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(1905)
Vor fünfundzwanzig Jahren war ich einmal durch ein hartnäckiges neurasthenisches Leiden genöthigt, einen Winter in tiefster Stille und Zurückgezogenheit zuzubringen.
Der Arzt hatte mich nach Cannstatt geschickt zu einem Nervenspecialisten, der sein Heil an mir versuchen sollte. Es geschah mit wenig Erfolg, vielleicht auch darum, weil es mir in der kleinen Stadt, die im Winter so verödet war, wie irgend ein Badeort, an aller geselligen Zerstreuung fehlte, während mir jede geistige Arbeit streng untersagt war. Doch die Kunst, nichts zu denken, hatte ich nie geübt, und obwohl ich mich des Schreibens enthielt, trieb die Phantasie nach wie vor ihr Spiel, fieberhaft aufregend und unfruchtbar zugleich, da die Bilderflucht, die durch mein Hirn kreiste, sich nicht gestalten und ihren gesunden Weg nach außen suchen durfte.
Zu Anfang freilich hatte ich noch eine trauliche Gesellschaft.
In meinem großen, unheimlich leeren Hôtel, nach dessen schattigem Garten an Sommertagen die Stuttgarter zu jener Zeit fleißig hinausspazierten, während es im Winter nur zu Bällen und Hochzeiten benützt wurde, wohnte außer mir nur ein einziger Gast, den ich aber mit Freuden begrüßte: mein alter Freund Berthold Auerbach.
Er hatte sich bei einem Arzt, auf den er große Stücke hielt, in die Kur gegeben und war voller Hoffnung, da er nicht ahnte, daß es das letzte Jahr seines Lebens sein sollte. Doch lag, so sehr er sich bemühte, heiter und gescheit wie sonst zu erscheinen, eine gewisse Müdigkeit über ihm, die auf seinen lebhaften Geist drückte und ihn oft mitten im Gespräch mit einem Seufzer abbrechen ließ. Da ich ihn immer lieb gehabt und viele Zeichen herzlicher Gesinnung von ihm empfangen hatte, war der Ton dieses Beisammenseins kurz vor der letzten Trennung etwas gedämpft. Doch hatte ich noch gute Stunden mit ihm, wo wir als zwei vertraute, wenn auch im Alter ungleiche Kameraden von gemeinsamen Erinnerungen, von Menschen und Büchern plauderten, und wenn er sich angegriffen fühlte, spielten wir ein nicht sonderlich aufregendes Kartenspiel, Franzefuß oder Terteln genannt, wobei er sich kindlich freute, wenn er die Partie gewann.
Dann kam nach kurzer Zeit seine Tochter, ihn abzuholen und nach Cannes zu begleiten. Wir nahmen bewegt von einander Abschied. Ich wußte, daß ich den teuren Freund nicht wiedersehen würde.
*
Nun wieder auf mich allein angewiesen, mußte ich suchen, wenn ich mich müde gelesen hatte, auf eigene Hand mich zu zerstreuen und melancholische Grillen, die mir dann und wann zu schaffen machten, zu verscheuchen.
Dazu schien mir unter anderem das Volksfest geeignet, das auf dem sogenannten Cannstatter Wasen, einer großen Wiese, die der Neckar durchströmt, alljährlich im Herbste gefeiert wird.
Es ging aber dabei nicht sonderlich lustig zu, und an drolligen Humoren, die einen hineingeschneiten einsamen Fremden aus seinem Trübsinn hätten herausreißen können, fehlte es durchaus. Trotz des jungen Mostes, dem in den Trinkbuden reichlich zugesprochen wurde, wollte sich unter den Landleuten und den vielen Stuttgartern, die herausgekommen waren, keine ungebundene Stimmung verbreiten, die wohl auch dem schwerblütigen schwäbischen Temperament nicht gemäß sein mag, und ich sehnte mich ordentlich nach einem das Gewühl durchdringenden Juhschrei, wie er auf bayerischen Volksfesten ähnlicher Art hin und wieder wie eine klingende Rakete über die dichtgedrängten Köpfe ins Blaue zu schießen pflegt.
