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Elftes Kapitel.
Kost und Schlaf.

Innere und äußere Reinheit. – Frühere Pflanzenkost. – Gehaltreiche Ernährung. – Leichte und schwere Kost. – Kinderkost. – Aufgaben des Schlafes. – »Abbau« der Moleküle. – Guter und schlechter Schlaf. – Schlafunsitten. – Rückenlage. – Der Nachmittagschlaf. – Vegetarismus. – Annette Kellermann.


Manche Leserin wird bei dieser Überschrift vielleicht fragen: »Was in aller Welt sollte die Kost mit der Schönheit zu tun haben? Gibt es irgendein Kraut, welches häßliche Mädchen hübsch macht? Oder einen Speisezettel, durch den schöne Frauen immer noch schöner werden?«

Das wohl nicht. Aber es gibt Ernährungsweisen, die der Schönheit insofern abträglich sind, als sie die Reinheit untergraben, ohne die keine echte Schönheit entstehen kann. Und gerade diese Ernährungsweisen sind heute landesüblich.

Es wurde von mir schon erwähnt, daß durch einen keineswegs zufälligen Zusammenhang Reinheit der Haut und Reinheit des Innenlebens einander entsprechen. Denn das nämliche, was den Mädchen eine glatte, von auszuscheidenden Unluststoffen unbelästigte, unentzündete Oberhaut liefert: reizlose, leicht spaltbare Kost bei straffer Muskelbewegung an scharfer Außenluft, das verbürgt auch Wunschlosigkeit durch Fernbleiben ankränkelnder Phantasie. In der volkstümlichen, von Liedertafeln einst viel gesungenen Dichtung »Der Rose Pilgerfahrt« heißt es:

»Außen blank und innen rein
Muß des Mädchens Busen sein.«

Zu diesem schönen Ergebnis wirkt die Ernährungsweise ganz erheblich, um nicht zu sagen entscheidend, mit.

Wir, die wir immer tiefer in die Gewohnheit hineingeraten sind, auch die gesamte Kinderwelt mit gewürzter Gasthauskost zu füttern, und achtlos diesen Opfern unserer Feinschmeckerei das Blut schärfen, vermögen uns von der genügsamen Pflanzenkost unserer Ahnen nur schwer eine Vorstellung zu bilden. Jahrtausende mögen darüber hingegangen sein, daß die spärlichen Erträgnisse des Bodenbaues, zumeist Haferkorn, auf harter Unterlage mit einem Handstein zerquetscht wurden, um als Brei mit etwas Asche statt Salz hergerichtet und genossen zu werden. Die Jagd lieferte seltene Leckerbissen. Rinderherden aber wurden auch von den germanischen Wanderstämmen der Milch wegen mitgetrieben, nicht zum Schlachten, und was sie von den Römern verlangten, war nicht Fleisch, sondern Korn, oder Land, um Korn darauf zu bauen.

Da es niemals auf die Masse der Nahrung, sondern in erster Linie auf ihre Ausnutzung durch den Körper ankommt, so kann man sicher sein, daß jene leichte Kost von den frisch anpackenden Verdauungsäften der Naturkinder schlackenfrei bewältigt wurde.

Noch vor hundertfünfzig, vor hundert Jahren aber war die Nahrung nicht etwa nur der ärmeren Volksklassen, sondern auch der gebildeten Stände in Deutschland so mäßig und bescheiden, daß wir nur mit Beschämung davon hören. Wie rührend ist die Dankbarkeit Kestners, des Bräutigams der durch Goethe berühmt gewordenen Lotte, für einen Topf junger Zuckerschoten, die sie ihm aus Vaters Garten gesendet hat. Er läßt sie sich anrichten; sie bilden ein köstliches Mittagsmahl für ihn. Wo lebt heute der Herr Assessor, der sich für die Hauptmahlzeit mit einem Teller voll grüner Erbsen begnügen und sich nicht sehr bestimmt nach dem Kotelett oder mindestens der unerläßlichen kalten Beilage von gepökelter Zunge, geräuchertem Lachs oder Schinken erkundigen, der vor einer Schale dicker Milch zu Mittag nicht rufen würde: »Was! Weiter nichts? Davon soll man satt werden?«

