die Mutter,« sagt sie unbarmherzig, »das Kind sehnt sich nur nach Ihnen, und wenn Sie's noch weiter fortschicken, dann stirbt's!«
Die Gräfin steht da, wie gerichtet.
»Wenn Sie bei ihm sind, da lebt er auf, und wenn Sie fort sind, da siecht er hin, wie eine Blume ohne Sonne!«
»Mein Gott,« stöhnt die Gräfin und preßt die gerungenen Hände an die Stirn: »Was soll daraus werden!«
»Wenn Sie den Knaben zu sich nähmen, das wäre die beste Kur. Das Kind braucht Mutterwärme, die täte ihm wohler als alle Reisen. Sie haben keinen Begriff, wie er an der Mutter hängt! Es ist ordentlich, als hätten Sie's ihm angetan. Alle Tage horcht und harrt er sich müde, ob er den Wagen nicht rollen hört, und wenn der Abend kommt und die Zeit, wo Sie sonst herauffahren, da hat er jedesmal vor Erwartung fieberheiße Händchen. Dann sieht er auch noch, wie sein Vater aus Sie wartet. – So ein Kind merkt alles, und wenn der Vater so traurig ist, fühlt er es mit! ›Heute kommt sie wieder nicht!‹ sagte er neulich und streichelte dem Papa die Wange, er wußte also ganz gut, wo's ihm fehlte. So ein zartes Körperchen ist bald aufgerieben von einem immer nagenden Heimweh. Jedes Kitzlein, jedes Lamm schreit nach der Mutter. Hier im Wald höre ich's oft, wie die jungen Rehe, denen man die Alte wegschoß, nächtelang klagen und rufen, und das Kind mit Vernunft und Herz soll sich nicht nach der Mutter sehnen? Sie sitzen daheim in ihren schönen Zimmern und hören's nicht, wie hier oben in dem öden Haus, zwischen uns zwei traurigen Leuten, das arme Kind nach der Mutter verlangt, die sein alles ist!« –
»Josepha, du willst mich töten!«
Die Gräfin hält sich an den Türpfosten, ihr schwindelt. –
»Nein, ich will Sie nicht töten, Frau Gräfin, ich will Sie nur abhalten, das Kind umzubringen,« sagt Josepha mit flammenden Augen. »Glauben Sie, wenn ich dem Knaben die Mutter ersetzen könnte, ich würde bei Ihnen um das betteln, was jedem Kind sein Recht ist und was jede Mutter, die überhaupt ein Mutterherz im Leib hat, ihm von selbst gäbe? Gewiß nicht! – Stehlen würde ich Ihnen das Herz des Kindes, das Sie verkümmern lassen, – ehe ich Ihnen nur ein gutes Wort gäbe – und Sie könnten einmal vergebens um die Liebe Ihres Sohnes betteln, wie ich jetzt um die seiner Mutter für ihn. – Aber das arme Heiterle merkt's recht gut, wer seine Mutter ist, und was ich auch für's tue – es nimmt mich nicht an! Drum sag' ich Ihnen, wie's steht. Machen Sie nun mit mir, was Sie wollen, ich fürchte nichts mehr – denn wenn ich das Kind nicht retten kann, dann bin ich mit der Welt fertig! Sie kennen mich ja – und wissen, daß mir nichts am Leben liegt, – Sie haben mir's nicht lieber gemacht, als es mir damals war!«
Da geht leise die Tür auf und eine kleine, lichte Gestalt erscheint in der Spalte. Der Knabe hat drinnen Josephas leidenschaftlichen Ton gehört und kommt der Mutter zu Hilfe. »Mama, meine liebe Himmelsmama, was tut sie dir? Sie darf dir nichts tun! Böse Mutter Joseph«! Siehst du, drum mag ich dich nicht, weil du immer auf die schöne, gute Frau schiltst.«
Und er schlingt sein Aermchen um den Hals der Mutter, wie um sie zu schützen.
»O, du Engel!« ruft die Gräfin und hebt ihn vom Boden auf, ihn ans Herz zu drücken.
Da rasselt es heran, – das Viergespann der Gräfin fährt vor. Die feurigen Tiere warten zu lassen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Freyer meldet hastig den Wagen, die Pferde sind heute ganz unbändig. Die Gräfin legt den Knaben Josepha ans Herz. – Stumm hebt Freyer sie in den Wagen, es muß gehn wie der Blitz, denn schon ziehen die Pferde an, – noch ein düsterer Blick der beiden Gatten – ein fremder Gruß – und fort jagt das leichte Gespann, dahin durch den Herbstnebel. – Sie glaubt im Wegfahren noch die weinende Stimme des Knaben gehört zu haben. Ihr ist zu Mute, als hätte Josepha sie des Mords an ihrem Kinde überführt. Aber sie wird es gut machen, – dereinst, – bald! Es ist ihr, als schrie etwas aus ihr heraus laut: »Mein Kind, mein Kind!« Auf ihrer Stirn perlt ein eisiges Naß, ist's Angstschweiß oder Tau? Sie weiß es selbst nicht, sie kann nichts mehr denken, sie erliegt alle dem, was heute auf sie eingedrungen. – Sie schließt die Augen und lehnt wie ohnmächtig im Wagen. Unaufhaltsam stürmen die Pferde mit der leichten Last dahin, ihrem Ziel zu.
Die Stunden fliegen vorüber. Der Wagen fährt in das Palais Wildenau hinein, sie weiß es kaum. In ihrem Gehirn kreuzen sich in wilder Flucht Pläne und Entschlüsse der verschiedensten Art. – Sie wird aus dem Wagen gehoben und steigt die teppichbelegte Marmortreppe hinauf. – In ihrem Boudoir liegen zwei Briefe auf dem Tisch. Der Prinz war dagewesen und hatte den einen hinterlassen, ein Billet, das nichts enthält als die Worte:
»Sie werden einsehen, daß Sie im jetzigen Moment diese Stellung nicht ausschlagen dürfen!
Der Freund, der es am besten mit Ihnen meint.«
Der andere Brief in großem Format ist ein Kabinettsschreiben: Sie ist Obersthofmeisterin geworden!