So schlenderte ich ziemlich mißtröstlich zwischen den Schau- und Verkaufsbuden herum, in denen ebenfalls nichts meine Neugier regte, und nur hin und wieder begegnete mir ein schwäbischer Characterkopf oder ein rosiges Mädchengesicht, die meinen Blick fesselten. Der Himmel war von grauem Duft übersponnen, träge floß der Neckar dahin, voll herbstlich gelber Blätter, und schon dachte ich daran, den verfehlten Versuch, mich zu »amüsieren«, aufzugeben und in mein stilles Zimmer zu meinen Büchern zurückzukehren, als ich zu einem Karussell gelangte, das am freien äußersten Ende des Festplatzes auf dem schmutziggelben zertretenen Grasboden errichtet war und eben einen neuen Rundlauf begonnen hatte.
Es war auf den ersten Blick nichts Besonderes daran zu sehen, ein plumper hölzerner Bau, mit einigen Fahnen decoriert. Unter seinem Dache aber regte sich eine Lustigkeit, wie sie auf der ganzen übrigen Wiese nicht zu entdecken war. Auch war der Leierkasten, der die Fahrt begleitete, ausnahmsweise nicht so verstimmt, wie die Trompeten und anderen Musikinstrumente, die das Publikum in die verschiedenen Schaubuden locken sollten, und seine Klänge schienen die buntgemischte Reisegesellschaft auf den herumwirbelnden hohen Sitzen in die fröhlichste Stimmung zu versetzen.
Ich blieb stehen und ergötzte mich an dem munteren Bilde, in dem besonders ein paar lachende und jauchzende Kinder bei jedem Vorüberfliegen mir wieder von neuem das Herz erfreuten.
Neben mir stand noch ein Anderer, der an dem Schauspiel Gefallen zu finden schien, ein hagerer Mann in einem schwarzen, fadenscheinigen Anzug, einen Cylinder etwas verwogen aufgesetzt, unter dem sich ein paar dünne schwarze Löckchen hervorstahlen. Das ganz glattrasierte Gesicht war sehr ausdrucksvoll, unter dichten buschigen Brauen glänzten kleine, scharfe Augen, den Mund unter der derben Nase umspielten beständig zuckende Fältchen, manchmal sarkastisch, dann wieder gutmüthig lächelnd.
Ich entsann mich, dieser auffallenden Figur schon einmal bei einem Spaziergang in der Stadt begegnet zu sein, wo wir uns Beide forschend anblickten. Er grüßte mich im Vorbeigehen mit einer leichten Geberde, und ich sah, daß er den einen Fuß nachschleppte. Wofür ich ihn halten sollte, wußte ich nicht und schwankte zwischen einem Schullehrer, einem Apotheker und einem Schauspieler. Er mochte ungefähr von meinem Alter sein.
Seitdem war ich ihm nicht wieder begegnet und hatte nun Gelegenheit, meine physiognomischen Studien fortzusetzen. Doch schien er es zu merken und dadurch beunruhigt zu werden, so daß ich mich wieder dem Karussell zuwendete. Auch das hörte endlich auf. Die Schnelligkeit des Umschwungs wurde mäßiger, der Mann, der die Kurbel drehte, ließ den Arm sinken, und zugleich hielt die Frau am Leierkasten inne, und die Drehbühne stand still.
Als ich mich eben zum Fortgehen anschickte, hörte ich meinen Nachbar sagen:
Finden Sie nicht auch, daß so ein Karussell eine merkwürdige Ähnlichkeit hat mit dem menschlichen Leben, wie es die Meisten führen? Die werden vom Schicksal herumgetrieben, daß ihnen Hören und Sehen vergeht, glauben aber, sie bewegten sich selbst, und wären sehr erstaunt, wenn man es ihnen ausreden, ihnen vorstellen wollte, daß sie sich nur im Kreise drehen, während sie glauben, vorwärts zu kommen. Dabei sind sie in ihrem Gott vergnügt und haben eine große Meinung von sich. Haben Sie den Buben gesehen, der auf dem hölzernen Löwen saß, und das kleine Mädel auf ihrem Schwan, dahinter den Flachskopf auf dem Drachen? Lauter junge vielversprechende Helden. Spaßhaft war auch der Ernst, mit dem der junge Soldat auf seinem hohen Gaul saß und, wenn er mit dem Rapier im Vorbeisausen durch den eisernen Ring gestochen hatte, ein Gesicht machte, wie wenn er die Schlacht von Sadowa gewonnen hätte. Und dann das Liebespaar, das in der Gondel saß, er den Arm um ihren Nacken gelegt, Beide in einem Meer von Seligkeit schwimmend, während der Schneider oder Schuster hinter ihnen vor Neid verging. Das Rührendste aber war das Mütterchen in dem großen Stuhl, das sein Enkelkind auf dem Schooß hatte und so andächtig vor sich hinblickte, als sollte es nun geradewegs in den Himmel hineinfliegen. Allen vergeht das klare Bewußtsein, wo und wer sie sind, bei dem schwindelnden Umschwung und der schrillen Musik, bis auf einmal – bums! da steht die Maschine still, und sie müssen aussteigen und haben von der ganzen Rundreise nichts gehabt als Ohrensausen und das Vorbeifliegen undeutlicher Bilder. Aber es ist doch eine ganz hübsche Einrichtung, das Karussell, das man Leben heißt, nur muß man sich nicht zu vornehm halten, mitzumachen und sich alle Gedanken, warum das so und nicht anders ist, vergehen lassen. Wir Anderen, die nicht herumsausen mögen und nur zuschauen, sind viel übler dran, wenn wir fragen, wozu der ganze Lärm, den man Weltgeschichte nennt, da der Mann, der die Kurbel dreht, und die Frau, die Musik dazu macht, sich nicht darauf einlassen, die Frage zu beantworten. Oder meinen Sie nicht auch?