Selbstverständlich hat es von jeher in Deutschland vereinzelt auch anstößige Völlerei gegeben. Doch in den Kreisen der kleinen Bauern und Kossäten, der Fischer an den Küsten, der Holzfäller und Köhler in den Wäldern, der Handwerker in den Dörfern, der Bergleute, der ländlichen und zumal der städtischen Lohnarbeiter ist gerade während des Jahrhunderts der schönen deutschen Mädchen (1750-1850) äußerst mäßig und schlicht gelebt worden. Stendhal nennt – für die napoleonische Zeit – als Nahrung der Deutschen: Schwarzbrot, Butter, Milch und Bier, auch Kaffee. Vielleicht war jene größere Mäßigkeit nicht immer ein von der Einsicht dem widerstrebenden Willen abgerungenes Opfer, sondern geboten durch den Mangel an Mitteln, sich reichlicher zu versorgen. Sicherlich hatte sie die Gewohnheit auf ihrer Seite. Die Menschen wußten, daß sie mit bescheidener Kost vorzüglich auskamen. Sie freuten sich wohl auf die großen Feiertage, wo ausnahmsweise Fleisch auf dem Tische stand, lechzten aber nicht nach ihm wie Beraubte und Verschmachtende.

Wir wollen uns also bei dem heute übermäßigen Fleischverbrauch seine zwei hauptsächlichsten Triebfedern nicht verhehlen, nämlich erstens, daß wir so viel Fleisch bezahlen können, und zweitens, daß Bratfleisch, Geräuchertes und Mariniertes ausgezeichnet schmecken. Sehr auf der Hut aber müssen wir bleiben, wenn die Wissenschaft kaltblütig feststellt: die allgemeine Richtung in der Ernährung gehe auf Geschmacksverbesserung und Verkleinerung der Menge. Das kann als Beobachtung richtig und gleichwohl als leitender Grundsatz völlig falsch sein, wie so vieles andre, was die chemische Überlieferung von einem Geschlecht in das nächste hineinschleppt. Wäre der Satz richtig, daß der angespannt Arbeitende auch der allerschärfsten Ernährung – will sagen mit viel Fleisch – bedarf, dann müßte ja der Zugochs, der eine der schwersten Arbeiten in Deutschland verrichtet, seinerseits von Roastbeef und Kaviar leben. Jedermann weiß, daß er das nicht tut, sondern sich den Eiweißspeicher, den sein riesiges Muskelsystem vorstellt, aus eiweißarmen Pflanzenstoffen angefüllt hat und auch den riesigen Umsatz seines täglichen Stoffwechsels aus den gleichen eiweißarmen Pflanzen bestreitet. Hier haben wir den schlagenden Beweis, daß der tierische Verdauungsapparat mehr vermag als die chemische Retorte, nämlich Eiweiß aus Kohlehydraten und Zellulose herzustellen, so daß nicht immer, wo Eiweiß fortging, durchaus nur Eiweiß zugeführt zu werden braucht. Die Erfahrung lehrt, daß der Mensch am Nordpol auskömmlich allein von rohen Fischen, in den Tropen auskömmlich allein von Früchten lebt, ja sommers ausgesetzte Kinder lernen Baumrinde nagen und werden von Zellulose satt, das heißt sie finden in ihr die Zufuhr, die sie zum Aufbau ihrer Organe brauchen.

