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(1905)
Ich war gegen Mittag in der kleinen mitteldeutschen Residenzstadt angekommen, wo ich für einen Roman Lokalstudien zu machen wünschte. Das Städtchen liegt reizend an einem hellen Fluß im Schutz schöner Hochwälder, die wenigen Fabriken, die auch hier den Fortschritt der neuen Zeit bekunden, haben sich draußen vor den Thoren angesiedelt, im Innern sind Straßen und Plätze so sauber gehalten, als wären sie nur die erweiterten Vorzimmer und Corridore des fürstlichen Schlosses, das etwas erhöht zwischen ihnen aufragt und mit patriarchalischem Wohlwollen auf die niederen Dächer der glücklichen Unterthanen herabschaut. Ich gewann den Eindruck des behaglichsten, idyllischen Friedens, an dem die Stürme der modernen Welt machtlos vorübergebraust waren.
Nachdem ich in der Stadt selbst mich gründlich umgesehen und ihre alten Wälle, auf denen jetzt schöne Baumanlagen Schatten spenden, umkreist hatte, war ich Abends ziemlich ermüdet in meinem Hôtel wieder angelangt und begehrte nichts, als nach einem frugalen Nachtessen früh zu Bett zu gehen.
Ich hatte aber die Rechnung – nicht ohne den Wirth, aber ohne einen seiner Gäste gemacht.
In dem sehr sauber mit Stuck verzierten Speisesälchen, wo zwischen den obligaten Porträts des regierenden Fürstenpaars auch die Bilder des Kaisers und der Kaiserin hingen, saßen außer ein paar Handlungsreisenden an verschiedenen Tischen eine Anzahl älterer Herren, Honoratioren der Stadt, die sämmtlich Stammgäste zu sein schienen.
An einem kleineren Tische war eine Skatparthie im Gange. Ein langer, hagerer Herr in einem etwas altväterischen, bis oben zugeknöpften Rock und losem schwarzem Halstuch stand hinter den Spielern und »kiebitzte«. Als ich eintrat und mich an den einzigen noch freien Tisch setzte, bemerkte ich, daß er sich nach mir umsah, mich scharf fixierte und sich dann das Fremdenbuch geben ließ. Er nickte, wie Jemand, der eine Vermuthung bestätigt findet, wandte sich dann aber dem Spiel wieder zu und schien mich nicht weiter zu beachten.
Doch nur, bis ich mein Mahl beendet hatte und mir eine Cigarre anzündete. Da verließ er den Spieltisch und trat an den meinen heran, indem er sich höflich verneigte.
Erlauben Sie, verehrter Herr Doctor, sagte er, daß ich Sie begrüße und Ihnen sage, wie sehr es mich freut, daß Sie meiner kleinen Vaterstadt die Ehre Ihres Besuches erweisen. Darf ich mir die Frage erlauben, ob Sie vorhaben, länger hier zu verweilen?
Nur bis morgen früh, versetzte ich, so sehr mir die Stadt gefällt. Mit wem habe ich die Ehre?
O, Herr Doctor, erwiderte er, mein Name ist ganz unberühmt (er nannte ihn) und kann Sie durchaus nicht interessieren. Vor langen Jahren freilich – da hofft' ich, mir einmal einen Namen zu machen. Dazu hat es nicht ausgereicht. Ich bin in der Heerde geblieben, anstatt zum Hirten zu avancieren, und vegetiere nun so – fruges consumere natus.
Ich hatte mir den Mann indessen genauer betrachtet. Sein viereckiger Kopf besaß nur noch wenige schwarze Haare, die über eine Glatze gekämmt waren. Das Gesicht war sorgfältig rasiert, die Augen sahen mit einem klugen, ruhigen Blick unter buschigen Brauen hervor, die große Nase war regelmäßig geformt. Das Anziehendste war der feingeschnittene Mund, den beständig allerlei Fältchen umspielten, sarkastische, melancholische, zuweilen grollende. Man konnte sich kein ausdrucksvolleres Mienenspiel denken. Dabei hatte seine ganze Art, sich zu geben, trotz des altmodischen Anzugs nichts Kleinstädtisches.
Ich fragte, welchem Beruf er sich denn gewidmet habe, in dem es ihm nicht nach Wunsch gegangen sei. Da lächelte er halb verlegen, halb humoristisch.
Einen Beruf, sagte er, zu dem sich in unserem lieben Vaterlande nur allzu Viele berufen glauben, da doch nur selten einmal ein Auserwählter darunter ist. Mit einem Wort: ich glaubte, ich sei zum Dichter bestimmt.
Als er dies Wort ausgesprochen hatte, ließ er sich auf einen Stuhl, der mir gegenüber stand, nieder und sagte: Verzeihen Sie – ich will Sie nicht lange belästigen – Leute meines Schlages müssen Ihnen zu Dutzenden vorkommen – auch ist nichts Interessantes an ihnen, aber einen Augenblick möchte es mir erlaubt sein, einen Mann zu betrachten, der das geworden ist, was mir zu werden versagt blieb.
Ich sann darüber nach, was ich erwidern sollte, da mir der Mann für die banalen Phrasen, die man für getäuschte Hoffnungen bereit hält, zu gut schien. Da fuhr er plötzlich fort: Daß es mir für immer versagt bleiben würde, habe ich leider zu früh geglaubt. Das Beste an jedem Talent hat mir eben gefehlt: der Muth. Den hat mir jenes bekannte Wort eines der sieben Weisen Griechenlands: Erkenne dich selbst! in der Brust erstickt. Von allen sogenannten weisen Worten das dümmste.
