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17

Langsam brach sich in Berlin die Erkenntnis Bahn, daß die Zollpolitik handeltreibender Seestaaten nicht als Ausmaß dienen könne für das Wirtschaftsleben Deutschlands, das in seiner immer reicher aufblühenden Industrie die Unterstützung des Staates fordern durfte und mußte. Der Kurs wurde umgelegt. Ein neues Zollgesetz glich die Bevorzugung des Auslandes aus. Die deutschen Eisen- und Stahlwerke vermochten wieder mit greifbaren Gewinnen zu arbeiten und die verlorengegangenen Märkte zurückzuerobern. Und Friedrich Stoltenkamp begann nach den Jahren stärkster Einschränkung, die ihm die Tilgung eines größeren Teils seiner Anleihe ermöglicht hatte, wieder den Blick über den Tag hinaus auf die Forderungen der Zukunft zu richten.

Es gab wieder helle Augen auf dem Werk. Der kaufmännische Leiter hatte mit Einwilligung des Werksherrn von der Wurzel an eine Neuregelung des gesamten Geldwesens vorgenommen. Was nicht zur Tilgung der Anleihe herausgezogen wurde, wurde zur Rücklage bestimmt. Für jede Ausgabe mußte die Deckung vorhanden sein. Es gab kein Verfügen mehr lediglich auf das Wohlmeinen der Banken hin. Die bislang zu geringschätzig behandelten Geldgrundlagen des Werkes wurden wie eiserne Träger untergezogen. Jetzt erst konnte weitergebaut und das Dach aufgesetzt werden.

Von dem schwersten Druck seines Lebens befreit, wandte sich Fritz Stoltenkamp wieder dem Leitgedanken seiner Arbeit, der Wehrbarmachung von Heer und Flotte zu. Oberst Moldenhauer war der einzige gewesen, der unberührt von den Ereignissen in seinem Geheimbau gesessen und die schwerwiegende vaterländische Bewaffnungsfrage weiterentwickelt hatte.

»Moldenhauer,« sagte Fritz Stoltenkamp, »viele Jahre bleiben uns nicht mehr. Wir sind alte Knaben geworden.«

»Der Krieg hält jung,« erwiderte der Oberst. »Andere mögen sagen: ich bin so alt, wie ich mich fühle. Ich sage, wie ich mich anfühle. Na, und nun fühl mich mal an!«

»Mit dir ist gut arbeiten, Moldenhauer. Was hältst du von meinen Nickelstahlproben?«

»Sie bewähren sich, Stoltenkamp. Sie werden den Stahl der Zukunft bilden für alles, was mit dem Geschützwesen nur irgendwie zusammenhängt. Zu Wasser und zu Lande. Vom gezogenen Mantelrohr bis zur Schiffsbekleidung. Gegenüber der unheimlichen Sprengwirkung der neuen Geschosse bildet der Nickelstahl den Stahl der Stahle.«

»Können wir mit den Schießversuchen beginnen?«

»Unser Schießplatz ist dafür nur ein Kinderspielplatz. Ohne einen Schießplatz wie den der Heeresverwaltung geht es nicht.«

»Wir können uns von der Heeresverwaltung nicht hineinreden lassen, Moldenhauer. Zwei, drei Menschen können zur Not einen klaren Gedanken klar verwirklichen, zwanzig, dreißig machen ein Ungetüm daraus. Wir werden uns den großen Schießplatz selber einrichten.«

»Hast du Geld, Fritz?« fragte der Oberst und zwinkerte mit den Augen. Fritz Stoltenkamp stutzte. Eine ärgerliche Röte lief über seine Stirn, und die Schläfenadern begannen zu tanzen. Dann steifte er sich mit Macht gegen die jäh aufsteigende Empfindsamkeit.

»Ich werde mit der Kasse Rücksprache nehmen. Ich hoffe, daß die Herren keine Bedenken haben.«

Der Bestand der Kasse erwies sich als ausreichend. Der meilengroße Schießplatz in der Heide konnte erworben werden. Und Fritz Stoltenkamp schritt ohne weiteres und ohne sich um das Aufsehen zu kümmern, daß ein nicht staatliches Werk seinen eigenen und regelrechten Schießplatz neben denen der Heeresverwaltung zu unterhalten sich unterfing, an die Versuche im großen. Alle Nerven spannten sich noch einmal in ihm. Als sei er ein Jüngling, der noch die ganze Welt zu erobern trachtete und nach der Zeit nicht zu fragen brauchte.

Seine ganze Kraft setzte er ein. Und sie war stark geblieben wie die der Jugend, und das Alter hatte ihm die weise Beschränkung geschenkt, sie nur auf einem einzigen Punkt einzusetzen.

»Ich habe ja meine Mitarbeiter, die das übrige so gut erledigen wie ich. Man kann nicht zwei Hasen auf einmal jagen, und es ist besser, irgendwo am rechten Platz zu sein, als überall und nirgends.«

Die Betriebe waren so ausgedehnt geworden und so mannigfaltig, daß ein einzelner sie nicht mehr zu überblicken und zu lenken vermochte. Die Erkenntnis war für einen Mann wie Stoltenkamp eine erschütternde. Er hatte den Grund gelegt, er hatte aufgebaut und sein Leben hineingebaut, und am Abend seines Lebens standen die Hallen und Räume so gewaltig und ragend, so weit und fernhin, daß er sich in dem alles verschlingenden Getriebe wie ein Mensch in der Einsamkeit verlor. Er rang gegen die Erkenntnis an mit dem Trotz und der Bitterkeit des Mannes, aus dessen zwei Händen dies Gewaltige hervorgegangen war. Aber der Hauch des Schöpfers war zum Eigenleben geworden. Der entfesselte Atem des Werkes war stärker als der Odem eines Menschen. Auch Fritz Stoltenkamp mußte die Grenzen seiner Menschenkraft erkennen. Ungläubig erst und wie erstarrend nahm er die ersten Eindrücke auf. Wie ein König der Freiheit, dem man die Selbstregierung nehmen will. Und durch die Erschütterungen seines Herrenstolzes arbeitete er sich in ruhlosen Tagen und schlaflosen Nächten zur Selbsterkenntnis hindurch. In diesen Stunden, die den stolzen und starken Eroberer zur Einsamkeit der Großen führten, setzte Fritz Stoltenkamp sich und seinem Werke die Krone auf.