Wenn jener Liebigsche Grundsatz nun wenigstens richtig betont würde, das heißt so, wie er gemeint war! Doch leider ist, was dem intensiv Arbeitenden erwünscht und mit gewissen Einschränkungen auch bekömmlich zu sein pflegt, erstens auf sämtliche Erwachsene und schließlich gar auf die Kinderwelt übertragen worden, die weder intensiv noch mäßig, sondern überhaupt nicht arbeitet. Bei ihr besteht nicht die Richtung auf Verkleinerung der Menge, im Gegenteil neigt sie dazu, wenn sie etwas bekommt, »mehr« zu verlangen, nicht weniger. Auch hat sie reichlich Zeit zum Kauen wie zum Verdauen, und es ist ein Unfug, sie so zu füttern, als ob auch bei ihr schon die Hetze der Zeitersparnis um jeden Preis eingetreten sei, die nur durch Fleischkost gelindert werden könne.

Welche Kost ist nun eigentlich leicht und für Schönheit bekömmlich, welche schwer und störend?

Erfahrungsgemäß stellen an die chemische wie mechanische Kraft des Magendarmkanals mit seinen ungegliederten Drüsen grobe Fleischbissen von zähem, schlecht durchgekautem Rindfleisch oder hartem Schweinepökelfleisch die höchsten Anforderungen. Es dauert lange, bis der Verdauungsaft das Eiweiß dieser zähen Fasern gespalten und ihm den Schwefel abgerungen hat. Menschen, die sich mit solcher Kost gütlich getan haben, verleben schlaflose Nächte und sind geplagt von Blähungen. Die Reste bleiben hart und schwer beweglich, hitzen den Mastdarm an, mit ihm die benachbarten Geschlechtsorgane, und alles, was Blut in diesen Teilen anstaut, die sich reizlos entwickeln sollten, ist für Kinder Gift.

Dem Rind- und Schweinefleisch am nächsten kommen Kalb- und Hammelfleisch, auch Hirschbraten; anderes Wildfleisch, wie besonders mürber Hasen- und Rehbraten, ist leichter verdaulich.

Sehr schwer verdaulich sind stark eiweißhaltige Pflanzen, wie die Hülsenfrüchte Bohnen, Erbsen und Linsen, die unter keinen Umständen in größeren Mengen genossen werden sollten, außer bei zum Ausgleich hinreichender Bewegung in frischer Luft.

Schwer sind alle warmen Fette; daher Gänsebraten ein schweres Gericht ist; ebenso fette Poularden und Enten. Weit leichter sind, bei nicht zu üppiger Tunke, Landhuhn, Rebhuhn und Fasan.

Leicht verdaulich ist ungekochte süße Milch, noch bekömmlicher dicke. Dagegen ist gekochte Kuhmilch, zumal wenn ungenügend verdünnt und ohne Zusatz von Milchzucker, wegen ihres zähen Käsestoffes ungemein schwer, so daß sich die damit gefütterten armen Kleinen oft nächtelang wimmernd mit angezogenen Beinchen in ihren Verdauungsqualen wälzen und schreien. Herangewachsenen Kindern ist gekochte Milch sehr häufig direkt zuwider. Wir sollten deshalb nicht vergessen, daß das Kochen der Milch ursprünglich eine rein wirtschaftliche Maßregel war, um sie länger süß zu halten, ihr schnelles »Umschlagen« im Sommer zu verhindern. Daß man die Milch wegen der Tuberkulosegefahr so hart wie möglich kochen müsse, ist ein längst widerlegter Irrtum.

Schwer ist somit alle Kost, die mechanisch den Darm belästigt, an den Chemismus der Verdauung zu hohe Forderungen stellt und zumal den großen Drüsen, denen die Eiweißzerspaltung obliegt, wie Leber und Niere, zuviel zumutet; leicht ist alle Kost, die jene Drüsen in Ruhe läßt, wie das Obst, oder doch wenigstens, gleich den eiweißärmeren Gemüsen, sie nicht sehr belästigt.