Nein, fuhr er fort, da ich lächelte, es ist mein voller Ernst. Es ist genau so dumm, als wenn man einem Menschen befiehlt, über seinen Schatten zu springen. Denn sehen Sie, wenn ich mich selbst beurtheilen soll, wer steht mir dafür, daß ich urtheilsfähig bin? Dazu müßte ich erst wieder das Ich, das ich erkennen soll, selbst erkennen und so mit Grazie in infinitum. Eine einfältige Zumuthung, so eine moralische Vivisection an sich selbst zu vollziehen. Denn eben das narkotische Mittel, den Schmerz dabei zu stillen oder doch abzustumpfen, die Eitelkeit, die das Object gleichsam chloroformiert, fälscht ja die Untersuchung. Und dann wird noch das verhängnißvoll, daß gerade die Anständigsten, die nicht Eiteln geneigt sind, sich selbst zu unterschätzen, wenn sie zu den Großen hinaufblicken. Ein Anfänger kennt ja auch die richtigen Maßstäbe nicht und weiß nicht, worauf es ankommt, auch daß man immerhin an dem Most, der sich absurd gebärdet, nicht verzweifeln soll, er würde noch einmal einen trinkbaren Wein geben. Freilich giebt es Fälle, wo Selbstkritik kein Kunststück ist. Daß ein lahmer Mensch einsieht, er sei zum Seiltänzer verdorben, oder einer, der kaum zwei mal zwei multiplizieren kann, begreift, er werde es in der höheren Mathematik nie weit bringen – das liegt auf der Hand. Allenfalls auch sittliche Urtheile, z. B. daß man Hang zum Trinken, Spielen, Geldgewinnen oder Weiberverführen habe und daß es wohlgethan wäre, diesen Neigungen entgegenzuarbeiten – solche Selbsterkenntnisse können noch mit einiger Sicherheit gefällt werden. Aber einem Menschen, der ein künstlerisches Talent in sich fühlt, zuzumuthen, daß er ergründen soll, wie weit das allenfalls reiche, das ist geradezu unsinnig und kann in vielen Fällen unheilbaren Schaden anrichten. Hier muß man sich blindlings seinem Genius überlassen, numine afflatur ist hier die Parole. Auch ein Irrthum, ein Fehlschlag darf einem nicht weismachen, daß es auf diesem Wege ein für allemal nicht weiter gehe; irren ist ja menschlich, und selbst die göttlichsten Menschen haben geirrt. Ein richtiger Künstler aber in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewußt, und wenn's kein Weg wäre, der zum Allerhöchsten führte, er soll ihn nur getrost weiter gehen, es ist sein Weg, auf den ihn seine Natur gewiesen hat. Wer aber, wie ein Schulmeister einem Knaben, sich selbst eine Note giebt und erklärt, er sei zum Aufsteigen in eine höhere Klasse nicht reif, werde es wohl niemals werden, der versperrt sich thörichterweise eigenmächtig den Aufstieg, der nur gelingt, wenn man sich nicht bloß auf seine Füße verläßt, die nur Schritt für Schritt vorwärts kommen, sondern auf die Flügel, die der Muth und das Selbstvertrauen einem an die Schultern heften! – –
Der Mann gefiel mir immer mehr, und auf das, was er sagte, war eigentlich nichts Triftiges zu erwidern. Nur um noch mehr aus ihm herauszulocken, sagt' ich: Gewiß, lieber Herr. Aber Sie werden zugeben, daß es doch eine Grenze giebt, wo man selbst erkennen sollte, daß Muth und Selbstvertrauen Illusionen waren, wenn man nicht sein ganzes Leben an eine unerfüllbare Hoffnung verlieren soll.
Das wird Niemand bestreiten, erwiderte er. Nur sollte man diese letzte Entscheidung nicht übereilen, nicht aus Kleinmuth die Flinte zu früh ins Korn werfen, wie ich gethan habe. Aber das kann Sie ja nicht interessieren.
Im Gegenteil, sagt' ich – – doch ich will lieber, um nicht beständig »sagt' ich«, »sagte er« einzustreuen, unsern Wechselreden das »Er« und »Ich« vorsetzen. Also:
Ich: Im Gegentheil. Es kann mir nichts angenehmer sein, als Näheres von Ihnen zu erfahren. Wenn ich Sie einladen darf, an meinem Wein theilzunehmen –
Er: Schönsten Dank. Aber ich bin Abstinenzler. Der Wein bringt mich immer in eine Stimmung, in der ich Welt und Menschen rosig ansehe. Die Ernüchterung ist dann um so schmerzlicher. Aber wenn Sie wirklich das Schicksal eines in herba verdorrten Collegen interessiert – es ist nur eins von hunderten, doch wem es just passieret –
Nein, das Herz hat mir's nicht entzwei gebrochen. Es giebt noch immer allerlei Dinge, die zu genießen der Mühe des Lebens werth ist. Freilich so, wie ich mir's als junger Mensch geträumt hatte –!
Ich bin nämlich als einziger Sohn des hiesigen fürstlichen Rentmeisters zur Welt gekommen. Das Einkommen meines Vaters war derart, daß wir mit den bessergestellten Familien der Residenz rangieren konnten. Gleichwohl wollte mich mein Vater nicht studieren lassen, da er kränklich war und, wenn er früh stürbe, die Seinigen auf eine kärgliche Pension angewiesen wären.
Ich besuchte also die Bürgerschule und sollte Kaufmann werden.
Da aber rettete mich Apollo, wie Horaz singt.
Ich war schon ganz früh mit der Versewuth behaftet, Gott weiß, wie ich dazu kam. Denn prosaischere Menschen, als meine guten Eltern, konnte es nicht geben, und auch in unserm theuren engeren Vaterländchen wehte kein literarischer Wind. Trotzdem reimte ich schon als Neunjähriger wie toll und thöricht drauf los und verfaßte auch ein erstes Drama, das nur den Vorzug hatte, nicht länger als acht kleine Oktavseiten zu sein. Da aber bekanntlich »Dichter nicht zu schweigen lieben«, zeigte ich's meinen Kameraden, und so verbreitete sich der Ruf meiner frühreifen Poetenschaft erst in der Schule und von da aus im Städtchen und endlich sogar bis zu den fürstlichen Herrschaften im Schloß.
Auch da war sonst nicht viel von Dichtern und ihren Gesellen die Rede. Aber der Gedanke, daß von hier aus so etwas wie ein poetisches Wunderkind in die Welt gehen würde, machte doch Eindruck auf die Landesmutter. Der kleine Rentmeisterssohn wurde in das Boudoir Ihrer Durchlaucht geholt, mußte seine Verse vorlesen, wurde bewundert, aufgemuntert und mit Kuchen traktiert.
Ein paar Jahre später bewies das angehende Genie seine Dankbarkeit durch ein Carmen zur silbernen Hochzeit der Herrschaften, und als der Erbprinz bald darauf sich vermählte, durch ein Festspiel, das den halben Olymp allegorisch in Bewegung setzte und ungeheuren Erfolg hatte.
Sie werden im Vorbeigehen vielleicht unser Theater bemerkt haben. Es wurde nur selten darin gespielt, wenn das Personal der nahen Großstadt ein paar Gastrollen bei uns gab, dann immer nur kleinere Schau- und Lustspiele. Doch auch diese regten mich ungemein an, und das übrige that die Lectüre der klassischen Dramen.