Seine Zurückhaltung nahm zu. Aber sein Auge bekam die Schärfe des Adlerblicks, der aus der Höhe lugt. Er beobachtete aus der Entfernung. Er prüfte und überprüfte. Und wo er eine starke Begabung entdeckte, einerlei, wo er sie fand, da griff er zu, hob den Mann aus der Masse heraus und stellte ihn auf einen Führerplatz. Nur die Führer blieben ihm verantwortlich. Die Verantwortung für seinen Betrieb hatte der Führer allein zu tragen. Die freigemachten Schwingen der Starken und Begabten aber dehnten sich, die Luft des Vertrauens spannte die Flügel, und die Kräfte zum Hochflug wuchsen mit der Höhe der Aufgaben. Da strömten die Jungbrunnen, da brauste ein neuer Frühling durch das unübersehbar dahingelagerte Werk und riß es mit in die neue Jugend hinein. Und da ein jeder Teil unter seinem Führer zur vollen Entwicklung seiner Möglichkeiten schritt, hob sich das Ganze auf den Gipfel seiner Bedeutung.

Der aber, der mit altgewordenen Händen dem verjüngenden Frühling die Pforten aufgetan hatte, stand seltsam ergriffen in der beginnenden Einsamkeit. Ein einziges galt es noch zu vollbringen, bevor er sich aus dem alten Kampfplatz heraus zu den Zuschauern gesellte. Den letzten Tiegelstahlguß. Die Schlußerziehung seines Sohnes.

Friedrich Franz war längst von der Hochschule zurückgekehrt. Er hatte den heiß befruchtenden Geist der technischen Wissenschaften kennen gelernt gegenüber der selbstsicheren Erfahrungslehre des Vaters. Und der Vater verscheuchte nicht seine jungerworbene Weisheit. Er hörte ihm aufmerksam zu, und wo ihm der fortschrittliche Gedanke in die klugen Augen sprang, verhielt er sich nicht aus Eigensinn des Alters ablehnend, sondern erkannte auch die ins Leben drängenden Fähigkeiten der neuen Zeit und Jugend an, und auf Betreiben des Sohnes entstand die erste chemische Versuchsstation der Stoltenkampschen Werke.

Friedrich Franz aber hatte auf der Hochschule noch andere Gebiete gefunden, die seinen Neigungen mit ausgebreiteten Armen entgegenkamen, den Neigungen seiner Knabenjahre. Die alten künstlerischen und philosophischen Bestrebungen wurden aufs neue geweckt und hatten, fern von der Zucht des Vaters, überreiche Nahrung gefunden. Stärker an Wissen, aber weicher und nachgebender als Mensch war Friedrich Franz heimgekehrt.

Hier griff die harte Faust des Siebzigjährigen unerbittlich ein. Was der Alte als Unkraut ansah, mußte heraus aus der Brust des Jungen. Neben ihm mußte Friedrich Franz schreiten und eine neue Lehrzeit durchmachen, schwerer als die erste und noch freudenärmer: die Erziehung zum Herrn und Gebieter.

»Nur wer das kleinste Ding zu beurteilen versteht, vermag über das Ganze zu urteilen,« sagte Fritz Stoltenkamp wieder und wieder. »Du brauchst nicht den Hammer zu schwingen, aber du mußt wissen, wie er geschwungen wird, und der Arbeiter muß wissen, daß du es weißt. Darin allein besteht das Herrentum des Werksherrn, die Überlegenheit der Führer und die Berechtigung zur Führerschaft. Lern es.«

Friedlich Franz lernte. Er lernte, bis er zu müde wurde, den eigenen Neigungen nachzugehen, und es vorzog, die fertigen Gedanken des Vaters zu übernehmen. Fritz Stoltenkamp erzog sich sein zweites Ich. Er wollte wissen, in wessen Händen an dem Tage, an dem er nicht mehr sein würde, der Oberbefehl läge. Und die eigenen Hände schienen ihm das beste Muster.

Wohl saß Friedrich Franz wie zu seiner ersten Lehrzeit oft noch bei der Mutter und horchte auf ihr Spiel. Aber Franziska lauschte vergebens auf einen neuen Ausbruch seines Gefühls. Der Geist der Stoltenkampschen Werke hatte den nun sechsundzwanzigjährigen Erben schon mit dem Bann belegt. Friedrich Franz hatte endgültig die Waffen gestreckt.

Bei einem Begebnis seines Lebens aber trat sein innerstes Wesen frei und unbehindert in den Vordergrund, und es war das Hauptbegebnis seines Lebens. Er hatte auf einem Rittergut die frische und beherzte Tochter des Hauses kennen gelernt. Und gerade das Frische und Beherzte, das Furchtlose und Selbstsichere, alle die Eigenschaften, die ihm fehlten oder durch seinen Mangel an Widerstandskraft verkümmert worden waren, zogen ihn zu Elisabeth von Werner hin, bis sie ihm versprach, seine Frau zu werden.

Friedrich Franz trat ruhig vor seine Eltern und teilte ihnen seine Verlobung mit. Er sprach mit fester und froher Stimme, und seine Haltung war die eines Mannes, der sein Selbstbestimmungsrecht ausübt. Franziska blickte zu ihrem Gatten auf. Und Fritz Stoltenkamp stand in tiefem Schweigen und blickte auf den Sohn.