Natürlich kann man sich bei mangelnder Selbstbeherrschung auch mit Pflanzenkost überladen; dann wird mit solcher Völlerei »der Darm überangestrengt«, was die Entlastung der Leber und Niere nicht gerade wettmacht, doch eine häßliche Beigabe bildet. Aber notwendig ist eine solche Schattenseite nicht. Wer in vorgerückten Jahren noch Willenskraft genug besitzt, zu reiner Pflanzenkost überzugehen, und vor allem die Fähigkeit hat, von ihr satt zu werden, wird, wenn er mäßig ist, endlich die langentbehrte Wonne eines ungetrübten Schlafes genießen.

Alle zu schwere Kost hat den Nachteil, daß sie – zu schweigen von der höchst lästigen Abgabe des Schwefelwasserstoffgases – auch die Säfte mit Säuren und sonstigen Unluststoffen verunreinigt, die beim Hindurchgehen durch die Haut diese entzünden und sich in allerlei Ausschlägen ansiedeln.

siehe Bildunterschrift

Tafel XIII. Die Wäscherin. Nach der Plastik von Professor Barnow.

siehe Bildunterschrift

Tafel XIV. Griechische Rennerin. (Vatikan.)

siehe Bildunterschrift

Tafel XIV. Die Kugelwerferin. Friedrich O. Wolter, Berlin. Nach der Plastik van Walter Schott.

siehe Bildunterschrift

Tafel XIV. Fräulein M. Rieck, Hamburg, errang 1912 die Weltmeisterschaft im Lawn-Tennis auf Hartplätzen. Phot. Meurisse, Paris.

Alle leichte Kost hingegen bringt mit ihren angenehmeren Nächten den besonderen Vorteil, daß sie die Sexualsphäre beruhigt und vorzeitige Lüsternheit hintanhält. Frische und gestandene Milch, frisches oder gekochtes Obst, leichte Gemüse wie Mohrrüben und Kopfsalat, Kartoffeln in mäßigen Mengen, Brotstoffe verschiedener Art außer fettem Backwerk und als etwas ganz hervorragend Nahrhaftes, Gesundes: Haferflocken als Brei, mit süßer Milch und Zucker oder mit irgendeinem dünnen Fruchtsaft, aber kein Fleisch, kein Tee, kein Kaffee, kein Bier, kein Wein, kein Pfeffer und wenig Salz – das wäre eine »reizlose«, eine ideale Kinderkost.

So weit die Hygiene. Doch schon wieder tritt ihr das Alltagsleben entgegen, will sie nötigen, von ihren berechtigten Forderungen abzulassen. Man höre die Eltern: »Wie, sollen wir denn für das eine Töchterchen, das wir haben, besonders decken? Und besonders kochen auch noch? Das bequemste ist doch, die Kleine kommt zu uns an den Tisch. Natürlich will sie dann auch von unseren Gerichten mitessen. Was die Kinder sehen, wollen sie doch haben. Wie soll man ihnen das verweigern? Das wäre ja lieblos.«

Und so bekommt denn die Ärmste Bratfleisch vom zweiten Jahr an. Haben die Eltern Hummermayonnaise, so bekommt sie Hummermayonnaise; haben sie gepfeffertes Gulasch, so bekommt sie gepfeffertes Gulasch. Haben die Eltern Bier auf dem Tisch, so bekommt sie ihr Nößelchen Bier, weil es doch »kräftigt«. Wird sie danach reizbar und launisch, so hat sie einen bösen Charakter. Wird sie verstopft, so plagt man sie mit unmäßigen Einläufen, während zwei Eßlöffel Wasser für den Zweck genügen; oder sie muß Rhabarber schlucken. Bleibt sie dauernd hartleibig, so wird sie allenfalls geknetet, doch gemeinhin weder auf reizlose Kost gesetzt noch ausgiebiger bewegt, weil das nicht sittsam wäre. Beginnt sie mit acht Jahren zu masturbieren, so wird ihr das »verwiesen« oder »ernstlich vorgehalten«. Ist sie mit zehn Jahren schon halb ruiniert, dann wird sie »sexuell aufgeklärt«. Sie zeigt sich sehr erschüttert und reumütig, gelobt Besserung, bekommt zur Belohnung ein saftiges Würzfleisch, womöglich mit Wein, geht hin und treibt, was sie stets getrieben hatte.