Das Beste an jenem Erstlingserfolg war aber, daß meine fürstliche Gönnerin meinem Papa erklärte, sie übernehme die Kosten meiner höheren Ausbildung, ich müsse zunächst das Gymnasium, dann die Universität besuchen.
Sie können denken, wie glücklich ich war.
Aber ich will Sie nicht mit einem ausführlichen curriculum vitae langweilen. Genug, ich kam endlich auf die Universität, studierte natürlich Jura, weil auch Goethe Jurist gewesen war, und vielleicht mit noch geringerem Eifer. Mein Sinnen und Trachten ging darauf, ein großer Dramatiker zu werden.
Ein gnädigstes Stipendium machte es mir möglich, nachdem ich das erste Examen absolviert, die Haupttheater Deutschlands zu besuchen, Wien, Berlin, Dresden. Es war noch die gute Zeit, ich sah Anschütz, die Rettich, den jungen Sonnenthal, in Berlin Döring, Hoppé, die Krelinger, dann die Bayer-Bürck, Dawison, Emil Devrient und wie viele Andere. Dabei reifte im Stillen das große Stück heran, mit dem ich beweisen wollte, daß alle Gunst und Gaben meiner Wohlthäterin nicht an mir verschwendet gewesen seien.
Ich erlebte diese Premiere natürlich an keiner jener größten Bühnen, doch immerhin an einem ansehnlichen Stadttheater, das über ein gutes Personal verfügte. Auch war's nicht eigentlich ein Durchfall. Aber die höfliche Theilnahmlosigkeit des Publikums berührte mich fast schmerzlicher, als ein totales Fiasco gethan hätte.
So auch die herablassende Gönnermiene, mit der mich die Presse behandelte. Gegen verdammende Urtheile im Einzelnen hätte ich mich innerlich zur Wehre gesetzt, mich allenfalls, wenn sie berechtigt gewesen wären, dazu anstacheln lassen, auch die Tugenden dieser meiner Fehler geltend zu machen. Aber die kühle Abfertigung, als ob dieser junge Mensch überhaupt nicht ernst zu nehmen sei, schlug mich dermaßen nieder, daß ich ein paar Wochen lang wie gelähmt herumging und mich mit dem selbstmörderischen Scharfsinn voreiliger Selbsterkenntniß ein für allemal zu den Todten warf.
Ich habe das Manuscript nach langen Jahren wieder einmal angesehen und erkannt, daß ich damals sehr übereilt geurtheilt hatte. Es war natürlich kein Meisterwerk, aber es steckte was drin, was nur gerade gar nicht dazu geeignet war, dem Publikum und den Herren von der Kritik zu imponieren. Ich hatte alles vermieden, was bloß theatralisch, nicht dramatisch und dichterisch gewesen wäre, war mit ästhetischer Keuschheit dem Effect gewissenhaft aus dem Wege gegangen, und da die Schauspieler mir zu helfen gedachten und meinen der Natur abgelauschten Figuren etwas aus ihren Mitteln geliehen hatten, war sogar der einzige Reiz einer gleichmäßigen Schlichtheit und Echtheit verloren gegangen.
*
Er sah mit einem schwermüthigen Ausdruck vor sich hin, rief dann den Kellner und ließ sich einen Schoppen Wein bringen.
Ich: Warum wollen Sie nicht von meiner Flasche trinken?
Er: Der ist mir zu schwer. Wie gesagt, ich muß meine nüchterne Stimmung möglichst conservieren. Aber wenn ich an mein verfehltes Leben denke, brennt mir's auf der Zunge, das muß ich zu löschen suchen. Ihr Wohl, verehrter Herr!
Wir stießen mit einander an.
Ich: Am Ende hat es Ihr Schicksal doch nicht so schlecht mit Ihnen gemeint, da es Sie gleich bei der ersten Ausfahrt auf die rasende See des Theaters, die so viele Opfer verschlingt, schon im Hafen scheitern ließ. Ich zweifle nicht, daß Sie viel Gutes und Schönes zu Stande gebracht hätten. Aber wie Sie mir Ihre geistige Anlage schildern, so gar nicht dazu angethan, mit den Wölfen zu heulen, wären Ihnen in dieser großen Loterie wahrscheinlich auf einen Gewinn fünf Nieten gekommen, und die letzte Resignation hätte Ihnen mehr Herzweh gemacht, als die erste.
Er: Darin haben Sie gewiß Recht. Und doch – wer eine noble Passion treibt, dem ist eben diese die Hauptsache, nicht, was er dabei gewinnt. Es lebt hier ein passionierter Jäger – Sie haben ihn vorhin selbst gesehen, der große Herr mit dem Vollbart bei der Skatparthie – nun, der geht beständig auf die Jagd, und es heißt, daß er froh ist, wenn er im ganzen Jahr drei Hasen und sechs Rebhühner schießt. Aber wozu noch darüber lamentieren? Auch wenn ich immer vorbei geschossen hätte, – auf dem Anstand zu stehen – so hinter den Koulissen –, zu horchen, ob eine Kugel getroffen hat – kurz, das ganze Leben und Treiben bei diesem Geschäft – es hätte mein Blut beständig in Glut und Wallung erhalten.
Na, es war dafür gesorgt, daß es auch so nicht einfrieren konnte.
Vom Theater konnt' ich sobald nicht lassen. Sie wissen, wer einmal tragisches Blut geleckt hat –! Na, da bin ich denn, wenn ich nicht schöpferisch mitthun sollte, unter die Kritiker gegangen.
Ich: Hm! Und das hat Sie befriedigt?
Er: Warum nicht? Erlauben Sie mir die Frage: wie denken Sie von der Kritik? Nicht zum besten, wie mir scheint.
Ich: Je nun, vor einer Institution, die Gott selbst angeordnet hat, muß man doch wohl Respect haben.
Er: Gott selbst?
Ich: Hat er nicht im Paradiese den Baum der Erkenntniß von Gut und Böse wachsen lassen, doch gewiß in der Voraussicht, daß die ersten Menschen davon essen und ihre Erkenntniß nicht für sich behalten würden? Nun, und zu der Kritik über Gut und Böse gesellte sich naturgemäß doch auch die über Schön und Häßlich, so daß die Leute, die, so lange die Welt steht, sich einen Beruf daraus gemacht haben, über alles, was künstlerisch geschaffen wird, ihre Meinung abzugeben, sich jedenfalls Kritiker »von Gottes Gnaden« nennen dürfen.
Er (lachend): Sie scherzen. Aber nein, in allem Ernst: halten Sie den Beruf des Kritikers für überflüssig?