»Du teilst uns also eine vollendete Tatsache mit,« sagte er endlich. »Deine Auserwählte muß sehr mutig oder sehr klug sein.«

»Sie ist beides, Vater, und dabei von einer unwiderstehlichen Herzensfrische.«

»Ich kenne sie nicht,« meinte der Vater. »Jedenfalls ist nicht wegzuleugnen, daß sie deine Entschlußkraft gefestigt hat. Darum allein schon könnte sie mir vielleicht gefallen.«

»Sie wird dir gefallen, Vater, schon weil sie meine Braut ist.«

Franziska faßte des Gatten Hand. Er blickte sie an und lachte.

»Irgendwo kommt der Stoltenkamp immer mal heraus.« Und er zog den Sohn mit einer kurzen Bewegung fest an sich und überließ ihn der Mutter.

Auf Wunsch Fritz Stoltenkamps fand die Hochzeit in seinem weißen Haus auf der Waldhöhe statt. Er wollte auch an dem bedeutungsvollsten Tag des Sohnes und Erben den Blick über die Ruhr schweifen lassen können und seinen alten Schicksalsweg. Hier empfing er auch Elisabeth von Werner zum erstenmal.

»Du mußt mir nicht böse sein, mein Töchterchen,« sagte er und streckte ihr die Hände entgegen, »daß ich nicht nach alter Sitte mit dem Sohne zuerst zu euch aufs Gut gekommen bin. Aber alte Leute haben ihre Schrullen. Ich möchte, daß alles Bedeutungsvolle der Stoltenkamps von dieser mahnenden Stelle ausginge.« Und er erzählte ihr den Weg seiner Jugend.

Elisabeth von Werner hörte aufmerksam zu. Sie war nur von mittlerer Größe und erschien klein neben den hochaufgeschossenen Stoltenkamps. Aber in ihrem von Wind und Wetter gebräunten Gesicht standen zwei Augen, groß und von einem hellen Stahlblau, die das ganze Gesicht beherrschten und keine anderen Betrachtungen zuließen.

Fritz Stoltenkamps erster Eindruck war der entscheidende.

»Du bestehst sozusagen ganz aus Auge,« bemerkte er in bester Stimmung. »Augen wie der Alte Fritz.«

»Wie der junge Fritz, wollen wir mal sagen, Vater. Ich bin Gott sei Dank erst fünfundzwanzig.«

»Gut, gut, Kind. Der junge Fritz war auch nicht auf den Mund gefallen.«

»Und ist doch der große Friedrich geworden. Kein schlechtes Vorbild, Vater.«

»Nein, bei Gott nicht. Aber seinen Krückstock darf ich dir jetzt schon gar nicht wünschen. Sonst wirst du kratzig.«

»Ach, Vater, so eine kleine Frauenhand vermag zuweilen mehr als der geschwungene Krückstock eines Mannes.«

»Soll mich freuen,« sagte Fritz Stoltenkamp und lachte behaglich vor sich hin.

Die Hochzeit wurde festlich begangen, und das junge Paar bezog einen neuerbauten Seitenflügel des großen, weißen Hauses unter den Baumriesen, die den Jahrhunderten trotzten. Fritz Stoltenkamp hatte den Sohn als seinen Stellvertreter mit in die Geschäftsleitung berufen. –

Sechs Jahre waren vergangen, seit Fritz Stoltenkamp den harten Weg zu den Berliner Großbanken hatte gehen müssen, als er die Herren der Geschäftsleitung zu sich berief. Er saß am Kopfende des Beratungstisches, und in seinen Augen flackerte eine mühsam niedergehaltene Flamme. »Das Wort hat die Kassenverwaltung.«

Der leitende Beamte erhob sich.

»Es sind nur wenige, aber um so inhaltreichere Worte, die ich mitzuteilen habe. Auch das letzte Geschäftsjahr hat die starke aufwärts gerichtete Bestrebung beibehalten, so daß der Geschäftsgewinn in noch erhöhtem Maße seine Vorgänger übertreffen konnte. Getreu unserem Grundsatz reichlicher Rücklagen, sind wir dennoch heute in der Lage, den gesamten Rest unserer Anleiheschuld zu tilgen. Herr Stoltenkamp, meine Herren Geschäftsführer: die Firma Friedrich Stoltenkamp arbeitet von Stund an nur noch mit eigenen Mitteln. Ich sage es mit einem Stolz, wie ich ihn noch nie in meinem Leben empfunden habe, mit einem Stolz, unter solch einem Herrn und Meister kämpfen und siegen zu dürfen. Herr Stoltenkamp, im Namen der gesamten Gußstahlfabrik und aller ihrer Zubehöre, im Namen aller Werksangehörigen und im Namen der hier versammelten Geschäftsleitung beglückwünsche ich Sie von ganzem Herzen zu dieser Krönung Ihres Arbeitslebens.«

Das Gesicht weiß wie das weißgebleichte Haar, der weißgebleichte Bart, hatte Fritz Stoltenkamp zugehört. Jetzt kehrte die Farbe zurück, und die niedergehaltene Flamme brach ihm aus den Augen. Und der Mann, der seinen Lebens- und Arbeitsweg nie mit billigen Bibelworten gepflastert hatte, sagte nur das eine Wort des greisen Simeon: »Herr, nun lassest du deinen Diener in Frieden fahren ...«

Und auch jetzt kam es nicht auf das Wort an; nur auf die Betonung. –

Wie ein weißköpfiger Adler saß Fritz Stoltenkamp auf seinem einsamen Horst. Er ging nicht mehr viel unter die Menschen, die Menschen mußten zu ihm kommen. Seit er sich mehr und mehr von der Leitung zurückzuziehen begann, um noch mit scharfen Sinnen feststellen zu können, wie das gewaltige Räderwerk ohne sein Zutun und ohne seine immer noch ungeschwächte Erfindergabe laufen würde, ließ er sich nur selten noch in der Fabrik sehen. In die Tausende neuer Gesichter wollte er sich nicht mehr hineinfinden. Er kam sich fremd geworden unter den Massen der Männer vor, die kaum von ihrer Arbeit aufblickten, um ihr Tagewerk zu schaffen. Er, der gewohnt gewesen war, den einzelnen seiner Leute und fast eines jeden Arbeitsleistung zu kennen. Das war so lange vorbei.