Umgekehrt verlief die Jugend bei solchen Mädchen, die tatsächlich schön wurden. Kaffee und Tee waren grundsätzlich von ihnen ferngehalten worden, vollends alle geistigen Getränke. Ein Süppchen oder Haferbrei waren ihr erstes Frühstück gewesen und geblieben. War Fleisch auf den Tisch gekommen, so bot ein freies Herumtollen in Garten und Flur doch die Möglichkeit, es gehörig zu verarbeiten. Stets hatte es ein Stück Brot, ein Glas Milch, einen Apfel für den augenblicklichen Hunger gegeben; und wieviel besser bekam eine selbstgezupfte und -geschabte Mohrrübe, wieviel schöner mundeten die mit eigener Hand von Strauch und Baum gepflückten Früchte der guten Jahreszeit als alle Näschereien städtischer Konditorläden! Der Flaum der Unschuld hatte diese Wangen zu schmücken niemals aufgehört; und welch ein lieberes Engelsbild könnte man sich wohl denken als das Antlitz eines gesund ausgeschlafenen jungen Mädchens kurz vor dem frohen Erwachen?

Shakespeare hat einmal den Schlaf als

»Den zweiten Gang der gastlichen Natur,
Den Haupternährer bei dem Fest des Lebens«

gefeiert und, wie auch sonst bei seinen Vorahnungen moderner Physik und Physiologie, ins Schwarze getroffen. Denn aufs allerengste hängt der Schlaf von der Ernährung ab. Er vollendet sie. Doch wie er aus einer falschen Kost das Rechte nicht zu entnehmen vermag, so wird er selbst durch widersinnige Ernährungsweisen aufgehalten, unterbrochen, verhindert, sein Werk zu tun.

Schönheit und Schlaf gehören darum zusammen. Leider haben die Menschen bisher nur sehr unvollkommen die Ursachen gesunden Schlafes durchschaut. Die Wissenschaft ist nicht ohne Schuld hieran gewesen, solange sie für die Zeit des Schlafens von einem »herabgesetzten Stoffwechsel« sprach, als ob der Schlaf keine besonderen Aufgaben zu erfüllen hätte und es, um der Natur ihren Willen zu tun, nur eben darauf ankäme, eine Zeitlang nicht wach zu sein. Weshalb der Luxusmensch sich kurzerhand getröstete: »Kann ich nicht schlafen, so nehme ich ein Schlafmittel, und alles kommt in Ordnung.«

