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12

Das Wunder kam über Nacht. Wie ein rechtes Wunder zu kommen pflegt. Und im Licht des Tages betrachtet, war es doch nur der Erfolg der Schaffenskraft und das Endergebnis zähen Ausharrens. Während sich Preußen zur Erteilung eines Patentes nicht entschließen konnte, traf von Rußland und Frankreich gleichzeitig die Nachricht von der patentamtlichen Annahme des vor Jahren erfundenen Besteckwalzwerkes ein und schon mit der nächsten Post das Gebot eines russischen und eines französischen Hauses auf den Alleinerwerb. Fritz Stoltenkamp schloß ohne Besinnen ab. Er konnte seiner Bank die Überweisung von sechzigtausend Talern anzeigen.

Ganz erregt lachten sich Frau Margarete und der Sohn in die Augen.

»Mutter,« sagte Fritz Stoltenkamp, »ich will Kanonen bauen und gewaltige Schiffsachsen und die hunderttausend Räder für die Eisenbahn und muß den Weg dahin über den ganz gewöhnlichen Suppenlöffel und seine Geschwister nehmen. Mutter, das soll mir ein Zeichen sein. Nicht Springer sein wollen, Fortentwickler.«

»Fritz, Fritz,« erwiderte Frau Margarete, und sie hatte ganz nasse Glücksaugen bekommen, »das ist der Lohn für deine Geduld.«

»Mutter! So sieh mich doch einmal richtig an, Mutter.

So sieht ein Mann mit sechzigtausend Talern in der Tasche aus.«

Und er nahm seine Freude und legte sie zu seinem starken Wagemut.

»Was willst du mit all dem Geld beginnen, Fritz?«

Er sah sie ganz verwundert an. »In die Fabrik stecken, Mutter. Nur jetzt keine Pause machen. Sollst mal sehen, wie nach dem Aufruhrjahre das wirtschaftliche Leben einen Schuß tut. Da muß ich vorbereitet sein, und der Suppenlöffel soll mir helfen, daß ich meinen Teil abbekomme. Zu allernächst wird die Verbindung mit der schwedischen Eisenerzgrube aufgenommen.«

»Und dann das Eisenbahnmaterial und dann Neubauten und dann –«

»Jawohl, Mutter, jawohl. Eins wird das andere nach sich ziehen, und es soll keinen Stillstand geben und –«

»Und eines Tages bist du alt und grau.«

Fritz Stoltenkamp horchte auf. Da war ein Ton in der Stimme gewesen, der nicht scherzhaft klang. War es – eine Klage?

»Wie meinst du das, Mutter?« fragte er freundlich. »Ist es nicht das schönste, in Arbeit alt und grau werden?«

»Ja, Fritz,« sagte Frau Margarete und hob den Kopf, »es ist das Schönste, wenn man – wenn man die Sonn- und Feiertage hatte, um sich über seine Freude klar zu werden. Sonst wird das Werk reich – und du wirst arm.«

»Ich bin ja noch so jung, Mutter. Kaum siebenunddreißig.«

»Du warst vor zwanzig Jahren fast so alt wie heute und wirst in zwanzig Jahren doppelt so alt sein, wenn du nicht endlich mal an dich denkst. Nein, ich schelte dich nicht, Fritz. Ich liebe ja dein nimmermüdes Vorwärtsmarschieren, wie du es nur selber lieben kannst. Aber auf den anstrengendsten Märschen muß es auch Rasten geben, einen tiefen Atemzug der Ruhe, einen leuchtenden Blick in all das Gottesland zu Füßen. Sonst bist du zum Schluß durch dein Leben hindurchgerannt und hast das Ziel, und es ist doch nur ein einzelner Punkt von den vielen, schönen, die zu ihm führten. Und du staunst betroffen, daß es nur der eine ist.«

Fritz Stoltenkamp schüttelte leise den Kopf.

»Ich werde nicht betroffen sein, Mutter. Weil mir nur dieser eine wertvoll erscheint.«

Da erprobte Frau Margarete ihre Frauenwaffe.