Ich hatte ihm erstaunt zugehört, während wir uns langsam von dem Karussellplatz entfernten. Er brachte seine barocke dichterische Grübelei in einem ruhigen Tone vor, wie Jemand, dem dergleichen Nachdenklichkeiten etwas Gewohntes sind. Seine Stimme war schwach und etwas heiser und doch von einem zarten Wohllaut, daß ich ihn gern noch weiter phantasieren gehört hätte.
Ihr Gleichniß, lieber Herr, ist sehr sinnreich, sagte ich endlich. Doch trifft es in einem Hauptpunkt nicht zu. Das Publikum, das da oben herumkreiste, wurde in seinen Illusionen nicht gestört, bis die Maschine stillstand. Im wirklichen Leben aber geht's nicht so glatt und friedlich zu, da wird bald Der, bald Jener von einer rauhen Hand herausgerissen, der Knabe von seinem Löwenroß, der Liebhaber von der Seite seines Schätzchens, der rauhe Krieger kommt unter die Hufe seines Gauls, und das Mütterchen fällt hin und bricht ein Bein, so daß es auf Krücken ins Himmelreich eingehen muß. Da klingt dann die Leierkastenmusik, die unaufhörlich fortspielt, wie ein schadenfroher Hohn auf alles Menschenweh, da die Anderen ihre Rundfahrt wohlbehalten und gedankenlos fortsetzen.
Ja, sagte er, Sie haben Recht, der Vergleich hinkt, wie der, der ihn gemacht hat. Im allgemeinen aber ist ein solches Volksfest sehr dazu angethan, allerlei philosophische Grillen zu fangen. Jedenfalls wird man hier von dem Hochmuth kuriert, als sei man etwas Besseres als die sogenannten Nebenmenschen, weil man vielleicht ein bischen klüger ist. Macht es mich glücklicher, wenn ich die Nüsse, die mir das Welträthsel zwischen die Zähne schiebt, aufzuknacken suche und doch nicht damit zu stande komme? Mir thun nur die Kinnladen weh. Diese guten Leute aber, die hier bei Wein und Küchle sich's mit Weib und Kind wohlsein lassen und alles Übrige ihrem Pfarrer anheimstellen, die sind die wahren Weisen und geborenen Agnostiker, während Unsereins erst zu dieser Weisheit letztem Schluß gelangt, wenn er sich Kopf und Zähne an den Weltproblemen zerbrochen hat. Man könnte die guten Bauersleute beneiden, die begierig in die Buden treten, wo das Schaf mit zwei Köpfen oder die Frau mit dem Vollbart gezeigt wird. Ihre Verwunderung fängt erst beim Unnatürlichen an, da es ihnen nicht einfällt, sich Gedanken darüber zu machen, wie unbegreiflich auch alles Natürliche ist, zum Beispiel wie in einem einfachen Schafskopf so etwas wie Gefühl und Instinkt sich regen kann, ja, wie überhaupt etwas entstehen konnte, was man die Welt nennt, und worin sie ebenfalls einen Platz finden sollten. Aber verzeihen Sie, ich langweile Sie mit diesen Gemeinplätzen.