Das ist grundfalsch. Ja man kann sagen, daß der Chemismus des Körpers zu keiner Stunde des Tages lebhafter wirkt als während des nächtlichen Schlafes, desto lebhafter, je kräftiger bei Tage Muskeln, Lungen, Herz und Hirn herangenommen und ermüdet worden waren. Im wachen Zustande erfolgt nur die Nahrungs aufnahme, erfolgt in den arbeitenden Geweben der Zellenverbrauch. Die Nahrungsaufnahme gewährt also dem Körper nicht mehr als eine gewisse Beruhigung während oder nach der Berufstätigkeit; ihre Ausnutzung dagegen gehört den Nachtstunden an. Der Mensch gleicht hierin dem Windhunde, der ebenfalls, wenn man ihn sofort nach der Fütterung jagen, das heißt arbeiten läßt und unmittelbar nach der Jagd öffnet, den gesamten Speisebrei noch fast unangerührt vom Verdauungssaft in seinem Magen aufweist. Junggesellen, die in Restaurationen zu Mittag essen, in der Rechten den Löffel, in der Linken die Zeitung, und immer abwechselnd einen Schluck Suppe, dann einen Satz Leitartikel zu sich nehmen, berauben dadurch ihren Magen der Möglichkeit, die Verdauung auch nur einzuleiten, ebenso Schülerinnen, die sich noch bebend von Ehrgeiz oder Schulangst an den Tisch setzen. Erst wenn das Bewußtsein zu schlummern anfängt, tritt jene Entspannung ein, deren das unbewußt schaffende vegetative System bedarf. Jetzt beginnt der Darm seinen Inhalt ordentlich weiterzuschieben, geben die Darmdrüsen erst recht ihren Saft her, beschleunigt die vielgestaltige Fabrik der Leber ihr gewaltiges Werk. Der Körper nimmt gewissermaßen Inventur auf, prüft, was in seinem Zellenstaat verbraucht wurde, wieviel Ersatz fertiggestellt und in die Lücken geschoben werden muß. Es beginnt der wichtige »Abbau« der Moleküle; denn das Herausschaffen untauglichen, angebrauchten Materials aus den Zellen ist für den Lebensvorgang mindestens ebenso wichtig wie die Zufuhr neuen Stoffes. Jeder gesunde, kräftige Leib schlägt jeden Tag seinen ganzen flüchtigen (labilen) Zellstoff in die Schanze, schmilzt ihn ein und baut ihn schlafend wieder auf. Jetzt wirtschaftet auch der Sauerstoff, dieser große Zerstörer und Verbrenner, als Ofenkehrer, als Straßenfeger, als Lampenputzer in sämtlichen Ecken und Nischen der Zellverbände herum, fährt mit den ausgenutzten Resten als Wasser, als Kohlensäure, als Harnstoff in die Außenwelt und läßt, was er bearbeitet hatte, blitzblank und sauber für den Gebrauch zurück.

Diese Energie des Lebensvorgangs ist die wahre Kraft; Mädchen, die schön werden wollen, müssen ihr genau so nachtrachten wie Knaben, die stark zu werden wünschen. Und auch hier heißt es: Bewegung ist Leben; träge Ruhe ist Fäulnis oder Tod.

Daß körperliche Anstrengung an frischer Luft mit der Schlaffähigkeit etwas Erhebliches zu tun hat, kannte man zwar von Matrosen und Soldaten. Allein die »Bettschwere«, die der Mäher auf dem Lande, der Steinträger in der Stadt ganz von selbst erzielen, sucht der neuzeitliche Stubenmensch, der die Wichtigkeit muskulösen Stoffwechsels verkennt, sich allzu häufig durch Getränke zu verschaffen. Und wenn Alkohol versagt, wenn man trinkt und doch nicht schlafen kann, dann werden Schlafmittel gefordert, als ob der Schlaf ein Ding für sich sei, das man losgelöst vom Körper ins Auge fassen und behandeln könne. Unreine Haut, dicker Hals und Leib, Blutandrang nach dem Kopf, Schwindel, Herzschwäche und Kurzatmigkeit werden sich dem schlechten Schlaf bald gesellen, den kein Morphin, kein Chloral, kein Sulfonal oder Trional verbessern können. Nur die wenigsten dieser schlechten Schläfer pflegen den »Weißen Hirsch« bei Dresden oder ein ähnliches Sanatorium aufzusuchen und nach dem Verlust ihrer Gesundheit zu reizloser Kost ihre Zuflucht zu nehmen.

Alle Naturvölker schlafen besser als wir, weil erstens Fleischkost unter ihnen eine Seltenheit und zweitens die nötige Entspannung des Gehirnes weit leichter zu haben ist.