»Glaubst du, Fritz, was dir allein wertvoll erscheint, müßte auch anderen als das einzige erscheinen? Glaubst du nicht vielmehr, daß mancher einen schönen und friedlichen Ausblick mit sich nehmen möchte auf dem langen Marsche und für ein gelegentliches Ausruhen dankbar wäre? So ganz außerhalb des alltäglichen Tages ...?«

»Mutter,« sagte Fritz Stoltenkamp hastig. »Mutter! Mein Gott, du sehnst dich. Und ich sehe nur immer mich.«

»Junge, lieber Junge,« erwiderte Frau Margarete und wußte fast nicht weiter, so hatte der Ton der Liebe und Besorgnis sie getroffen. »Siehst du, Fritz, ich will ja nicht viel. Nur hin und wieder mal einen Sonntag mit dir allein draußen verwandern. Den langen Werktag hinter sich lassen. Die Arme und die Seele in eine andere Welt hineinrecken, in die Wunder der Natur, in die Vielfältigkeit des Menschengeistes. Das darf sogar der Taglöhner, Fritz. Und das dürfen wir uns auch gönnen.«

»Mutter,« sagte Fritz Stoltenkamp, »ich hab dir deine Aufopferung schlecht gedankt. Was ich allen meinen anderen Mitarbeitern nicht glaubte genug danken zu können, Aufopferung, Treue, Selbstlosigkeit, das nehme ich von dir so entgegen, als wäre es weiter nichts Besonderes und müßte so sein. Nein, leg mir nicht die Hand auf den Mund. Ich bin mal wieder blind neben dir hergelaufen, und du hast es ertragen. Das wird wohl das Mutterlos sein.«

»Mein Mutterlos ist das schönste. Ich leb Schulter an Schulter mit meinem Jungen und hab ihn nicht herzugeben brauchen.«

»Ich bin nicht dein einziger Junge. Du hast noch einen zweiten Sohn und eine Tochter. Bei Amalie gibt's nicht Not und Aufregung. Der Tisch ist immer gedeckt und das Bett geschüttelt. Was für ein geruhsames Leben hättest du dort führen können. Oder bei Eberhard! Seine Erfindungen haben ihm trotz seines Herumzigeunerns Geld gebracht, immer so viel, als er brauchte, und er brauchte viel. Ein paar Jahre in Paris, ein paar Jahre in London, in Rom, in der Schweiz. Da wäre dein Leben reich geworden, reich an Erleben und Erinnerungen. Und statt dessen hausest du bei mir wie ein Schuhu bei dem anderen, und wenn du links zum Fenster hinausblickst, siehst du Gußstahl, und wenn du rechts zum Fenster hinausblickst, siehst du wieder Gußstahl. Und aus der Ferne hörst du das Lachen deiner lebensklügeren Kinder.«

»Es sind auch Enkel darunter,« sagte Frau Margarete lächelnd.

Da trat Fritz Stoltenkamp auf die Mutter zu und nahm sie fest in den Arm.

»Auch Enkel, sagst du. Und meinst damit die Silberflöckchen im Haar. Mutter, ich sah sie.«

Ein Beben lief durch ihre Schultern und verlief sich.

»Mißfallen sie dir arg?«

»Ja, Mutter, und nein, Mutter. Ja, weil ich die Schuld daran trage, und nein, weil mir an dir überhaupt nichts mißfallen kann.«

»Mein alter Verehrer,« sagte sie und befreite den Kopf von seiner Brust. »Und du wirst mich trotz meiner weißen Haare ausführen, wenn mich mal wieder die Sehnsucht überkommt?«

»An jedem Sonntag, den Gott werden läßt. Das Weiß macht dich erst recht jung, und ich Hab schon den grauen Esel im Haar. Man wird uns für ein spätes Brautpaar halten, Mutter, und uns erst recht beneiden.«

Sie strich ihm mit der flachen Hand über sein Gesicht.

»Jetzt bin ich wieder obenauf. Siehst du, so eitel bin ich. Wie alle Frauenzimmer. Da ist kein Unterschied. Aber ich will meine Eitelkeit bändigen und mich erst mit dir zeigen, wenn du die nächste arbeitsreiche Zeit überwunden hast.«

Und es war, als wäre es doch ein Wunder gewesen, was sich über Nacht ereignet hatte. Es war, als ob das Schicksal von diesen Menschen das letzte Opfer, die letzte Entäußerung verlangt hätte, als sie in der tiefen Nacht am Schmelzofen das geschlechteralte Familiensilber und den noch liebewarmen Goldschmuck zur Auslöhnung der Arbeiter herausgaben. Nun konnte das Glück kommen, denn ein Unglück gab es nicht mehr.