Durchaus nicht, versetzte ich. Was Sie sagen, sind ja auch Gemeinplätze nur in dem Sinne, daß diese Fragen seit Jahrtausenden alle denkenden Köpfe beschäftigt haben. Hat doch auch schon ein griechischer Weiser gesagt, die Philosophie fange mit dem Verwundern an. So wäre nichts wunderbarer, als wenn sich hier auf dem Cannstatter Wasen lauter Philosophen herumtrieben.
Jawohl, sagte er mit einem feinen Lächeln, wenn ich nicht irre, war's Aristoteles, der dieses tiefsinnige Wort gesprochen hat. Doch will mir scheinen, als habe er's ganz kaltblütig gethan, ohne daß ihn eine Gänsehaut überlaufen hätte, wie jedesmal meine Wenigkeit, wenn ich mich in das Urproblem vertiefe und die Urverwunderung in mir aufsteigt.
Ich sah ihn fragend an. Wir wandelten langsam von Cannstatt weg gegen Stuttgart hin, durch die langen, schattigen Alleen, die zwischen der Hauptstadt und dem kleinen Cannstatt eine parkartige Verbindung herstellen.
Ich meine, fuhr er fort, daß überhaupt etwas vorhanden ist, worüber man sich verwundern kann, und ein Ingenium, das dies Geschäft besorgt, das hat dem großen Denker weder warm noch kalt gemacht. Wenigstens hab' ich in seiner Kategorientafel keine Spur davon entdeckt. Die Wirklichkeit, das Was, nahm er als eine unanfechtbare Voraussetzung hin, während gerade das mich manchmal fast zur Verzweiflung bringt, wenn ich mir so recht deutlich vorstelle, wie es wäre, wenn eben nichts vorhanden wäre oder ein ganz anderes Etwas, und wie es kommt, daß in der ungeheuren göttlichen Komödie auch ich Wurm mitspielen muß, mich bei schlechtem Wetter krümme oder, wenn ein bischen Sonne scheint, meine Glieder behaglich ausstrecke, im Wahn, das sei nun ein Glück. Ja, verehrter Herr, das ist um verrückt zu werden. Da sehnt man sich nach dem Karussell und dem Leierkasten, die einen in einen besinnungslosen Taumel wiegen und aller bodenlosen Grübelei entrücken.
Ein Seufzer hob seine Brust. Er blieb stehen und sagte aufathmend: Entschuldigen Sie, daß ich einen Augenblick rasten muß. Das Sprechen, während ich gehe, greift mich an. Was werden Sie von mir denken, daß ich, ein Ihnen ganz Unbekannter, Ihnen so viel von mir vorschwatze? Und vielleicht können Sie mir nicht einmal nachfühlen. Wer Familie hat und sonst eine Thätigkeit, die ihn erfreut und ganz in Anspruch nimmt, der kann es schwerlich verstehen, wie Jemand zu Muthe ist, der sich ganz einsam und zwecklos dem Universum gegenüber fühlt. Wenn ich manchmal in der Nacht aufwache und das Grauen empfinde, daß ich überhaupt da bin, ohne gefragt worden zu sein, und so auch wieder hinausspediert werde, wie ein Schauspieler, den der Director entläßt ohne Kündigung – es ist furchtbar! Auf dem Karussell befindet sich doch Keiner, der sich von der Rundfahrt nicht ein Vergnügen versprochen und deshalb seinen Groschen gern bezahlt hat. Auch darin hinkt der Vergleich. Aber daß wir mitthun müssen, wir mögen wollen oder nicht, das ist eine brutale Vergewaltigung, die uns schon allein an einem väterlichen Schöpfer irre machen könnte.
Sie irren, sagte ich, wenn Sie glauben, ähnliche Stimmungen und Betrachtungen seien mir immer fern geblieben. Zwar – was den Lebensüberdruß betrifft, der Jeden von uns gelegentlich anwandelt, halte ich es mit Jenem, der erklärt hat:
Ich hinge wahrlich nicht so sehr
An diesem lumpigen Leben,
Wenn sonst nur irgend ein Mittel wär',
Um irgend was zu erleben.