Und die Menschen kamen zu ihm, wie sie noch nie gekommen waren. Fürsten und Herren, Männer des Schwertes und Männer der Wissenschaft, sie kamen auf den Abendsitz des greisen Kämpfers, holten sich Rat oder ruhten an seinem gastfreien Tische aus. Frau Franziska sah ihn still lächelnd an. Sie spürte die Ruhe seines Alters nicht.

»Mutter,« sagte die junge Frau Elisabeth, »du hättest ihn dir anders erziehen müssen.«

Erschrocken blickte sich Frau Franziska im Zimmer um.

»Um Gottes willen. Was kommt dir bei, Kind? Erzieh du einen Stoltenkamp.«

»Das hoffe ich, da ich mich im Stande der Ehe befinde, eines Tages schon tun zu müssen,« lachte die Übermütige. »Aber auch mein Friedrich Franz muß Farbe bekennen. Sonst hätte er ja eine seiner Dampfmaschinen heiraten können.«

»Kind,« sagte Frau Franziska, »es kommt unter erwachsenen Menschen nicht auf die gegenseitige Erziehung, es kommt auf die gegenseitige Ergänzung an. In der Jugend verwechselt man das oft und oft zum eigenen Schaden.«

Eine Weile schwieg Elisabeth und schaute vom Fenster hinab über die schimmernde Ruhr hinaus.

»Ich meine, Mutter, das Leben darf nicht dabei zu kurz kommen. Wir Menschen brauchen gemischte Kost. Wir sind nicht alle Fritz Stoltenkamps, die nur von der schweren Arbeitsluft leben. Und das will berücksichtigt sein.«

»Du meinst Friedrich Franz ...?«

»Ja» Friedrich Franz. Deinen Sohn. Meinen Gatten. Findest du nicht, daß er bereits viel munterer in die Welt blickt?«

Franziska trat leise neben die Schwiegertochter und legte ihr den Arm um die Hüfte. Wange an Wange gelehnt, standen die beiden Frauen und blickten in den kleinen schimmernden Ausschnitt des schwarzen Landes.

»Jeder von uns tut für die Stoltenkamps, was er vermag, Elisabeth.«

»Jawohl, Mutter. Jeder tut, was er vermag. Ich werde reichlich zu tun bekommen, aber das macht mir Spaß.« –

Wie ein weißköpfiger Adler saß Fritz Stoltenkamp auf seinem einsamen Horst. Aber seinem Blick entging nichts, und das Alter schien sein Auge nur noch geschärft zu haben. Der Sohn hielt Vortrag, der Vater gab ihm seine Weisungen. Und aus der Ferne beobachtete Fritz Stoltenkamp, wie Friedrich Franz die Weisungen in die Wirklichkeit umzusetzen trachtete. Bis ins kleinste befolgte der Sohn jeden Wink. Sein eigenes Wissen reichte nicht aus, und er fühlte wohl, wie er sich nur an dem unsichtbaren Zügel des Vaters in dem großen Ansehen hielt, das seiner gütigen Art gern und allseitig entgegengebracht wurde. Und er fühlte mehr. Er fühlte und wußte, daß der Schatten des großen Vaters immerdar verdüsternd auf seinem Wege liegen würde, solange er auch lebte.

Und wie der Sohn, so verspürte es der Vater. Er hielt ihn dicht in seiner Nähe, wenn hohe und maßgebende Gäste erschienen, und suchte ihn unmerkbar in den Vordergrund zu schieben. Dann plauderten die Gäste aus Liebe zum Vater wohl ein längeres mit ihm, aber die starke Persönlichkeit des straffen Greises zog sie doch schnell wieder in den Bann, und um seines Rates und seiner Meinungsäußerungen willen waren sie hierhergekommen.

Es saß ein gekröntes Haupt mit seinem Gefolge zu Tisch, als die Rede auf Englands Einfluß kam. Fritz Stoltenkamp wußte, daß er sich unter Englandfreunden befand. England war die große Mode.

»Ist es nicht das einzige nachahmenswerte Volk der Welt, Herr Stoltenkamp?«

Fritz Stoltenkamp sah den Sprecher mit seinen hellen Altersaugen an.

»Es ist so nachahmenswert, daß ich mein ganzes Leben darangesetzt habe, es mit meinen Geschützen und Schiffs-Panzerungen zu schlagen. Bis heute nur auf dem noch friedlichen Feld des Wettbewerbs. Ich sage, noch friedlich. Denn gerade von diesem Felde wird der Kampf um Leben und Tod ausgehen zwischen England und Deutschland. England braucht Bewunderer, keine Mitbewerber. Dem deutschen Volke, das heute in Bewunderung vor englischem Wesen erstirbt, werden hoffentlich nicht zu spät die Augen aufgehen.«

»Und was wird das deutsche Volk sehen, wenn ihm die Augen aufgehen?«

»Ich möchte hier nicht in der Rolle des Propheten auftreten, meine Herren. Ich möchte es anders einkleiden. Das deutsche Volk besitzt eine tiefbeschämende Angewohnheit: es bückt sich immer noch vor dem Reichsten. Draußen wie zu Haus. Wer die höchsten Steuern zahlt, ist der Feinste. Nicht, wer seinem Volke die höchsten Steuern seines Geistes zahlt. Bricht sich hierin einmal die richtige Erkenntnis Bahn, so ist es nur ein Schritt, um herauszufinden, was uns an England geradezu geblendet hat. Es ist sein Reichtum, nicht sein Geist. Es ist der Reichtum, der über seine Habgier den Rock des vornehmen Weltmannes zieht. Der Reichtum, der alles, was ihm nahekommt, für sich arbeiten läßt, ohne eigene Schöpferkraft, ohne Gegenleistung an die Welt. Der Reichtum, der aus diesem Grunde keine Lebensberechtigung hat und deshalb immer gerüstet auf der Lauer liegt, um jeden unbequemen Mahner abzuwürgen. Es wird die Zeit kommen, in der uns Deutschen die Erinnerung an die große englische Mode die Schamröte ins Gesicht treiben wird. Das wird die Zeit sein, in der der Deutsche verlangen wird und verlangen muß: auch jemand zu sein.«

Ein langes Schweigen herrschte. Und Friedrich Stoltenkamp wandte sich ruhig an seinen Sohn und sagte: »Ich hoffe, daß du einmal deine eigene Werft besitzen und helfen wirst, Deutschland auch im Schiffsbau von England unabhängig zu machen. Mir reicht der Atem so lange nicht mehr.«

»Ja, Vater. Es wird ein Teil meiner Erbschaft sein.«

Da blickten die Gäste zum erstenmal prüfender auf den Sohn, der nicht nur berufen war, der Erbe, sondern auch der Testamentsvollstrecker zu sein, und sie zogen ihn mit frisch erwachter Anteilnahme in den Kreis.