Ich: Etwas, das aus der menschlichen Natur hervorgeht, also eine nothwendige Function unseres Organismus ist, kann doch wohl nicht überflüssig sein, und wenn es nur ein nothwendiges Übel wäre. Freilich, Manches ist ja in der Schöpfung vorhanden, dessen besonderen Nutzen wir nicht einsehen. Zuweilen will es mir scheinen, als ob der Hauptvortheil der Kritik nur darin bestehe, daß die Herren Kritiker ihre Meinung loswerden, die ihnen sonst wie jede ungehaltene Rede auf die edleren Theile schlagen würde, daß sie also ihre Weisheit an den Mann bringen, ihre Galle lüften können. So lange das ohne persönliche Bosheit geschieht, ohne Schadenfreude, ist das ja auch ganz löblich, da es zur Selbsterhaltung dient. Im Übrigen wird der Nutzen der gedruckten ästhetischen Urtheile wohl immer in bescheidenen Grenzen bleiben, die beste Kritik nicht viel nutzen, die schlechteste nicht viel schaden.
Er: Wie? Sie glauben nicht, daß das Publikum ein Interesse daran habe, von einsichtigen Kunstrichtern über Werth und Unwerth einer Novität aufgeklärt, überhaupt ästhetisch erzogen zu werden?
Ich: Gewiß. Das könnte dem verehrten Publikum sehr nützlich sein. Wenn es nur aber überhaupt erziehungs bedürftig oder - fähig wäre! Was verlangt es aber vom Kritiker? Ein paar Schlagworte, die es in seinen eigenen Äußerungen über ein neues Werk gebrauchen könnte, ein paar weise und überlegen klingende Redensarten, keine allgemeinen Maßstäbe, nach denen sich auch diese Erscheinung messen ließe. Wenn es anders wäre, hätte nicht die Bemühung eines der scharfsinnigsten dramaturgischen Kritiker aller Zeiten eine tiefere Wirkung gehabt und den Geschmack des Theaterpublikums auf lange hinaus gereinigt? So aber ist Lessing die Stimme des Predigers in der Wüste geblieben. Und wer möchte heutzutage Abhandlungen über Stücke und ihre Darsteller im Geschmack der Hamburger Dramaturgie lesen, noch dazu manchmal erst viele Wochen nach der Aufführung? Was das Publikum verlangt, sind jene kleinen, Nachts hingeworfenen Referate, natürlich nach der guten oder schlechten Stimmung des Recensenten gefärbt, und am anderen Tage eine möglichst amüsante, witzige, wenn auch boshafte ausführliche Besprechung. Und da der Kritiker literarischen Ehrgeiz hat, braucht er nicht einmal ein böser Mensch zu sein, um lieber geistreich zu tadeln, als warmherzig zu loben, was ja auch viel schwerer ist und kein Leser ihm sonderlich dankt.
Er: Ja wohl, die Macht, die durch dies Métier oft ganz Unberufenen in die Hände gelegt wird, verdirbt einen Charakter, der nicht streng in sich gefestigt ist. Man muß auch billig sein. Ein Mensch, der bisher gar nichts bedeutet hat, der von Niemand beachtet worden ist – auf einmal, wenn er Zugang zu einer Zeitung gefunden hat, müssen so und so viel Leute, die Morgens zum Kaffee diese Zeitung lesen, von seinen Meinungen und Urtheilen Notiz nehmen. Ist's ein Wunder, wenn ihm dieser plötzliche Umschwung zu Kopfe steigt, er die Macht, die er nun besitzt, mißbraucht, und Solchen, die vielleicht bisher ihre Überlegenheit ihn haben fühlen lassen, nun seinerseits beweist, daß mit ihm nicht gut Kirschen essen ist? Es ist gar zu verführerisch, sein Müthchen an Wehrlosen zu kühlen. Alfred de Musset hat das so reizend ausgesprochen:
(Und nun deklamierte er mit drolligem Pathos und einem fein sarkastischen Grinsen die Verse:)
Wie süß ist's, Freund, an nichts ein gutes Haar zu lassen!
Ein todtgeborener Geist, der Ohnmacht sich bewußt,
Wie rächt er sich dafür, daß er nichts kann, mit Lust!
Ward ein verdienter Kranz an irgendwen verliehen,
Wie süß, nach Haus zu gehn, die Stiefel auszuziehen,
Den Mann für einen Tropf und Stümper zu erklären
Und über seinen Ruhm ein Tintfaß auszuleeren,
Und steht uns zu Gebot ein dunkles Winkelblatt,
Drin abzuleugnen, was man selbst gesehen hat!
Die höchste Wollust ist die anonyme Lüge.
(Dann, in sich hineinkichernd:) Hahaha! Dem guten Musset scheint ein Recensent bei einem seiner reizenden Proverbes übel mitgespielt zu haben, so daß ihm die Galle überlief und er den Charakterkopf des hämischen Recensenten in seiner ganzen Häßlichkeit aufs Papier warf. Indignatio facit versum. Nun, von der Sorte giebt's Gott sei Dank nur wenige Exemplare. Die Meisten betreiben das Geschäft, wenn sie's nicht bloß, was ja der gewöhnliche Fall ist, ihres Unterhalts wegen thun, in der Überzeugung, damit etwas Nützliches und für die fortschreitende Cultur Unentbehrliches zu leisten, als Lehrer und Führer ihrer Zeitgenossen, denen sie es schuldig seien, ihr Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Sie würden es für einen Raub halten, wenn sie den Armen am Geist ihre Weisheit vorenthielten. Vor solchen ehrlichen braven Leuten, auch wenn sie sonst das Pulver nicht erfunden hatten, hab' ich immer einen aufrichtigen Respect gefühlt.
Und dann, was sich die hohen Regierungen gefallen lassen müssen, daß der beschränkte Unterthanenverstand ihre Maßregeln sich genauer ansieht, ob sie Hand und Fuß haben, das müssen auch die Herren Dichter hinnehmen, ohne zu murren. Wer da bauet an der Straßen, muß sich von Jedermann meistern lassen, wenn es auch die liebe Eitelkeit kränkt und den Geschmack des Erbauers nicht ändert. Der alte Ariost war ein kluger Mann, der schrieb bekanntlich außen an sein Häuschen in Ferrara, wo ich's selbst gelesen habe:
Klein, doch passend für mich, doch niemand im Wege, doch ohne
Schmutz, und mit eigenem Geld hab' ich das Haus doch bezahlt
was in kürzerer Fassung heißt: »Bleibt mir vom Leibe mit eurer Kritik, ihr Gassenjungen!« Meinetwegen also mag die Kritik auf das Publikum wenig Einfluß haben. Aber sollte sie sich nicht um die Darsteller verdient machen können?