Und das Glück kam und wurde in tatkräftige Hände genommen. Die Verhandlungen mit der schwedischen Eisenerzgrube führten zum Erfolg. Fritz Stoltenkamp verpflichtete sich als dauernder Abnehmer. Die Banken sprangen ihm bei. Die Versuche mit dem schwedischen Eisen erfüllten vollauf, was sie ihm schon in seiner englischen Werkmannstätigkeit bewiesen hatten. Nun vermochte er auch im Preise den Wettbewerb mit dem Ausland aufzunehmen, das er an Güte seines Erzeugnisses so lange schon übertroffen hatte. Und er nahm ihn auf der Stelle auf.

Mit dem Ingenieur Ungemach hockte er Tag für Tag am Zeichentisch, und oft, wenn sie den Blick erhoben, dämmerte schon der Morgen durch die Scheiben, den sie fröhlich begrüßten. Denn die Entwürfe auf dem Papier nahmen greifbare Gestalt an, und die Berechnungen gaben ihnen recht. Vom Zeichentisch ging es zur Werkstatt, und wieder floß der Schweiß Tag um Tag, bis Meister und Gesellen sich die Hände am Leder wischten. Es war alles bereit.

Wie Fritz Stoltenkamp es vorausgesagt hatte, so tat das gehemmte wirtschaftliche Leben einen Schuß nach oben und vorwärts. Deutsche Maschinenfabriken machten sich von England frei und bauten Lokomotiven, deutsche Eisenhütten walzten Eisenbahnschienen, die Eisenbahngesellschaften aber selber zogen das Netz der Gleise weiter und weiter, errichteten eigene Werkstätten und sahen sich nach Helfern um wie die Dampfschiffahrtsgesellschaften auf dem Rhein und auf der Donau. Da war Fritz Stoltenkamp auf dem Platz. Er lieferte die Gußstahlblöcke für die Schienenwalzwerke, er lieferte Wagenachsen für Lokomotiven und Wagen, er schmiedete nach seinen Entwürfen die ersten Gußstahlkolben für die Eisenbahnen und die schweren Schiffswellen für die Dampfschiffe. Die Räume wurden zu eng. Maurer und Zimmerleute traten wieder einmal an. Ein neuer Gießbau erhob sich, ein vergrößertes Maschinenhaus und Hammerwerk. Der Bedarf nach mechanischen Werkstätten machte sich geltend, ein eigenes Walzwerk wurde notwendig. Schon ließen sich Tiegelblöcke von zwanzig Zentnern gießen, und immer noch war kein Rasten und Ruhen. Wieder und wieder saß Fritz Stoltenkamp mit Ungemach zusammen am Zeichentisch, ein Entwurf gebar den anderen, und als ihm der Wurf gelungen war, der sichersten Wagenachse und Kolbenstange den sichersten Radreifen der Welt hinzuzufügen, den nahtlosen Radreifen, den er in Gußstahl goß und fertig preßte und schmiedete, da bedurfte es nur noch der Weltausstellung in Paris, um seinen Namen und den Namen seines Werkes wie einen Ruhm in die Welt des Eisens und Stahls zu tragen.

Und wieder atmete er nicht auf und gönnte sich nicht Ruhe und Genuß. Denn nun galt es dem Geschützrohr, seinem heißesten Traum, den er endlich der Verwirklichung nahe sah. Dreihundert Männer arbeiteten um ihn her, Hämmer dröhnten und Hämmer pinkten, Tiegel rasselten und Stahlgüsse zischten, Maschinen schnaubten und der Dampf quoll in Schwaden wie auf dem Schlachtfeld. Das war für Fritz Stoltenkamp die rechte Musik und die rechte Luftschicht, um an die Herstellung eines neu ersonnenen Kanonenrohres zu gehen. Und die Kunst des Erfinders, die Kunst des Gießers und des Schmiedes vereinigten sich und schufen ein Sechspfünderrohr in Feldlafette, das die Bewunderung der Ausstellungsbesucher hervorrief. Fritz Stoltenkamp aber war schon weiter geschritten. Eine Zwölfpfünder-Granatkanone war seine nächste Arbeit.