Die Annahme des Adels hatte Fritz Stoltenkamp abgelehnt. »Das darf ich Vater und Mutter nicht antun,« meinte er lächelnd. »Wer weiß, wie bald ich sie wiedersehe. Wie sollen wir uns dann im Himmel gegenseitig anreden?« – –

Es war große Aufregung im weißen Hause unter den hundertjährigen Bäumen. Nur die, die es anging, blieb still und vergnügt. Elisabeth Stoltenkamp erwartete ihr erstes Kindchen.

Frau Franziska saß an ihrem Bette, um sie in ihrer schweren Stunde aufzurichten. Aber da war nichts aufzurichten und nichts zu stützen. »Deswegen habe ich doch geheiratet,« sagte die junge Frau. »Jeder Mensch denkt, da täte er etwas ganz Besonderes, und es ist doch überall so auf der Welt.«

Friedrich Franz wurde hinausgeschickt, und er saß beim Vater auf dem ausgebauten Söller, und die beiden Männer schauten ins Land. Ein mächtiges und unerklärliches Gefühl für den Sohn durchströmte in dieser Stunde Fritz Stoltenkamps Brust.

Dann wurde der junge Herr hinübergerufen zu den Frauen, und der alte Herr blieb allein und preßte heimlich die Hände zusammen und wartete, bis der Sohn zurückkam und sagte: »Es ist ein kleines Mädchen, Vater. Willst du jetzt hinübergehen und Elisabeth sehen?«

»Ein Mädchen?« fragte der alte Herr, als hätte er nicht richtig gehört. Aber er wartete keine Antwort ab und ging hinüber in die Wohnung der jungen Stoltenkamps. Franziska hatte die hellen Tränen in den Augen, als sie ihrem Gatten die Türe zum Wöchnerinnenzimmer öffnete und ihn mit Schwiegertochter und Enkelin allein ließ.

»Was ist es?« sagte Fritz Stoltenkamp und trat behutsam näher. »Ist es wirklich nur ein Mädchen?«

»Das ist doch besser als gar nichts, Vater.« Er wurde rot und beugte sich schnell über sie und streichelte ihr die Hände.

»Ich freue mich ja auch mit dir und beglückwünsche dich herzlich. Kann ich es sehen?«

»Gerade hat es die weise Frau zurechtgemacht. Da liegt's in der Wiege. Ist das nicht ein wonnig Geschöpf?«

Die hohe Gestalt des Alten beugte sich tief über das Wiegenbett. »Das ist es,« sagte er nach einer Weile. »Nun mußt du mir bald noch den Enkel schenken.«

Er kam zu ihr zurück und setzte sich still an ihr Bett. Sie beobachtete ihn mit lachenden Augen.

»Eine Enkelin, die glücklich auf der Welt ist, Vater, ist wohl immer noch einem nicht vorhandenen Enkel vorzuziehen. Sie wird die Stammutter eines neuen Geschlechtes. Sie bringt neues, frisches Blut in die Familie.«

»Hältst du das für nötig, Töchterchen?«

»Aber unbedingt, Vater. Du zum Beispiel warst länger mit deinem Werk verheiratet als mit deiner Frau. Darunter leiden die Kinder.«

»Dafür hat es doch wohl Friedrich Franz leichter im Leben gehabt.«

»Leichter? Ach, Vater. Ich glaube beinahe schwerer. Er ist nur in die bessere Zeit der Fabrik hineingeboren worden, und während er die große und reiche Zeit sah, wurde er im Geiste der alten erzogen. Das waren Tantalusqualen.«

»In meinem Geiste,« sagte der Alte. »Ich habe ihn nach meinem Geiste herangebildet. Hältst du das Vorbild für so schlecht?«

»Sieh einmal, Vater,« meinte die junge Frau und zog nachdenklich die Brauen zusammen, »ich denke mir das so: Der liebe Gott als Schöpfer aller Dinge erschafft uns und gibt jedem von uns sein Leben. Wer nun aber das Leben eines Kindes nimmt und es in das seine hineinzwingt, nur um dem eigenen Leben eine verlängerte Fortsetzung zu verschaffen, der will den lieben Gott um ein neues Leben übervorteilen. Das ist aber nicht der Zweck der Schöpfung.«

»Du mußt jetzt deine Ruhe haben, liebes Kind, und sollst nicht so viel reden,« sagte Fritz Stoltenkamp und erhob sich leise.

»Ich wollte auch nur die Gelegenheit benutzen, um einmal mit dir darüber zu sprechen. Auf Wiedersehen, Vater. Es war lieb von dir, daß du deiner Enkelin gleich einen so schönen Antrittsbesuch gemacht hast.«

Die Unruhe des Tages verlief sich. Friedlich saß Franziska neben dem Gatten in der Abendruhe. Und nun blickte sie verwundert von ihrer Näharbeit auf. Fritz Stoltenkamp hatte vor sich hingelacht.