Ich: Um die Darsteller? Haben Sie denn je einen Schauspieler gekannt, für den eine Kritik, die ihn nicht energisch lobte, überhaupt vorhanden war? Der nicht in jedem Journalisten einen persönlichen Feind gesehen hätte? Und man kann's den Herren und gar den Damen nicht einmal verdenken. Die Nachwelt flicht ihnen keine Kränze; diejenigen, die ihnen von der Mitwelt zugeworfen werden, sollen wenigstens keine Dornen enthalten. Und dann, selbst wenn sie belehrt sein woll ten, wie selten können sie sich gute Lehren wirklich zu Nutze machen, als höchstens in äußeren Dingen, falschen Betonungen, schlechten Angewohnheiten? Schon die Auffassung einer Rolle – selbst wenn Alba einsähe, daß er Schrecken einflößen sollte –, die Natur aber hat ihm vielleicht eine zu hohe Stimme und ein sanftes Augenpaar verliehen. Mit dem besten Willen kann er nichts Dämonisches in sein Spiel legen, wie der Herr Kritiker mit Recht verlangt. Und so in hundert Fällen. Nein, lieber Herr, auch die feinen Bemerkungen Lessing's über das Spiel gewisser Mimen waren an diesen verloren. Zuletzt kann Niemand aus seiner Haut und seiner Länge eine Elle zusetzen, so daß es völlig unnütz ist, einem armen Teufel vorzuhalten, daß einem seine Nase nicht gefällt, weil sie zu seiner Rolle nicht paßt.
Er: Auch das will ich Ihnen im Allgemeinen zugeben. Und freilich ist's den Mimen nicht zu verdenken, wenn sie sich höchstens vom Regisseur eine Belehrung gefallen lassen, der doch wenigstens »vom Bau« ist und kein laienhafter Besserwisser. Wenn aber die Kritik für Publikum und Schauspieler unnütz wäre, die Dichter wenigstens sollten doch dankbar sein, einen Menschen zu finden, der es mit ihrem Werk ernst nimmt und es nach wohlbegründeten Maßstäben mißt. Notabene, ich spreche nur von der redlichen und einsichtigen Kritik. Die Mussetschen Neider und Hasser können natürlich nicht in Betracht kommen.
Ich: Redliche und einsichtige Beurtheiler? Ja, wissen Sie nicht und haben's an sich selbst erlebt, wie dünn die gesät sind? Ist es nicht eine Thatsache, daß ein Mensch, der seinen Beruf verfehlt und nur eine Primanerbildung erlangt hat, sich immer noch getraut, dramatischen Dichtern, die längst ihren Platz gefunden haben, ihre Hefte zu corrigieren, wobei sie sich gewiß meist für »redlich und einsichtig« halten? Wie sagte Voltaire zu einem Dramatiker, der sich über die vernichtende Kritik in einer Zeitung beklagte: Qu'est-ce que c'est qu'un journal? Un journal c'est un jeune homme.
Er (lachend): Gewiß, in neun Fällen von zehn. Aber gleichviel, der zehnte verdient doch gehört zu werden, und wenn Alle schwiegen und nur die blöde Menge ihr Votum abgäbe, wäre dem Autor doch auch nicht damit gedient. Hat nicht Hegel einmal gesagt: Die Strafe ist das Recht des Verbrechers? Nun, auf die Literatur angewendet, mag das heißen: Die Kritik ist das Recht des Autors.
Ich: Glauben Sie aber nicht, daß die meisten, die ein Theaterstück verbrochen haben, wie alle anderen Verbrecher auf dies Recht gern verzichten würden? Denn auch die Zwecke, die der Strafrichter mit seiner Gesetzgebung im Auge hatte: Abschreckung und Besserung, werden so wenig bei den dramaturgischen Verbrechern wie bei den gemeinen erreicht. Jeder thut, was er nicht lassen kann, zumal er in Verlegenheit ist, welchen Weg zur Besserung er einschlagen sollte, da die Rathschläge seiner Erzieher sich oft diametral widersprechen. Und so wird es für den Dramatiker das Klügste sein, nur auf sein eignes Gewissen und die Lehre der großen Meister zu lauschen und nach dem Zeitungsgeschwätz in Betreff seiner redlichen Arbeit überhaupt nicht hinzuhorchen.
Er: Diesen Rath wird doch aber schwerlich Jemand befolgen, dem nicht seine eignen dichterischen Gestalten und was man von ihnen denkt, so gleichgültig sind wie Hekuba. Anfänger nun am wenigsten.
Ich: Jawohl, auch unter meinen längst in Ehren ergrauten Collegen kenne ich manche, die am Morgen nach einer ersten Aufführung, wo sie über die Mängel ihres Werks durch das Bühnenbild sich belehrt und daneben auch Freude an sich selbst gehabt haben, sich diese Freude nachträglich trüben und verderben lassen, indem sie sämmtliche Zeitungsberichte über ihr Stück lesen. Gewisse schnöde Verunglimpfungen, von Leuten ausgehend, die Grund zur Eifersucht oder sonstigem Mißwollen haben, sind nicht einmal das empfindlichst Schmerzende. Gerade die »redlichen und einsichtigen« Urtheiler können am meisten aufregen, wenn sie offenbar irrige Meinungen aussprechen, Mißverständnisse sogar des bloßen Thatbestandes, die mit zwei Worten zu berichtigen wären. Und diese zwei Worte auszusprechen, verbietet das strenge Herkommen, nach dem ein öffentlich getadelter Autor sich nicht öffentlich rechtfertigen darf, wie es wissenschaftlichen Recensionen gegenüber erlaubt ist. Welchen Nutzen hat also der Dichter von solcher Kritik? Kann er überhaupt selbst einem wohlwollenden Zuschauer zutrauen, über ein Stück, das er nur einmal gesehen hat, vielleicht in einem schauspielerischen Zerrbilde, dennoch besser Bescheid zu wissen, als der Verfasser selbst, der Jahr und Tag mit dem Stoff gerungen und all seine Tiefen und Untiefen kennen gelernt hat? Dem schon bei der Aufführung vollends klar geworden ist, woran es fehlt und aus welchen Gründen? Allerdings – wenn außer dem Votum des Publikums im Theater nichts weiter über eine neue Dichtung verlautete, wär's den Dichtern auch nicht recht; sie wollen's Schwarz auf Weiß haben, wie ihre Leistung gewerthet wird. Als ob irgend ein bedeutendes Werk jemals sofort erkannt und anerkannt würde, gerade das genialste nicht seiner Zeit voraus wäre. Von berühmten Beispielen wimmelt's geradezu. Aber auch eine bescheidene Arbeit, die in der ganzen Persönlichkeit des Schaffenden wurzelt, wie kann der Autor erwarten, daß ihr Gerechtigkeit widerfahren solle, ehe die Zeit dieser seiner Gesammtpersönlichkeit gerecht geworden ist? Wie viel Mißurtheile bewahrt die Literaturgeschichte, die nur zu erklären sind aus der beschränkten Sehweite des Urtheilenden? Hat nicht selbst Goethe von Heinrich von Kleists Dramen einen so unzulänglichen schiefen Begriff bekommen, weil er das tiefste Wesen dieser ungewöhnlichen Erscheinung nicht aus den Bedingungen seiner Zeit und seines persönlichen Schicksals zu deuten wußte? Und der wohlmeinendste Kritiker, wenn er nicht zu den besonders erleuchteten gehört, sollte sich vermessen, ein vielleicht bescheidenes, aber in seiner Eigenart einziges Werk über Nacht richtig zu taxieren, ohne den Maßstab für die Stellung des Autors zum Geist der Zeit überblicken zu können? Wie oft ist das Unscheinbare, das vom Prahlerischen zuerst in Schatten gestellt worden, später zu Ehren gekommen, weil es echt war und das Echte der Nachwelt unverloren bleibt?