Aber ich brauchte nicht erst als ein kranker Mann in die Cannstatter Einsiedelei geschickt zu werden, um die Gänsehaut kennen zu lernen, von der Sie sprachen, das räthselhafte Grauen vor dem Dasein überhaupt, dessen Sinn wir nie ergründen und über dessen Unheimlichkeit keine Gottes- und Weltweisheit uns beruhigen kann. Nur haben mich freilich Frau und Kinder davor bewahrt, dies Alles in solcher Schärfe zu empfinden, wie Sie. Warum haben Sie nicht dafür gesorgt, sich des gleichen Hausmittels bedienen zu können?
Dafür gesorgt! wiederholte er mit einem bitteren Ton. Als ob's meine Schuld gewesen wäre, daß ich den Anschluß versäumt habe! Freilich, wenn ich nicht Der gewesen wäre, der ich bin! Aber wer hat mich dazu gemacht? Warum hat mir die gütige Vorsehung nicht ein klein wenig Talent zum Heucheln mit auf den Weg gegeben? Ich säße jetzt im Schooß einer zahlreichen Familie auf irgend einer fetten Pfründe, und das Grauen vor dem Welträthsel träte vielleicht nie über meine Schwelle. Statt dessen treibe ich mich nun als ein hinkender armer Teufel so auf einsamen Nebenwegen in der Welt herum, und mein schwacher Magen hindert mich überdies, nach dem einzigen »Hausmittel« zu greifen, das Unsereinem erreichbar ist, dem alten Sorgenbrecher, der auf einen schlaflosen Kopf dieselbe wohlthätige Wirkung ausübt, wie die einlullende Kreisbewegung des Karussells. Sie haben mir's wohl schon angemerkt, verehrter Herr, ich bin ein verdorbener Theologe, im Stift erzogen, aus dem so viel schwäbische Kirchenlichter und unkirchliche Erleuchter der Welt hervorgegangen sind. Als ich eintrat, dachte ich, das Zeug zu haben zu einem großen Gottesgelahrten, mindestens aber zu einem trefflichen Diener am Wort. Es dauerte nicht lange, so erkannte ich, daß ich im Zorne Gottes die theologische Laufbahn erwählt hatte, und warf den Priesterrock, noch ehe ich ihn angezogen hatte, in die Nesseln.
Sie müßten die Zustände in den kleinen pfahlbürgerlichen Städtchen meines engeren Vaterländchens kennen, um eine Vorstellung davon zu haben, wie mein Entschluß, den Theologen an den Nagel zu hängen, auf meine Leute und die sämmtliche Freundschaft wirkte. Ich will Sie mit dem, was ich damals durchzumachen hatte, nicht behelligen. Genug, ich war auf einmal ein Ausgestoßener, von dem alle traulichen Bande des Blutes und der Liebe wie verbrannte Zwirnsfäden abfielen, und der keine andere Aussicht hatte, als in irgend einem möglichst versteckten Winkel, um seiner ehrbaren Familie keine Schande zu machen, wie der verlorene Sohn die Schweine zu hüten, oder allenfalls eine Heerde ungewaschener Schulbuben.
Ganz so schlimm erging es mir nun gottlob nicht. Und dazu half mir eine junge Schauspielerin, die ich in der ersten Zeit, wo ich vogelfrei in der Luft schwebte, bei ihrem Gastspiel in Stuttgart kennen lernte.
Ich werde Sie mit dieser übrigens für jeden Dritten sehr uninteressanten Liebesgeschichte nicht langweilen. Genug, hier that sich nicht nur für mein Herz, das durch die zerrissenen Bande schwer verletzt war, sondern auch für meine äußere Zukunft ein Weg zur Rettung auf.
Ich hatte von früh an Neigung zum Theater gehabt – Sie wissen: ein Komödiant könnt' einen Pfarrer lehren – und glaubte auch, bei kleinen Aufführungen, noch vor der Stiftszeit, Talent bewiesen zu haben. Darin bestärkte mich meine Freundin. Sie gab mir in den Zwischenakten unserer Verliebtheit ganz ernsthaften Unterricht, und als ich ihr dann nach der norddeutschen Stadt gefolgt war, an deren Bühne sie ein festes Engagement bekommen hatte, wurde es ihr nicht schwer, mir ebenfalls dort eine Anfängerstelle zu verschaffen, so daß ich, obwohl meine Leute die Hand vollständig von mir abgezogen hatten, mich mit der Zeit nothdürftig durchschlagen konnte.