Die geplanten Ausflüge mit der Mutter hatten sich auf wenige Spaziergänge verringert. Frau Margarete wehrte es ab, wenn er mit glühendem Kopf vom Schaffen kam und ihr eine Fahrt ins Land vorschlug oder einen Besuch der schönen und frohen Städte Düsseldorf und Köln. Sie durfte ihn jetzt nicht für sich beanspruchen.

»Gib mir deinen Arm, Fritz, und führe mich auf die Wiesen rings um dein Werk. Das genügt mir schon. Mein Gott, ich reise ja mit dir und deinen Eisenbahnrädern und Schiffswellen um die ganze Welt und besuche mit deinen Kanonen die Weltausstellungen. Es gibt gar keine Mutter, Fritz, die so viel erlebt.«

Dann wandelten sie ein halbes Stündchen durch die abendlichen Wiesen und sahen den weißen Feuerschein der Gießereien und das rote Geloder des Walzwerkes, und Frau Margarete sagte: »Wie muß sich der Vater freuen und die Frau Jodokus Stoltenkamp, wenn sie den Feuerschein sehen.«

Oder sie sprachen von Amalie und Walter Grote und ihrer blühenden Kinderschar, für die Amalie zu sammeln und zu häufen verstand, als wäre das Leben eine Belagerungszeit. Und von Eberhard sprachen sie und von seiner Frau.

»Nun sind sie schon ein Jahr lang in Düsseldorf, und ich sah sie nur das eine kurze Mal. Da warst du gerade zur Köln-Mindener Eisenbahngesellschaft gefahren und nicht zu Hause. Eberhards Maschinenfabrik bei Düsseldorf läuft nun auch schon, und wenn es einmal deine Zeit erlaubt, mußt du den Besuch erwidern.«

»Hatte sich – hatte sich seine Frau sehr verändert?«

»Nicht die Spur. Ihr Gesicht gehört zu den seltenen, die mit den Jahren immer anziehender werden. Wie soll ich es dir sagen? Was andere frauenhaft macht, wirkt bei ihr geheimnisvoll. Und ihre Gestalt ist so ebenmäßig, wie sie immer war. Sie hält wohl sehr auf sich, und da sie keine Kinder hat, bleibt ihr Zeit genug.«

»Du hattest drei Kinder, Mutter,« erwiderte Fritz Stoltenkamp, »und keine Zeit, und doch konnte dir keine das Wasser reichen.« Und er zog ihren Arm fester an sich.

»Dafür verwöhnst du mich jetzt wie toll. Ein halbes Dutzend Buchhalter und Schreiber arbeiten sich im Kontor die Finger wund, und für mich bleibt nichts als das Zusehen.«

»Mutter, ich wollte, ich könnte dir ebenso viele Pagen halten, die dir nur nach den Augen sähen.«

»Um Gottes willen! Fritz! Stell dir doch nur einmal das Bild vor. Sechs Jünglinge, die mich anstieren, und ich stiere sie wieder an. Ach nein, Fritz, wir wollen lieber in der etwas rauheren Welt des Gußstahls und der Haniels und Froweins bleiben.«

Und das fröhliche Lachen von Mutter und Sohn scholl über die abendlichen Wiesen hin.–

Ein Brief traf ein von Moldenhauer, dem alten Schulkameraden. Er schrieb von Paris, wo er mit einem Prüfungsausschuß der ägyptischen Armee weilte.

»Du weißt, Stoltenkamp, wir Ägypter gehen hübsch bei Frankreich in die Lehre. Wir sind herübergeschwommen, um dem Artillerieversuchsschießen in Vincennes beizuwohnen, denn es hapert bei uns gewaltig mit den Kanonen. Die unseren reichen höchstens für einen Selbstmörder, und das ist nicht einmal unbedingt sicher, denn sie platzen meist schon vor Schreck, bevor der Schuß heraus ist. Hinter dem Türken aber, mit dem es gegen den Russen zu kämpfen gilt, grinst in der Ferne schon das freundliche Raffgebiß John Bulls. Es ist seltsam, wieviel Engländer im Lande der Pyramiden seit etlicher Zeit wissenschaftliche Studien treiben. Lies: wissenschaftliche.