Er: Hm! – Ja! – Allerdings. Wenn ich dies alles, so wie Sie mir's jetzt vorstellen, schon damals, als ich unter die Kritiker ging, bedacht hätte, wäre mir viel verlorene Liebesmüh erspart geblieben. Damals aber war meine Theaterpassion noch auf ihrer Höhe. Da ich den Muth verloren hatte, auf den Brettern selbst mitzuthun, in ihrem Dunstkreis mußt' ich doch leben, und wie Sie vorhin gesagt haben: ich mußte den Mund überfließen lassen von dem, weß mein Herz voll war, oder ich wäre daran erstickt. So fand ich denn für meine Leidenschaft allerlei hochklingende Namen. Ich glaubte, eine »Mission« zu haben, dem Verfall des deutschen Theaters entgegenzuarbeiten; die Kritik sei das »ästhetische Gewissen der Nation«, und was der schönen Mäntelchen mehr waren, mit denen ich meine Liebhaberei als eine sittliche Pflicht drapierte. Das Eine aber darf ich mir zur Ehre nachsagen, daß das Goethische Wort:
Wer uns am schärfsten kritisiert?
Ein Dilettant, der sich resigniert –
auf mich keine Anwendung fand. Ja es scheint mir nicht einmal im Allgemeinen richtig. Ein Dilettant, der sich nicht resigniert, ist der grausamste Höllenrichter, denn er sieht überall Menschen, die ihm im Wege stehen, die er vernichten möchte, um für seine eigenen Erzeugnisse freie Bahn zu haben. Ich dagegen war wirklich nur von dem Streben beseelt, Jedem sein Recht anzuthun und seine Ehre zu geben, und wo sich ein Unbefugter eindrängte, ihm ruhig, ohne boshaften Witz oder heftige Schmähungen die Thür zu weisen.
Damit versah ich's aber weit.
Ich hatte Zugang zu ein paar Zeitungen erhalten, einer, die an dem Ort, wo ich lebte, erschien, und zwei auswärtigen. Die versorgte ich nun mit meinen kritischen Expectorationen. Es war eine größere Stadt, die ein recht bedeutendes Theater hatte. So war mein Geschäft auch ganz angenehm, da ich vornehmlich Gutes anzuerkennen hatte und oft auch gegen den unsicheren Geschmack des Publikums einen Autor in Schutz nehmen konnte. Da aber meine Collegen an den anderen Orten zuweilen minder gutartige Leute waren, erhielt ich von den auswärtigen Redactionen erst Anfragen, dann Ermahnungen, die Feder nicht in Milchsaft zu tauchen, nicht mit pedantischem Raisonnement, das die Leser nur langweile, meine Urtheile beweisen zu wollen, sondern pikante Feuilletons zu verfassen. Als ich dies nicht über mich bringen konnte, wurde mir gekündigt. Auch in meinem Wohnort selbst beklagte sich der Herausgeber über meine zu wenig gesalzene und gepfefferte Schreibart, und da er Jemand fand, der es besser verstand, das Publikum zu amüsieren, selbst auf Kosten der Wahrheit, so ward ich auch hier verabschiedet.
Ich ging dann fort und versuchte es in anderen Städten – mit dem gleichen Erfolg. Da ich auf Zeitungshonorare nicht angewiesen war – zu dem kleinen ererbten Vermögen kam noch eine Pension, die meine fürstliche Gönnerin trotz der nicht eingetroffenen Hoffnungen auf die Zukunft des Wunderkindes in ihrem Testament mir ausgesetzt hatte – so konnt' ich's mit ansehen, daß ich zu gut war für diese Welt, die die Bretter bedeuten. Ich ließ mich also nicht entmuthigen und hoffte mit Goethe, daß das Gute wachse, wirke, fromme, und daß der Tag des Edlen endlich komme.
Sie werden lachen, verehrter Herr, oder mich jedenfalls für nicht ganz richtig hinter der Stirn halten.
Ich hab's denn auch endlich selbst eingesehen, daß ich gegen Windmühlen kämpfte. Noch einen letzten Versuch macht' ich, indem ich in einer Broschüre einmal mit wissenschaftlichem Ernst und, wie ich glaube, dialektischer Schärfe mich über unser modernes Theater vernehmen ließ. Es war aber gerade der Beginn der neuen Ära, des Real- und Naturalismus, und die ihr angehörten, hatten das Wort in allen Tagesblättern. So fanden sie es zweckmäßig, sich zum Todtschweigen meiner Abhandlung zu verbünden, und ich hatte keinen anderen Erfolg von der Sache, als daß ich die Druckkosten bezahlen mußte.
Über meine Wirksamkeit als öffentlicher dramaturgischer Schriftsteller war ich nun endlich aufgeklärt. Die Theaterpassion aber dauerte fort und auch die Empörung über die Unverantwortlichkeit der gewöhnlichen Zeitungskritik. Um nun nicht daran zu ersticken, verfiel ich auf einen sonderbaren Gedanken, der mir auch eine gute Weile half, meinen Gerechtigkeitssinn zu befriedigen.
