Hildegard von Bingen
Heilwissen
Hildegard von Bingen

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Vom Schröpfen

Wem die Augen von bösen Säften dunkel werden oder schwären oder das Fleisch um die Augen anschwillt, der lasse hinter den Ohren und am Nacken durch Hörner oder Schröpfgläser (cornibus aut ventosis) mässig Blut ab, drei oder vier Mal im Jahr; wenn er sich aber nothgedrungen dort öfter schröpfen lässt, lasse er desto weniger Blut abnehmen … Er lasse sich an dem schmerzenden Körpertheile das Blut entfernen. Hat einer an der Zunge Schmerzen, so dass sie schwillt oder schwärt, schneide man sie mit kleinem Schnepper oder der Bremse (cum flebotomo aut cum brema, vgl. mein Progr. S. 7; Dorn?) ein wenig ein, damit dort das eitrige Blut austritt, und es wird ihm besser gehen. Hat einer Zahnschmerzen, schneide er in gleicher Weise ins Zahnfleisch … Wessen Herz traurig, wessen Geist niedergeschlagen ist, lasse in der Mediana Blut ab …, wenn man Leber- oder Milzschmerzen hat, wenn man Athembeklemmung im Hals oder in der Kehle wahrnimmt, wessen Augen sich verdunkeln, der lasse von der Epatica Blut abnehmen; dann wird es ihm besser gehen. … Der Einschnitt in die genannten Hauptadern muss in der Armbeuge erfolgen. … Man soll aber, ob Mann oder Weib, während man in der Jugendzeit in Länge und Breite wächst, die Ader nicht zur Blutentleerung aufschneiden, wennschon es die Noth zu erheischen scheint, weil während des Wachsthums von Adern und Blut bei einem Einschnitt und Blutverlust der Mensch schwach wird an Körper und Wesen und in seinem Geist gleichsam leer. Sondern wenn es die Noth fordert, soll er Erhitzungen machen und durch Schröpfen Blut ablassen … Wenn aber der Mensch über diese Zeit hinaus ist und er körperlich nicht mehr wächst, also nach dem 20. Jahr, so mag er, wenn Krankheiten es nöthig machen, einschneiden, aber nur wenig Blut ablassen. Wenn er aber körperlich gesund ist, lasse er nicht zur Ader, sondern lasse sich schröpfen und mache Erhitzungen. Wenn er aber das vollendete Lebensalter von 30 Jahren erreicht hat, kann er, ob gesund oder krank, mässig zur Ader lassen … (Die Widersprüche in diesen Verordnungen lassen erkennen, dass die Heilkünstler des 12. Jhs. über den Werth des Aderlasses verschiedener Meinung waren und vielleicht Hildegard selbst während ihrer langen Praxis ihre Ansichten geändert hat.)…Wer zur Ader gelassen hat, muss sich 3 Tage lang vor dem Licht der Sonnenstrahlen und brennenden Feuers hüten … Das Tageslicht aber ist milde und schadet dem Geschwächten nicht, wenn die Sonne nicht zu hell scheint. Aber stets und besonders in der Aderlasszeit kocht das die Augen umgebende Fleisch von Sonnen- und Feuersglut auf, und das Augenlid (pellicula, scilicet membrana quae oculos continet) wird träge, und so wird das Gesicht verdunkelt. Der Geschwächte aber darf verschiedenartige und gebratene Speisen und solche von verschiedenartigem Saft, rohes Obst und rohes Gemüse nicht geniessen, denn diese würden in seinen Adern nur den Eiter, nicht das Blut mehren. Auch starken Wein darf er nicht trinken …, er esse vielmehr passende Speisen und ein oder zwei Gerichte, so dass er anständig satt wird (ita quod sibi honeste sufficiat), und trinke leichten, reinen Wein. Das thue er zwei Tage lang, weil dann noch das geschwächte Blut in Erregung ist. Am dritten Tage bekommt sein Blut wieder Kräfte und vertheilt sich an seine Stellen. Käse aber soll der Geschwächte vermeiden … Wenn einer sich zur Ader lassen will, so thue er das nüchtern … nur wenn einer sehr