»Da hab ich gegen meine Gewohnheit eine Vorrede geschrieben, so lang, wie schöne Frauen pflegen, wenn sie einen auf der letzten Seite wissen lassen, daß sie am Abend pünktlich erscheinen werden. Ich werde auch pünktlich erscheinen, und zwar schon in der nächsten Woche. Bau an Rohren, Zeichnungen und Entwürfen auf, was Du nur zur Hand hast. Denn um auf das Artillerieversuchsschießen in Vincennes zurückzukommen: da wurde die Stoltenkampsche gußstählerne Zwölfpfünder-Granatkanone vorgeführt, und dreitausend Schuß wurden aus dem Rohr herausgejagt, ohne daß das Rohr sich auch nur im geringsten darüber verwunderte. Stoltenkamp, Mäuler und Nasenlöcher haben sie aufgerissen und sind beinah ins Rohr hineingekrochen, aber da war nicht mal ein Schönheitsfehler, und ich beglückwünsche Dich aus artilleristischem Herzen. Unser Prüfungsausschuß hat auf der Stelle einen größeren Auftrag an Dich beantragt, und ich habe den ehrenvollen Auftrag erhalten, mit Dir mündlich über noch andere Kaliber als das vorgeführte zu beraten, dieweil die übrigen Herren dringende Geschäfte an der Seine haben. Lies: an der Seine. Hierdurch kündige ich ebenso persönlich wie amtlich meinen Besuch an und bitte Dich, bevor ich zur Unterschrift übergehe, nicht zu erschrecken, denn der Oberst ist nur ein ägyptischer Oberst, womit ich zu sein die Ehre habe Felix Moldenhauer, Oberst im Generalstab der ägyptischen Armee.«

Fritz Stoltenkamp preßte den Brief in den Händen. Ganz blaß und steif stand er am Fenster, und seine Brust hob und senkte sich. Aber in seinen Augen brannte ein heißes Leuchten. »Ein heißhungriges,« meinte Frowein, als er eine Stunde später mit dem Ingenieur Ungemach von einer Besprechung in den Betrieb zurückschritt.

»Passen Sie auf, Herr Ungemach, der Mann aus Ägypterland bringt uns die neue Zeitrechnung.«

»Lieber Frowein,« antwortete der Ingenieur aus tiefen Gedanken heraus, »halten Sie mich vielleicht für einen Esel?«

Und der Mann aus Ägypterland kam, und Fritz Stoltenkamp und der junge Oberst waren die nächsten Tage unzertrennlich. Wenn sie nicht dem Gießen beiwohnten oder dem Walzen der Stahlblöcke oder die neu erfundenen Stahlbohrmaschinen besichtigten, die den Stahl wie Späne schnitten, hockten sie am Zeichentisch hinter verschlossenen Türen.

»Rein wie die Verschwörer,« meinte Frowein, aber er pfiff dazu den preußischen Präsentiermarsch als höchste Anerkennung. Und die Arbeiter an den Schmelzöfen und den Hämmern schnüffelten dabei in der Luft.

»Die Kerls wittern Pulver wie die Krähen,« sagte Frowein und stieß den Meister Haniel vertraulich an. »Es ist und bleibt doch eine komische Sache, daß der friedliche Mensch die Mordwerkzeuge nun mal für das Feinste hält, und je dicker, je lieber.«

Und auch die dickeren ließen nicht auf sich warten. Der Auftrag der ägyptischen Regierung, der nach wenigen Monaten einlief, lautete neben vierundzwanzig Zwölfpfündern auf zwölf Vierundzwanzigpfünder-Vorderlader.

An diesem Tage brachte Fritz Stoltenkamp eine Flasche Rheinwein auf den Tisch. Stehend füllte er sein und der Mutter Glas, und es zuckte in seinem Gesicht.

»Ich trinke das Gedächtnis des ersten deutschen Gußstahlerzeugers, Friedrich Stoltenkamps. Ich gedenke in Dankbarkeit meines Vaters.«

Und Frau Margarete leerte stehend mit ihm das Glas, und in ihr sprach es: »Ich danke dir auch, Friedrich, und für den Ältesten am meisten. Nun bist du auferstanden und hast dich erfüllt, Friedrich.«

Wie eine Woge, die endlich die Schleuse durchbrochen hat, kam es heran. Rußland forderte Kanonen, und mit den französischen Aufträgen kam die Versuchung. In einem Schreiben des französischen Kriegsministers wurde Fritz Stoltenkamp eingeladen, sein gesamtes Gußstahlwerk unter den günstigsten Bedingungen und der besonderen Bürgschaft der französischen Regierung nach Frankreich zu verlegen.