Für jugendliche Helden- und Liebhaberrollen hatte mich Mutter Natur nicht gerade ausgestattet. Ich hatte das bald eingesehen und warf mich auf das Characterfach, wo ich mit der Zeit eine gewisse Routine gewann und glücklicher war, als wenn ich mit dem zehnfachen Gehalt auf der Kanzel hätte Komödie spielen müssen. Und so war der verlorne Sohn denn doch leidlich wohlaufgehoben und brauchte sich nicht von Träbern zu nähren.
Mein Schutzengel aber, der mir dazu verholfen, ließ mich im Stich. Obwohl er nicht mehr ganz engelrein war, als ich ihn kennen lernte, dachte ich doch in allem Ernste an Heirath, da sich's ja nicht darum handelte, eine Frau Pfarrerin mir beizulegen. Aber meine Hoffnung, diese reizende Person für immer an mich zu ketten, ging nicht in Erfüllung, ein glänzenderer Bewerber entführte sie mir – sie ist nach wenigen Jahren elend zu Grunde gegangen.
*
Wir hatten uns inzwischen der Stadt genähert, da blieb er wieder stehen, sein lahmer Fuß schien rasch zu ermüden.
Erlauben Sie, daß ich mich hier von Ihnen verabschiede, sagte er, indem er die Uhr zog. Es ist schon sechs. Ich muß hier einen Seitenweg einschlagen, da ich irgendwo erwartet werde und Eile habe, noch zur rechten Zeit zu kommen. Es war mir eine große Ehre und Freude+...
Ich möchte mich doch nicht von Ihnen trennen, versetzte ich, ohne Ihren Namen erfahren zu haben. Sie haben mir so viel Interessantes mitgetheilt und für Ihr Schicksal so viel Antheil in mir erweckt+...
O, verehrter Herr, mein Schicksal ist ein ganz alltägliches und mein Name völlig unbekannt, nicht nur der wirkliche, der im Kirchenbuch eingetragen steht, sondern auch der nom de guerre, unter dem ich an verschiedenen Bühnen aufgetreten bin. Sie werden ihn schwerlich je gehört haben, denn ich habe es verschmäht, was ich allenfalls auch gekonnt hätte, mich zum Virtuosen auszubilden und mit nichtswürdigen Mätzchen den süßen Pöbel zu blenden. Mein Ehrgeiz war, immer vor allem dem Dichter zu seinem Recht zu verhelfen, nicht eigene Künste zu suchen, sondern seiner Kunst zu dienen. Damit bringt man's heutzutage nicht weit, höchstens dazu, das zu werden, was man beim Theater »eine große Utilität« nennt. Doch auch das ist nun für mich vorbei. Als der Krieg gegen Frankreich ausbrach, war ich gerade ins Schwabenalter getreten und zum regelrechten Soldaten verdorben. Ich konnt's aber nicht über mich bringen, während sich's um das deutsche Reich handelte, zu Hause zu bleiben und, statt auf dem Welttheater, nur in einer Bretterwelt allerlei Schlachten mitzumachen. So ging ich als Krankenträger mit nach Frankreich und that, so viel ich konnte, meine Schuldigkeit, bis mir ein Granatsplitter in den Fuß fuhr.
Vier Wochen lag ich im Lazaret. Als ich endlich losgesprochen wurde, war ich für alle anderen Rollen, als die des Mephisto und allenfalls Richard den Dritten, unbrauchbar. Auch meine Stimme hatte ich in nassen Bivouacs ruiniert. Und Sie begreifen, selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, daß an keiner Bühne ein Schauspieler nur für diese beiden Rollen allein Engagement findet, er müßte denn gerade für diese einen Weltruf besitzen.
Wie ich's fertig gebracht habe, trotzdem nicht den Beruf eines landstreichenden lahmen Krüppels zu ergreifen und mich schlecht und recht durchzubetteln, ist gleichgültig. Verzeihen Sie, daß ich Sie so lange von meiner unbedeutenden Person unterhalten habe. Es giebt eben ein Wort das andere, und bei einem Menschen, der mit der Welt keinen legitimen Zusammenhang mehr hat und kaum zwanzig Worte am Tage zu sprechen pflegt, sprudelt dann alles heraus, wenn einmal die Schleuse gezogen ist. Ich wünsche Ihnen guten Erfolg für Ihre Kur und haben Sie Dank für diese angenehme Stunde!
Er zog den Hut, wartete nicht ab, daß ich ihm die Hand reichte, und hinkte mit großen Schritten auf einem Seitenwege davon.