*

Manches wäre noch zu sagen von gewissen weiteren Schlafunsitten. Da wir ein Drittel unsers Lebens im Bett zubringen, ist es für Menschen, die vielleicht schon von Berufs wegen tagüber hinreichend anderer Leute Ausatmungen in ihre Lungen eingesogen hatten, doppelt unzuträglich, wenn sie sich nachts zum Aufenthalt mit Weib und Kindern, auch ohne Not, einen fensterlosen Alkoven wählen. Noch im späten Mittelalter entledigten die Deutschen sich sämtlicher Kleidung, bevor sie die Bettlade bestiegen; heute hüllen sich, obgleich doch die einzelnen Bettstücke schon mit engmaschiger Leinwand bezogen wurden, auch die Schläfer noch in ebensolche Nachthemden. Tagüber werden dann die Bettstellen mit dicken, nur fürs Auge hergerichteten Prunkdecken beschwert, so daß sie ungelüftet den Insassen abends wieder mit dem Brodem seiner abgestandenen Eigengase empfangen.

Gerade je reichlicher die Fleischnahrung gewesen war, desto mehr von allerbester Atemluft müßte nachts vorhanden sein, zumal für die Jugend, die sich ihr Fasergerüst erst aufbauen und festigen will. Der Durchschnittsbürger, der viel Fleisch ißt und noch dazu viel blähendes Bier trinkt, sich nachts mit seiner Familie irgendwie zusammenpfercht, doch den luftigsten Raum der Wohnung als »gute Stube« absperrt und unbenutzt läßt, er liefert das Beispiel, wie man nicht schlafen sollte.

Das deutsche Himmelbett war früher berühmt, heute ist es nur noch berüchtigt. Hatte man es bestiegen, so versank man zunächst in einen Abgrund von Federpfühlen, während ein Deckbett von der Schwere eines Dreischeffelsackes auf den Unterleib drückte. Den Kopf in weichen Kissen vergraben, von der Außenluft womöglich unter Zuhilfenahme zugezogener Gardinen so gut wie ganz abgeschlossen, empfand man wohl eine nicht geringe Annehmlichkeit in kalten Wintern auf dem Lande, wo trotz allem Heizen in der Schlafstube morgens das Wasser im Waschbecken zugefroren war. In den wärmeren Städten hat die Nachahmung dieser verweichlichenden Sitte der Volksgesundheit großen Abbruch getan, und für den Knochenbau zarter Mädchen ist ein solches Bett als der wahre Verderb erkannt worden.

In Rückenlage hat Bettwärme für Knaben wie Mädchen, die zum Nachtmahl Fleisch und Eier bekommen hatten, eine äußerst ungesunde Wirkung auf die Phantasie, die sich vorzeitig in wollüstigen Träumen betätigt. Warm sollen vor allem die Füße gehalten werden, weil ihre ungenügende Blutversorgung, wie sie bei kalten Füßen eintritt, sofort die wichtigen Ausdünstungen der Fußhaut unterbricht und den ganzen Körper in Mitleidenschaft zieht. Am bekömmlichsten ist ein kurzes Deckbett, das über einer leichten, bezogenen Wolldecke nur bis zu den Knien reicht, und die rechte Seitenlage mit angezogenen Beinen, auf glatten Matratzen und Keilkissen.

Vom Nachmittagschlaf genügt es zu sagen, daß er der Schönheit entgegen, der Gedunsenheit verwandt ist. Kindern, deren Verdauungsbedürfnis ein reichliches Ausschlafen erfordert, sollte doch das Hinlegen am Nachmittag so bald wie möglich abgewöhnt werden, weil es dem Nachtschlaf das Beste und Wichtigste: eine aufgespeicherte Müdigkeit, wegnimmt. Unter keinen Umständen ist es gleichgültig, wann man schläft, vielmehr scheint mit der Entfernung des Sonnenlichtes die Ausspannung des Bewußtseins, mit ihr die Tätigkeit des für die Verdauung in Frage kommenden vegetativen Nervensystems zuzunehmen.