*
Er schwieg ein wenig, trank den Rest seines Weines aus und sagte dann: Schwatz' ich Ihnen auch nicht zu viel vor? Vous l'avez voulu! Übrigens bin ich gleich fertig, und wir können den Herrn Oberkellner erlösen, der schlaftrunken dort auf dem Stuhle hin und her schwankt. Denn mit drei Worten ist es gesagt, was ich anfing, nachdem ich als Zeitungsreferent abgewirthschaftet hatte: ich wurde literarischer Vehmrichter.
Sie sehen mich groß an. Aber es ist wirklich so: ich verpflanzte das uralte Amt, heimliche Gerechtigkeit zu üben, wo arge Sünder sich dem Arm des öffentlichen Gerichts entzogen, auf das Gebiet der Theaterkritik.
Ich lebte damals in Berlin, wo meine früheren Collegen von der Presse nicht besser und nicht schlechter sind als in anderen großen Städten. Nur durch die größere Menge können sie zuweilen mehr Unheil stiften und ein armes Opfer geradezu erdrücken. Wie singt Basilio?
Und der Arme muß verzagen,
Den Verleumdung hat geschlagen.
Schuldlos geht er und verachtet
Als ein Ehrenmann zugrund'.
Na, so schlimm kommt es selten. Dafür sorgt die Concurrenz, denn gegen so und so viel ungerechte Kritiken machen sich doch auch etliche gerechte geltend. Freilich, da, wie wir wissen, das Publikum einen unwiderstehlichen Hang hat, Hinrichtungen beizuwohnen, sind dergleichen Justizmorde sicher, ohne Appellation vor sich zu gehen, was doch auch nur ein schwacher Trost wäre, wenn der arme Sünder erst zu Ehren kommt, nachdem er ausgelitten hat. Die Hoffnung einer fröhlichen Urständ an anderen Bühnen ist ja gering. Berlin erfreut sich nun einmal der unheilvollen Vorherrschaft im Bereich des Theaters.
Da hielt ich's nun wieder für meine »Mission«, ein bischen Nemesis zu spielen, wenigstens den ungerechten Richtern, deren Sentenzen ich freilich nicht umstoßen konnte, ans Gewissen zu schlagen, falls sie ein solches noch besaßen.
Ich verfolgte die Kritik in sämmtlichen größeren Zeitungen. Wo ich auf die Besprechung eines neuen Stückes stieß, das ungerechter Weise, wie mir's vorkam, mit schnöden Witzen verrissen wurde, verfaßt' ich einen Vehmbrief an den Recensenten, in dem ich ihm sein Unrecht in ernstem, aber gemäßigtem Tone vorhielt. Ich wolle ihn nicht bewußter Verleugnung der Wahrheit zeihen, nur der Leichtfertigkeit. Denn eines so geringen Maßes von ästhetischem Verständniß, daß er wirklich nicht erkannt hätte, wie unzutreffend sein Urtheil gewesen, könne ich einen so geistvollen &c. Mann der Feder nicht fähig halten.
Nicht wahr, der alte Idealist tauchte auch in der Maske des wirklichen geheimen Vehmrichters wieder auf? Ich konnte ja wissen, daß ein Journalist, qui se respecte, anonyme Zuschriften unbesehens in den Papierkorb wirft. »Nicht einmal gelesen!« hätte ich mir mit Gräfin Orsina sagen sollen, und hatte ja selbst Briefe von namenlosen Schreibern stets mit äußerster Verachtung behandelt. Was hätte aber mein völlig unbekannter Name zum Erfolg meines Unternehmens beitragen können? Und ich enthielt mich ja auch aller Schmähungen und Verdächtigungen, mit denen anonyme Briefschreiber sonst um sich zu werfen pflegen. Meine Proteste waren rein sachlich gehalten. Aber freilich, was kommt es Leuten auf Sachlichkeit an, die nur persönlichen Motiven folgen, wenigstens von ihrer eigenen Person die Meinung haben, daß sie unfehlbar sei?!
Daß ich einen sonderlichen Erfolg von meiner geheimen Justiz, eine Besserung der Sünder wenigstens erreicht hätte, konnte ich nicht bemerken. Indessen war ich zufrieden, wenn der Gewissensbiß wenigstens im Stillen gesessen hatte, und für mich selbst war's ein Gewinn, mein Herz erleichtert zu haben, pour acquit de conscience.
Ein paar Jahre – ja, denken Sie! wirklich so lange! – trieb ich dies Handwerk, das nicht einmal einen goldenen Boden hatte, wie das der öffentlichen Ankläger und Vertheidiger. Was für causes célèbres sind mir nicht alles vorgekommen! Auch um ein paar Dramen von Ihnen habe ich mir auf diese Weise ein verschwiegenes Verdienst erworben. (Ich verbeugte mich.) Manchmal freilich, wenn's einer gar zu bunt machte, hatte ich große Mühe, meinen Grimm zu zügeln. Ich beneidete dann meine Collegen von der richtigen alten Vehme, die mit einem von ihr verurtheilten Schuft kurzen Prozeß machten und ihn einfach aufhängen oder ihm das Messer in die Brust stoßen ließen. Ich schrieb dann nur in etwas schärferer Tonart und spickte meine Diatribe mit etlichen blutigen Sarkasmen.
Daß durch das dicke Fell, das die Herren sich angegerbt hatten, keiner meiner eleganten Pfeile durchdringen würde, konnte ich mir allerdings sagen.
Da aber ereignete sich etwas, das der ganzen menschenfreundlichen Thätigkeit ein Ende machte.
Eine junge Schauspielerin, die auf einem Vorstadttheater ihre ersten Schritte that, war mir von ihrer Mutter, einer alten Freundin aus meiner eigenen Novizenzeit, empfohlen worden, ein liebes, sanftes Kind, eine rechte Unschuld vom Lande, doch mit allerlei Gaben von der Natur ausgestattet, die sie für naive Rollen ausnehmend befähigten. Dazu ein früher Theaterinstinkt, der die besten Hoffnungen erweckte.
Sie gefiel auch gleich bei ihrem ersten Auftreten, in der Presse wurde sie aufmunternd behandelt, ein Kritiker vollends, der sonst der unnachsichtigste war, floß von Lob und Entzücken über, so daß ich ihm vieles abbat, was er bei mir auf dem Kerbholz hatte, und sehr glücklich an die Mutter über ihr Töchterlein schrieb.