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Dieser merkwürdige Charakterkopf und Alles, was ich aus seinem Munde vernommen hatte, ging mir auf dem ganzen Heimwege in meine Cannstatter Einsiedelei beständig nach und beschäftigte mich auch noch am nächsten Tage, so daß ich noch einmal um dieselbe Stunde mich nach dem Volksfest aufmachte, in der Hoffnung, ihn dort wiederzufinden und die interessante Bekanntschaft fortzusetzen.
Es war aber umsonst. Meinen suchenden Augen, die das Menschengewühl durchirrten, begegnete der schiefgesetzte Cylinder und die hinkende schwarze Figur nicht wieder, das Karussell drehte sich heute schläfriger als gestern, da die Frau an der Kurbel stand, und ich ärgerte mich, daß ich mich in die Bude des Schafs mit den zwei Köpfen hineinlocken ließ, da ich auf den ersten Blick den plumpen Betrug des seitwärts angenähten zweiten Kopfes auf dem ausgestopften Leibe erkannte.
Auch in den Straßen Cannstatts suchte ich den seltsamen Mann vergebens, und nach und nach verlor sich der Eindruck, den er mir gemacht hatte. Mein Zustand, der sich nicht bessern wollte, bedrückte mich, die langen, dunklen Abende wurden immer lastender, und ich lebte erst wieder auf, als nach Weihnachten meine Frau mein Exil theilte, die der Kinder wegen nicht früher hatte abkommen können.
Zu unsern bescheidenen Versuchen, in das dunkle winterliche Stilleben ein wenig Licht und Abwechslung zu bringen, gehörte auch hin und wieder eine Fahrt nach Stuttgart, um einer Theateraufführung beizuwohnen.
Es war nicht gerade eine Glanzperiode der Stuttgarter Hofbühne. Ob die Schuld hauptsächlich an der wenig energischen und verständnißlosen Leitung lag, zu der der Intendant Feodor Wehl wohl auch in jüngeren Jahren nicht der Mann gewesen wäre, kann ich nicht beurtheilen. Die Stuttgarter waren der Meinung, zum Theaterdirector gehöre mehr, als daß man ein paar kleine Lustspiele gemacht habe und sein Interesse für das Drama dadurch beweise, daß man den Shakespeareschen Narren und witzigen Personen gelegentlich ein paar Späße eigener Fabrik in den Mund lege. Daß der alte Herr, der, in ein dickes Plaid gewickelt, hüstelnd den Proben beizuwohnen pflegte, sich in das Geschäft seiner Regisseure kaum mit einem Wort einzumischen pflegte, sondern müde vor sich hinträumte, hatte ich selbst mitangesehen und dem guten Mann mein Mitleid nicht versagt.
Auch um Shakespeare that es mir leid, der bei solcher dramaturgischen Unzulänglichkeit nicht zu seinem Rechte kam.
Besonders auffallend war das an einem Abend, wo »Hamlet« in Scene ging. Dennoch hielten wir aus, da das wundersame Werk durch alle Mängel der Darstellung nicht ganz um seine Wirkung gebracht werden konnte, zumal auf Zuschauer, die so lange in künstlerischer Quarantäne gelebt und nun wieder den Quell ewiger Poesie rauschen hörten, wenn er auch zuweilen etwas trübe floß.
Das war nun im erhöhten Maße zu Anfang des fünften Acts in der Kirchhofsscene der Fall. Schon die äußere Anordnung des Schauplatzes schien uns, die wir an die malerischen Künste des Münchener Theaters gewöhnt waren, dürftig und stimmungslos. Als nun aber der erste Todtengräber mit einer heiseren Stimme, die zuweilen ins Falsett überschlug, seine barocken Sprüche vorzubringen begann, sahen wir uns verwundert um, daß einem solchen schwächlichen Gesellen diese kleine, aber bedeutungsvolle Rolle anvertraut werden konnte.
Doch schon nach den ersten fünf Minuten nahm ich den Vorwurf zurück. Der Alte in der Grube hatte eine Art, seine spitzfindigen Späße zwischen den Zähnen hinauszuschleudern, mit dem Behagen eines geborenen Humoristen, der aus seinem Mutterwitz einen Beruf macht, dabei mit so seltsamen Modulationen der Stimme, daß ich jedes Wort mit gespanntester Aufmerksamkeit verfolgte. Und diese Stimme, die trotz der Heiserkeit einen gewissen Wohlklang hatte – woran erinnerte sie mich? Wo hatte ich sie schon gehört?