»Du bist fröhlich, Fritz?«

»Diese Elisabeth, Franziska. Ich verglich sie schon einmal mit dem Alten Fritz. Nur aus Auge besteht das Frauenzimmer. Der Alte Fritz hatte zwar keine Kinder, aber die sorgt dafür, daß den ihren Schlesien mal nicht wieder genommen wird. Und wenn's beim Mädel bleibt.«

Und wie Fritz Stoltenkamp den Sohn im Auge behalten hatte, so ließ er als Großvater die Enkelin nicht aus den Augen und freute sich, als sie schnell das Laufen lernte und zu ihm auf den Schoß geklettert kam, als wäre er ein Großvater wie alle Großväter und nur für sie auf der Welt.

»Sie kriegt den Wuchs der Stoltenkamps und das Wesen ihrer Mutter,« sagte er zu Franziska. »Ich glaube, das ist eine gute Mischung.« Und er setzte sich den Strohhut in den Nacken und ließ sich von seiner lustigen kleinen Befehlshaberin in den Garten ziehen. Die Fabrik arbeitete ununterbrochen. Glänzende Begabungen saßen in der Leitung, Männer, die aus dem Gewerbestand hervorgegangen waren, Offiziere, die das Artilleriewesen beherrschten, Schiffsingenieure und hohe Verwaltungsbeamte. Ein Rad griff in das andere, lautlos fast lief das Getriebe und doch mit der Sicherheit einer Uhr.

Fritz Stoltenkamp ging durch die Hallen und Höfe. Er war zu einer Besichtigung hinausgekommen und hatte nichts zu erinnern gefunden. Wie ein Punkt kam er sich vor in dem gewaltigen Aufbau der Linien, den er selbst errichtet hatte.

»Es geht auch ohne mich,« sagte er. »Vielleicht sogar noch besser. Ich diene der Fabrik nur noch als Ausstattungsgegenstand.«

»Es ist beneidenswert, Herr Stoltenkamp, das alles aus der Ruhe zu überblicken und sich zu sagen: das alles bin ich.«

»Das alles war ich, meine Herren, war, war! Es ist schwer, meine Herren.« ...

Er schickte den Wagen voraus und ging den langen Weg zu Fuß. Seine Gedanken arbeiteten krampfhaft. Oft tauchten sie in die Erinnerungen zurück, oft hielten sie an bei der Gegenwart, die ihn nicht mehr benötigte, und dann wieder griffen sie eine neue Aufgabe heraus, eine neue Lafette, einen neuen Geschützverschluß, eine Panzerplatte, an der die Geschosse abprallen sollten wie von der Hornhaut Siegfrieds, und die Gedanken wogten und wallten, bis ihm bunte Funken vor den Augen sprangen und rote und grüne Nebel ihm die Ferne verlegten. Mühsam atmend erklomm er die Anhöhe und fiel seiner Frau um die Schulter, die ihm kaum noch den Sessel hinschieben konnte. Der Anfall ging vorüber. Fritz Stoltenkamp erholte sich langsam, aber er schüttelte den Kopf, wenn man ihm von seiner unbezwingbaren Natur sprach und dem heißen, schattenlosen Weg die Schuld zuschob.

»Es war die erste Mahnung,« sagte er. »Elisabeth hatte recht. Ich war zu heftig mit der Fabrik verheiratet und habe meine besten Kräfte in dieser Ehe gelassen. Wenn's hoch kommt, erreich ich noch mein Fünfundsiebzigstes.«

In der nächsten Zeit beschäftigte er sich nur mit seinem Testament. Seine erste Bestimmung war die Unteilbarkeit der Fabrik. Sollten sich mehrere Erben ergeben, so sollten die Nachgeborenen stets aus den jährlichen Einkünften der Fabrik entschädigt werden, die Fabrik selbst aber immer dem Erstgeborenen als ein unveräußerlicher Besitz verbleiben. Die zweite Bestimmung betraf die Regelung und die Verantwortlichkeit der Geschäftsleitung, der er weite Vollmachten auswirkte unter Billigung ihrer Entschlüsse seitens des Werksherrn. Die dritte Bestimmung beschäftigte sich eingehend mit der Arbeiterwohlfahrt, den Ruhegehältern, den gemeinnützigen Kassen, den Arbeiterdörfern, den Alterssiedlungen und den Fortbildungsbestrebungen aller Art. »Vergiß nicht,« schrieb er für einen jeden der Erben, die nach ihm kommen würden, »daß ich selbst mit dem Hammer gearbeitet habe und nur durch die Treue meiner Mitarbeiter groß geworden bin. Treue um Treue. Das ist ein gerader Weg, von dem es kein Ausbiegen gibt.«

In einer besonderen Bestimmung gab er an, daß man ihn bei seinem Tode in dem kleinen Arbeiterhause neben dem alten Schmelzbau aufbahren und von dort aus beerdigen solle. »Von der Stätte aus, wo ich mit meinem Vater und dann mit meiner Mutter im kleinen begonnen habe, wünsche ich auch, nachdem Gott meine Arbeit so reich gesegnet hat, die letzte Fahrt anzutreten.«

Als er sich wieder gekräftigt fühlte, besuchte er zuerst das alte kleine Haus. Keiner der herbeigeeilten Beamten durfte ihn ins Innere begleiten. Ganz allein betrat er die engen Räume, die Wohnküche, in der es nicht viel zu kochen gegeben hatte, die Schlafkammer, in der der Vater am warmen Herzen der Mutter in aller Armut wie ein Glückseliger verschieden war, das Arbeitszimmer mit dem Doppeltisch für Mutter und Sohn und dem schmalen Fenster, durch das er so oft das jugendschöne Gesicht Frau Margaretens neben dem erstarrten Altersgesicht der Großmutter Frau Jodokus Stoltenkamp im roten Licht der Öllampe erblickt hatte, wenn er aus dem Schmelzbau kam und die Frauen stumm über den Briefen und Rechnungen sahen. Seine Hand tastete nach den wenigen Gegenständen, die sich noch vorfanden, als müsse er noch einen letzten warmen Hauch der geliebten Hände auffangen, die sie vor langen, langen Jahren berührt hatten, und er stieg langsam die schmale Stiege hinauf, die zu seiner Dachkammer führte, und strich mit den Händen die getünchten Wände entlang, die einst widergehallt hatten von seinen englischen Sprachübungen.