Kurz vor Mitternacht ist der Schlaf deshalb am erquicklichsten, weil in diesen Stunden die Gewebsreinigung, der Abbau und Wiederaufbau der Zellen am lebhaftesten vor sich geht. Zwar legen sich die Wiederkäuer nach jeder Fütterung zur Ruhe. Doch könnte man den Deutschen weit eher umgekehrt fragen, weshalb er seine (warme) Hauptmahlzeit mitten in der Tagesarbeit einnimmt?

Die Arbeit kurz nach Tisch pflegt ungern geleistet zu werden und nicht viel wert zu sein; in betreff des Nachmittagschlafes wiederum sind die Ärzte darin einig, daß hauptsächlich er die gefürchtete Arterienverkalkung vorbereiten hilft. Wer ihn zu lange dehnt, benommenen Kopfes, taumelig, träge, mit schlechtem Gedächtnis von ihm erwacht und eine ganze Weile braucht, um zu sich zu kommen, wird eines frühen Tages in die Grube fahren.

Mancher mag nun vielleicht aus diesem Kapitel herauslesen, daß hier ein sogenannter Vegetarier zu Wort gekommen sei. Das können leider viele nicht mehr werden, weil sie falsch erzogen wurden. Ihre Versuche, sich auf reizlose Kost zu setzen, scheitern daran, daß sie nur die Wahl haben: sich entweder an Fleisch satt zu essen, schlecht zu schlafen und krank zu werden oder sich an Pflanzen satt zu essen und schlecht arbeiten zu können. Doch sollte ohne Ansehung der Zufälligkeit, ob ein älterer Mensch Vegetarier ist oder nicht, der Pflanzenkost unbedingt alle Jugend anhangen, sofern sie rein, schön und lebhaft werden, glatt verdauen und gut schlafen will. Auch der angestrengteste Kopfarbeiter würde ohne Fleisch auskommen, falls er von Jugend auf anders gewöhnt worden wäre.

Milch und Kartoffeln, dazu wöchentlich ein- oder zweimal ein Hering, das war eine ganz ausgezeichnete Kost, bei der unsere Landbevölkerung im Osten noch vor fünfzig Jahren einen Grad von Schönheit und Robustheit erlangte, mit dem sich unsere Fabrikarbeiter gar nicht mehr messen können.

Wenn also Mütter, die von den Vorzügen »gehaltreicher Ernährung« gehört hatten, in der Meinung, etwas Gutes zu tun, ihren vier- oder fünfjährigen Mädchen schon so viel Fleisch und Eier geben, als irgend in sie hineingeht, werden sie nicht feste Charaktere damit heranziehen, sondern ihre Töchter früh auf Abwege führen. Der Stoffwechsel solcher fleischüberfütterten Jugend ist nicht schlackenfrei, sondern hinterläßt durch mangelnde Ausnutzung und Verarbeitung des zugeführten, viel zu üppigen Stoffes gärfähige Reste, die auch Schweiß und Hautausdünstung noch versäuern und lästiges Blut nach dem Schoß hinziehen. Wie aber gegen einen Juckreiz ankämpfen, der den kindlichen Leibern beharrlich aufgedrängt wird?

Kurz, die heute für die Kinderwelt herrschenden Ernährungsitten, ein Ergebnis aus falscher Belehrung, doch vor allem aus Bequemlichkeit und Zeitersparnis für die Eltern, ohne die Bedürfnisse des jungen, wachsenden Leibes befragt zu haben, sind abscheulich und schönheitswidrig.

Eine der schönstgewachsenen Frauen der Welt, die Meisterschwimmerin Annette Kellermann, lebt nur von Pflanzen und Milch. Eine noch schönere, die Kaiserin Elisabeth von Österreich (Tafel VIII), aß ebenso mäßig und trieb mit Wonne bis in ihre letzten Tage Gymnastik. Besucherinnen haben sie oft in ihrem Gemach am Querholz schwebend angetroffen.


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