schwächlich und krank ist, nehme er ein wenig Speise vor dem Aderlass, damit er nicht schwach werde. Auch das Schröpfen geschehe in der Nüchternheit. Damit er aber keine Herzschwäche bekommt, nehme der Mensch vor dem Schröpfen etwas Brot und Wein … Das Schröpfen ist für Jünglinge zuträglicher als für Greise … und geschieht besser im Sommer als im Winter …Wer weiches und fettes Fleisch hat, lasse sich ein einem Monat zweimal durch Schröpfen Blut abziehen. Wer aber mager ist, kann es nöthigenfalls in jedem Monat einmal thun. Bei Augen-, Ohren- oder Kopfschmerzen setze man den Schröpfkopf zwischen Hals und Rücken, bei Brustschmerzen auf die Schulterblätter, bei Seitenschmerzen auf beide Arme an die Handwurzel, bei Schmerzen in den Beinen auf die Weichen, bei Unterleibsschmerzen zwischen Gesäss und Kniebeuge auf das Hüftgelenk. Auf die Stelle aber, auf die man den Schröpfkopf setzt, darf man ihn nicht öfter als drei oder viermal in einer Stunde, in der das Blut abgezogen wird, setzen. Auf den Waden und Schienbeinen darf nicht oder nur selten geschröpft werden … Wer sich auf diese Art durch Schröpfen Blut und Säfte abzapfen lässt, braucht sich vor Sonnen- und Feuersglut und Speisen nicht so in Acht zu nehmen, als wenn er zur Ader gelassen hätte …. Die Erhitzung aber (ustio autem, scilicet coctura) ist stets gut und nützlich, weil sie, vorsichtig angewendet, Säfte und Schleim innerhalb der Haut vermindert und dem Körper Gesundheit bringt. Sie eignet sich für junge und alte Leute … , doch ist sie für Greisen noch zuträglicher als Jünglingen … Jungen Leuten ist sie im Winter zuträglicher als im Sommer, … alten ist sie besonders im Sommer zuträglich … Will man aber die Erhitzung vornehmen, so bewirke man die mit Gartenysop oder Spindelbaummark (isca aut medulla fusarii, vgl. Progr. S. 7 und 18) oder einem geknoteten Leinentuch, nicht aber mit Eisen … noch mit Schwefel … noch mit Harz, weil dies Flammen ausstrahlt und die Haut versengt … Wenn man aber die Erhitzung längere Zeit haben will und mit einem Tuch umwickeln, so nehme man Mark von der Haselstaude und lege ein wenig Werg von Linnen darum und lege es auf. Wenn man sie ohne Verband und nur kurze Zeit haben will, lege man Werg von Linnen oder Hasenhaare auf … Wer aber Augen-, Ohren- oder Kopfschmerzen hat, nehme die Erhitzung hinter den Ohren vor, ohne dass er einen Verband benutzt; bei Rückenschmerzen wende er sie zwischen den Schulterblättern an oder an den Armen, wo er einen Verband tragen kann; bei Schmerzen in den Weichen zwischen diesen und dem Rücken, und wenn man viel Säfte im ganzen Körper hat, lasse man sich zwischen Schienbein und Wade erhitzen und trage dort einen Verband. Und wie der, welcher sich zur Ader lässt, bissweilen eine Pause macht, so soll es auch der halten, der eine Erhitzung vornimmt. Wenn er sich eine Zeit lang am Tage ausgeruht hat, mag er sich wieder erhitzen. Wer aber eine Erhitzung anwendet, nehme ein Hanftuch, tauche es 3 oder 4 Mal in Wachs, lege es auf Rosmarinrinde, weil es mit dem Wachs auf der erhitzten Stelle fest aufliegt, und lege es auf, so dass das Tuch überall die Rinde überragt. So hält der Verband den Eiter der Erhitzung fest, dass er nicht hervortreten kann. Denn je mehr Eiter auf der erhitzten Stelle zurückgehalten wird, desto mehr Eiter scheidet aus ohne Blutverlust … Cyprusrinde taugt nicht für eine Erhitzung … Wenn der aufgelegte Verband voll Eiter ist, so dass er davon warm ist, nehme man ihn ab und lege einen neuen auf …    


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