»England,« sagte er, »ich blieb Sieger. Dafür danke ich Gott am meisten.«

Draußen umbrandeten ihn die Wogen der Arbeit wie ein unübersehbares Meer. Er ging langsam seines Wegs durch die alten und die neuen Hallen und Werkstätten, und im ältesten Schmelzbau gedachte er seiner Ritte nach dem kleinen Hammerwerk in der Mühle, die Stahlblöcke an den Steigbügeln, und vor den Riesenhämmern gedachte er der langen, bangen Stunden in der Mühle, in denen er voll Sehnsucht darauf gewartet hatte, daß der höher gelegene Müller die Wehren öffnete und ihm die Arbeit ermöglichte. Und er kam zum Schießplatz hinaus, der im Gebiet der Fabrik gelegen war, und seine ersten, spannungsvollen Geschützversuche standen ihm vor Augen, die Rohre, deren Schüsse die Einleitung gedonnert hatten zum Anbruch der neuen Zeit. Auch heute wurde Schuß auf Schuß gelöst, und er sah den alten, eisgrauen Frowein, der nun auch in den Ruhestand trat, neben einem hohen General und anderen Offizieren.

»Exzellenz,« sagte der alte Frowein gerade, »mit diesem Geschütz können Sie keine Schlacht verlieren.«

»Einer meines Namens, hat noch nie eine Schlacht verloren,« erwiderte der General scharf und streckte das Kinn vor.

Der alte Frowein sah ihn verwundert an.

»Einer des Namens Frowein ooch nich,« bemerkte er erklärend, und Fritz Stoltenkamp spürte plötzlich den Geist seines Werkes wie eine Erfrischung und kehrte gestärkt auf seinen Alterssitz zurück.

Oft ließ er die Freunde und Gefährten der Jugend an seinem inneren Blick vorüberschreiten. Fast alle waren sie vor ihm dahingegangen. Selbst Mathilde, die das Geheimnis der ewigen Jugend gekannt zu haben schien. Und der ausgelassene Jan Krüger beschwindelte nun wohl die Engel im Himmel mit den schwarzen Perlen der Großfürstin.

Einmal kam auch der Oberst Moldenhauer zu Besuch und blieb auf dringendes Bitten Franziskas zu Tisch.

»Der Mensch ist wirklich das Ergebnis seiner Erziehung,« sagte er mit einer tiefen Verneigung. »Ich kann einer Dame nichts abschlagen.«

Er lebte seit einigen Jahren schon im Ruhestand und bewohnte mit Diener und Köchin ein hübsches Gartenhaus.

»Du hast sogar einen Fernsprecher für deinen persönlichen Gebrauch?« fragte Fritz Stoltenkamp, als sie zu dritt bei Tische saßen. »Ich wußte gar nicht, daß du noch so viele Geschäfte hattest.«

Der weißhaarige Oberst blinzelte zu der Frau des Hauses hinüber. Sie gewahrte es und stellte sich teilnahmlos.

»Geschäfte?« wiederholte der Oberst. »Gott soll mich bewahren, ich habe mich lange genug abgerackert bei Christen und Heiden. Sprich mir das Wort ›Geschäfte‹ nicht aus. Ich will meine Ruhe haben.«

»Wozu benutzest du dann aber den Fernsprecher, Moldenhauer?«

Wieder blinzelte der alte Haudegen nach dem regungslosen Gesicht Franziskas.

»Mir ist,« begann er, »als hätten wir vor Jahren schon einmal eine ähnlich klingende Unterredung geführt. Jedenfalls könnte sie als Auftakt zu der jetzigen betrachtet werden. Ich sitze hier als ein sündenbeladener Mann. Ich habe die größte Sünde gegen das schöne Geschlecht begangen: wie ich hier bin, bin ich unbeweibt geblieben. Und doch habe ich den Frauen auf meinen rauhen Kriegspfaden gedient wie kaum ein zweiter. Jetzt erlebe ich die Rache der Natur. Ich bin ein so alter, abgehalfterter Krippengaul geworden, daß kein Mädchen mehr mit mir spricht. Ohne eine weiche Frauenstimme aber kann ich im Alter nicht sein. Da helfe ich mir mit einer Kriegslist.«

Frau Franziska hob den Kopf und sah ihn in ruhiger Erwartung an.

»In stiller Nacht,« fuhr der alte Kriegsknecht fort, »wenn alles schläft, nur die Sehnsucht meines Herzens nicht, nehme ich den Fernsprecher neben meinem Ruhelager auf und klingele an. Das Fräulein auf dem Amt meldet sich. ›Ich möchte eine Depesche aufgeben,‹ sage ich freundlich. ›Anschrift: Oberst Moldenhauer. Straße und so weiter. Inhalt: Geliebter! Ich vergehe vor Sehnsucht nach dir. Ich schmiege mich an dich. Ich küsse dich. Ich habe dich so lieb.‹ Und dann frage ich freundlich: ›Würden Sie mir die Depesche bitte wiederholen, Fräulein?‹ Sie liest. Ich lausche. Ihre weiche Mädchenstimme streichelt mich. Sie nennt mich Geliebter ...«

Frau Franziska hatte längst ihr Taschentüchlein vor den Augen. Sie schluchzte hinein. Sie winkte ab.

»Ich sehe, meine Allergütigste,« sagte der Oberst und zwinkerte lebhafter mit den Augen, »daß die kargen Freuden meines so einsam gebliebenen Alters Ihre Seele zu überwältigen drohen. Behalten Sie mich weiter in einem freundlichen Angedenken. Mir bleibt nichts, als Ihnen für alle Teilnahme immer aufs neue zu danken.«

Im Spätherbst fuhr Fritz Stoltenkamp wieder einmal zu seiner Lieblingsschöpfung, der Siedlung der Alten, hinaus. Er fand den uralten Haniel noch im Gärtchen sitzen. Aus dem Fenster nickte das verrunzelte Gesicht der Lebensgefährtin. Sie brauchte mehr Wärme und blieb im Zimmer.