Das dauerte etwa eine Woche, dann verdunkelte sich die Sonne der Gunst – jener Recensent bedauerte, daß er sich zu einem so vortheilhaften Urtheil habe fortreißen lassen, und schlug in das volle Gegentheil um, indem er an dieser »neuen Hoffnung der deutschen Bühne« kein gutes Haar ließ und ihre anmuthigen Backfischmanieren als schnöde Mätzchen verhöhnte.
Das arme Kind suchte mich auf und klagte mir mit vielen Thränen sein Leid. Gedachter Herr habe sich ihr genähert und sie seiner ferneren Protection versichert, falls sie sich ein bischen liebenswürdig gegen ihn betrage, so daß sie Mühe gehabt habe, ihm ihren Abscheu nicht in voller Stärke zu zeigen. Da sei er wüthend von ihr gegangen.
Ich tröstete sie, so gut ich konnte, war aber innerlich so empört, daß ich diesmal alle Besonnenheit verlor. Am nämlichen Abend nach dem Theater, wo das Publikum zum ersten Mal meinen Schützling kalt empfangen hatte, traf ich im Café auf den Feind und warf ihm, da er sich an meinen Tisch setzen wollte, ohne mich zu kennen, seine ganze Niedertracht ins Gesicht. Er wollte mich erst als einen Menschen, der nicht ganz richtig im Kopfe sei, abschütteln, ich hielt ihm aber sein Betragen ganz unverblümt mit so klaren, scharfen Worten vor, daß alle Anwesenden meine Partei nahmen und ihm nichts übrig blieb, als mich einen Lügner und Verleumder zu nennen, der wohl guten Grund habe, sich zum Ritter dieser gekränkten Unschuld aufzuwerfen, und den er mit den Waffen in der Hand mores lehren werde.
Das Duell fand am zweiten Tage statt. Das Gottesurtheil fiel nicht ganz zu meinen Gunsten aus, indem ich eine Kugel in den rechten Arm erhielt, die meine Hand lähmte, so daß ich darauf verzichten mußte, noch ferner die Feder zu führen. Nun, wenn auch nicht eigenhändig, auch durch ein dictiertes Wort hätte ich hin und wieder mitreden können. Ich war's aber ein für allemal satt geworden. Ihm jedoch ging es noch schlimmer. Ich hatte die Genugthuung, daß ich ihm für alle Zeit das Spiel verdarb, indem ich durch eine wohlgezielte Kugel ihn außer Stand setzte, junge Künstlerinnen für seine Protection sich jemals wieder tributpflichtig zu machen.
*
Er lachte schadenfroh in sich hinein und sagte dann: Meine Laufbahn als Vehmrichter war damit zu Ende. Ich hatte sechs Wochen den Arm in der Binde zu tragen und konnte mit der linken Hand nur mühsam meinen Namen kritzeln. Nach Mehr verlangte mich hinfort auch nicht. Wie Don Quixote, da er von seiner hochherzigen Narrheit geheilt worden war, hatte ich eingesehen, daß die Windmühlen der Recensenten stärker sind, als meine und jedes anderen Mannes Stahlfeder. So möge denn das Verderben seinen Gang gehen. Hier, in meiner geliebten Vaterstadt, wohin ich mich zurückgezogen, bin ich gegen jeden Rückfall in die unglückliche Theaterpassion gefeit. In unserm Localblatt spielen die alten und neuesten Dramen, die Schicksale ihrer Verfasser und Darsteller keine Rolle, und in die anderen paar Zeitungen, die hier im Hôtel gehalten werden, blicke ich nie hinein. So lebe ich in meinem friedlichen otium sine indignatione und kritisiere höchstens einmal einen controversen Fall im Skat. Aber so ganz ist die alte Liebe nicht eingerostet. Die Tage sind lang. Man kann auch, so hübsch die Umgegend unseres weltfremden Nestes ist, nicht beständig spazieren gehen. Wissen Sie, Verehrtester, womit ich mir die Zeit vertreibe?
Ich versicherte, keine Ahnung zu haben.
Er: Ich lerne Griechisch, das heißt, ich lerne es wieder, nachdem ich es seit der Prima so ziemlich ausgeschwitzt habe. Aber zu welchem Zweck, das werden Sie sich nicht träumen lassen: um den Aristophanes im Original zu lesen.
Ich: Gerade den?
Er: Ja, nachdem ich auch den drei großen Tragikern wieder nachgegangen war. Aber so herrlich sie sind, an den »ungezogenen Liebling der Grazien« reicht mir keiner. Die Droysen'sche Übersetzung ist ja vortrefflich, ich konnte mich aber nicht damit begnügen, ich mußte ihn in seiner Muttersprache reden hören, und wirklich ist meine Bewunderung für ihn noch gewachsen. In ihm finde ich alles, was die verehrten Modernen sich einbilden erfunden zu haben: den glänzendsten Realismus, die ungebundenste sinnliche Frische, eine grenzenlose Actualität, und zu dem allen etwas, das den Heutigen völlig versagt ist: einen poetischen Zauber, einen Reiz der Form, die mit dem Schwersten nur zu spielen scheint, und die himmlischste Heiterkeit bei aller Bosheit, der selbst die Getroffenen und Verwundeten nicht gram sein konnten, wenn sie nur einen Funken Humor besaßen. Ja damals, da war's noch eine Lust ins Theater zu gehen, und was man genossen hatte, wurde einem nicht am anderen Morgen verbittert durch eine einfältige oder hämische Kritik. Denn in Athen gab es Gott sei Dank! noch keine Zeitungen, in denen ein vorwitziger Ephebe, wie der damalige jeune homme hieß, dem alten Dichter wohlweise vorhalten konnte, worin er gefehlt habe und wie er's hätte machen sollen.
Ich: Dafür besorgten die Collegen selbst untereinander die Kritik. Ihr Liebling Aristophanes hat bekanntlich dem Euripides fast noch übler mitgespielt, als es jetzt dem feindseligsten »Dilettanten, der sich resigniert«, erlaubt wäre. Und doch hat er ihm nichts anhaben können, da sich die Volksstimme für den so blutig verhöhnten Tragiker entschied. Darauf wird es denn wohl auch heutzutage ankommen, so daß man das ganze kritische Wesen und gelegentliche Unwesen nicht allzu tragisch nehmen sollte.
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(352 Seiten.
Erste Auflage: ebenfalls 1908.)