Ich richtete das Glas scharf auf den Sprecher, der mit dem halben Leibe aus der Grube herausragte. Die Züge des Gesichts konnte ich bei dem nächtlichen Helldunkel auf der Bühne nicht gleich deutlich erkennen, doch sah ich, daß unter dichten grauen Brauen ein Paar kleine Augen funkelten, und nach und nach glaubte ich auch eine breite Nase zu erkennen und jetzt auch den sarkastischen Mund – ja, es blieb mir kein Zweifel, er war's, trotz des grauen Kopfes und Kinnbarts, mein guter Bekannter vom Karussell auf dem Cannstatter Volksfeste!
Sobald mir das klar geworden war, lauschte ich mir steigender Bewegung jedem Worte, das aus seinem Munde kam. Nun begriff ich, warum ich von dieser Todtengräberphilosophie, die mich sonst nur wie ein Feuerwerk humoristischer Laune ergötzt hatte, tief gerührt wurde. Es war die melancholische Abrechnung über den räthselhaften Lauf der Welt, die dieser grübelnde Geist am Rande des Grabes hielt; und was in seiner Stimme zitterte, war etwas von dem Grauen vor der Einsamkeit eines denkenden Menschen gegenüber der Unerforschlichkeit des Alls, das nur ein Humorist zu bezwingen vermag.
Als er eben mit seinem ungeübten, aber musikalischen Bariton das Liedchen anstimmte:
In jungen Tagen ich lieben thät,
Wie dünkte mir das so süß.
Die Zeit zu verbringen, ach früh und spät
Behagte mir nichts wie dies!
und zum Schluß die bittere Erkenntniß, die er aber als etwas Selbstverständliches vortrug:
Und o, eine Grube gar tief und hohl
Für solchen Gast muß sein! –
da überlief mich ein Schauder, der ja »der Menschheit bester Theil« ist, und ich versank in eine Traumstimmung, aus der mich auch der Verlauf der Scene, die nicht auf gleicher Höhe blieb, nicht herausreißen konnte.
*
Als ich ein paar Tage später zu Feodor Wehl kam, der uns zu einer kleinen Theegesellschaft geladen hatte, fragte ich ihn nach dem Schauspieler, der den Todtengräber gespielt, und erzählte, unter welchen Umständen ich schon früher seine Bekanntschaft gemacht hatte. Von seinen intimen Bekenntnissen zu reden, hielt ich nicht für angebracht, ja ich verschwieg sogar, daß er von der Theologie zur Bühne gekommen war.
Wehl wußte nur, daß er früher an verschiedenen angesehenen Stadttheatern beschäftigt gewesen war, bis die Verwundung im Kriege sein ferneres Auftreten unmöglich gemacht hatte. Nicht nur, daß er den Fuß nachschleifte, auch sein einst sehr wohlklingendes Organ habe in dem Winter vor Paris dermaßen gelitten, daß er nicht imstande war, selbst kürzere Episodenrollen durchzuführen. Da er aber sehr intelligent und von früher her gut angeschrieben war, sei die Direction darauf eingegangen, ihn als Statisten zu engagieren, und zwar als eine Art Statistenregisseur, da er vortrefflich verstanden habe, in die träge Masse Leben und Ausdruck zu bringen, wobei seine Lahmheit ihm nicht hinderlich sei. Einmal aber habe der Darsteller des Todtengräbers durch plötzliche Erkrankung sich gehindert gesehen, am Abend zu spielen. Da habe sich dieser – Wehl nannte mir den Namen, den ich vergessen habe – erboten, für ihn einzuspringen, und da er den ganzen Hamlet auswendig wußte, die Rolle nicht nur ohne Anstoß, sondern so virtuos durchgeführt, wie ich selbst es nun miterlebt hatte.
Außer dem Theater verkehre er mit Niemand und verschwinde sofort, wenn die Vorstellung vorüber sei. Er scheine in der Stadt Verwandte oder Bekannte zu haben, denen er es um jeden Preis verbergen wolle, daß er, vielleicht nach einem Leben, das zu ganz anderen Hoffnungen berechtigt habe, dazu gelangt sei, sein Dasein als ein namenloser Statist zu beschließen, dessen ganzer Ehrgeiz es noch sei, in einer »Grube gar tief und hohl« die Worte des größten Dichters sprechen zu dürfen.
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