Die beiden einstmaligen Arbeitsgefährten saßen auf der Hausbank dicht beieinander und ließen sich die letzte warme Nachmittagssonne auf die Knie scheinen.

»Wie alt bist du denn jetzt eigentlich, Haniel?«

»Eben erst neunzig, Herr Stoltenkamp. Ich hab Sie ja zurzeit vor dem Reinfall gewarnt.«

»Von was für einem Reinfall redest du, Alter?«

»Uns als junge Rentner hier in Watte zu wickeln un uns nur fünfmal am Tag zu bitten, en Handbreit den Mund aufzumachen, damit so 'ne gemächliche Zufuhr stattfinden kann. Mi'm bißlen guten Willen kann man dat bis in die Unendlichkeit fortsetzen. Meine Alte un ich sind noch keinen Tag krank gewesen.«

»Also du bist zufrieden? Ich meine, wenn du so Rückschau hältst auf das ganze verflossene Leben.«

»Herr Stoltenkamp,« sagte der Alte, »ich muß wohl en Glückskind sein.«

Mehr sagte er nicht. Aber die wenigen Worte gingen und gingen durch Fritz Stoltenkamps Hirn. So also sah ein Glückskind von neunzig Jahren aus. Und von ihm war ein Teil des Glückes gekommen, von ihm und dem Werk. Er rückte noch ein wenig fester heran auf der Bank, daß sich ihre Schultern leise berührten. Da brauchten sie nicht zu sprechen und dachten doch dasselbe.

Die Abendsonne kam und floß milde über den Werksherrn und seinen ältesten Arbeiter ...

»Haniel,« sagte Fritz Stoltenkamp endlich, »es wird Zeit für mich. Hörst du? Nicht nur für heute abend. Es ist mein letzter Herbst, das spür ich im Blut. Sollte ich nun vor dir dahin müssen, so möcht ich dich hinter meinem Sarge wissen. Als meinen ältesten Freund. Neben meinem Sohn sollst du hergehen. Glaubst du, daß du es schaffst?«

»Solang ich noch in zwei festen Stiebeln stehe, schaff ich es.«

»Dann ist es gut.«

Der Werksherr erhob sich. Der alte Haniel mit ihm. Sie reichten sich die Hände, die so manchen Hammerschlag zusammen getan hatten, und sahen sich steif in die Augen. »Grüß deine Frau, Haniel. Glückauf!«

»Glückauf, Herr Stoltenkamp.«– –

Es wurde Abend für Fritz Stoltenkamp. Jetzt wußte es auch Franziska. Mit einem Mal gaben seine Kräfte nach, und er rührte sich nicht, um sich dagegen aufzulehnen.

»Ich bin ausgebrannt, Franziska. Der Dampfkessel hat ausgereicht bis zum letzten. Ich hab mein Ziel erreicht und muß wohl dankbar sein. Weißt du, ich habe mich nur vor dem langsamen Dahindämmern gefürchtet, vor dem Zustand, in dem man von den Schafsköpfen nah und fern als der sagenhafte Urheber der Stoltenkampschen Gußstahlwerke bezeichnet wird. Ich werde dir nicht viel Last machen.«

»Fritz,« sagte sie und zog ihm die Decke über die Knie, »dreiunddreißig Jahre sind wir zusammen.«

»Da hab ich dir dreiunddreißigmal zu danken, Franziska.«

Sie umsorgte ihn Tag und Nacht. Sie führte ihn zu seinem Fensterplatz und führte ihn wieder zurück. Vor allem aber hielt sie ihm die Besucher fern. »Nur keine Zuschauer, Franziska. So was macht man mit sich allein ab.«

Einmal erhielt er den trostreichen Brief eines Herrschers. Es war darin die Rede von dem Glück des Hauses Stoltenkamp.

»Glück,« wiederholte Fritz Stoltenkamp und sann weiter. »Wenn man ein Hürdenrennen mitreitet, kommen einem die Hindernisse doch ein bißchen höher vor, als wenn man vom Sitzplatz aus zuguckt.«

Aber das Wort »Glück« grübelte er jetzt oft und lange nach. In einer Nacht weckte er Franziska. »Ich weiß es jetzt und wollte es dir nur sagen. Glück ist nicht, was man für sich darstellt, sondern vor allem, was man für die Allgemeinheit darstellt. Es gibt Menschen, die sich nie in Schweiß gearbeitet haben und doch für ihre Person kreuzvergnügt sind. Und es gibt Familien, die sich mit jeder Faser in den Dienst einer großen Sache stellen müssen, einer wirtschaftlichen, einer politischen, kurzum, einer vaterländischen, unter Aufgebung aller und jeder Einzelliebhaberei, weil sie nur so das Glück für das Gemeinwohl bedeuten.« –

Einer der seltenen, weitsichtigen und golddurchwirkten Herbsttage spannte sich über das Land. Fritz Stoltenkamp saß am offenen Fenster und sog die herbe, klare Luft ein. Da lagen die Wiesen seiner Jugend, da schimmerte die Ruhr, da winkte das alte Städtchen des Ohm Grote. Und er winkte ihm mit einem Kopfnicken wieder zu.

Was jetzt wohl die Fabrik macht, dachte er, der – Gußstahl – –

Frau Franziska legte seinen niedergesunkenen Kopf in die Kissen des Sessels zurück. Sie rief nach dem Diener und hieß ihn, die jungen Herrschaften von drüben zu holen. Sie setzte sich neben den Gatten und faßte seine Hand ...

Dann hörte sie eilende Schritte. Sie hörte sie über die Treppen und Gänge haften und sich nähern. »Schneller, schneller!« wollte sie rufen, und ihr Atem setzte aus.

Als Friedrich Franz mit Elisabeth und der kleinen Margarete eintrat, war Fritz Stoltenkamp still zu seinen Vätern gegangen. – –

*

 


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