Fritz Stoltenkamp faltete das Schreiben zusammen und schloß es in sein Geheimfach.

»Preußen,« sagte er, »Heimat; du läßt mich lange werben. Aber die Treue halt ich dir doch, Preußen.«

Weiter wurde gebaut und weiter gearbeitet. Was an Gewinsten sich ergab, wurde ins Werk gesteckt, und was fehlte, gaben die Banken gern. Wieder wuchs die Arbeiterzahl um ein paar hundert, und aus dem Stamm der Alten wurden Meister gebildet und Vorarbeiter, die Frowein unterstellt wurden, während sich Ungemach mit einem Stab geschulter Techniker umgab und auf Stoltenkamps Weisungen die Werkzeugmaschinen für die eigenen Werkstätten immer weiter vervollkommnete und verfeinerte. Es gab keinen Atemzug mehr, der nicht seine Arbeitsbestimmung hatte.

Weich kam der Frühling aus den Ruhrwiesen. So weich, daß man es kaum bemerkt hatte, wie tief er schon in den Herzen saß und in allen Sinnen stak. Fritz Stoltenkamp kam nach Feierabend über den Fabrikhof, blieb stehen und sog die warme, schmeichelnde Luft in sich ein. In der Nähe gewahrte er Frowein, der auch versonnen stand und den Abend genoß.

»Was machen Sie denn noch hier, Frowein?«

»Ich zupfe sozusagen ein Margaretenblümchen, Herr Stoltenkamp.«

»Ein Margaretenblümchen? Ein schöner Name. Meine Mutter heißt auch Margarete.«

»Gerade deshalb, Herr Stoltenkamp. Als ich mich mal erkühnte und auf meine Frau schimpfte, sagten Sie mir, es gebe auch noch andere Frauen. Frauen wie Ihre Mutter.«

»Das kann ich wohl gesagt haben. Aber deshalb stehen Sie hier nach Jahren als Frühlingsträumer und zupfen sozusagen ein Margaretenblümchen?«

»Was hilft das? Ich zupf: ›soll ich – oder soll ich nicht‹, und mein Kopf sagt ›nicht‹, und dieser schöne Frühlingsabend sagt ›aber warum denn nicht‹. Und dabei bin ich denn hier so stehen geblieben.«

»Na, das ist doch immerhin ein gutes Zeichen. Ihre Frau schimpft also nicht mehr, Frowein?«

»Nein, Herr Stoltenkamp, meine Frau schimpft nicht mehr. Wenigstens bei mir nicht mehr. Gott hat sie selig.«

»Oh,« sagte Fritz Stoltenkamp verblüfft, »das habe ich nicht gewußt.«

»Ich hätte auch nicht gut Teilnahme ertragen,« entgegnete Frowein und blickte aufmerksam in den Frühlingshimmel. »Der Mai ist doch eine verrückte Jahreszeit in unserer Gegend. Das kommt mit einem Mal und ist da.«

»Was kommt, Frowein? Sie denken doch nicht etwa schon – ans Wiederverheiraten?«

»Wär das in Ihren Augen mehr schlimm oder dumm, Herr Stoltenkamp? Darum geht es.«

»Frowein,« sagte Fritz Stoltenkamp, und wider Willen mußte er laut hinauslachen. »Sie sind wie ein alter Verbrecher, der das Mausen nun mal nicht lassen kann.«

»Das ist es,« gestand der Nachdenkliche, »und das besagt ja wohl auch unser schönes, schlichtes Sprichwort: ›Wer et kann, dä lät et nich, un wer et lät, dä kann et nich‹.« Und damit rückte er den Hut und trollte sich von dannen.

An diesem Abend ging Fritz Stoltenkamp noch lange in den Feldern spazieren. Allein und ohne die Mutter. Und der starke Duft der Ackerschollen und der wilde Duft der Blumen drang in ihn ein und dehnte ihm die Brust, daß sie ihm vor fremdgewordener Sehnsucht fast springen wollte.

Es war um die Mitte Mai, als ihn eine geschäftliche Unterredung mit dem Vorstand der Köln-Mindener Bahn nach Köln führte. Auf der Rückfahrt berührte er Düsseldorf. Die schöne, frohe Stadt lag in goldene Sonne gebadet. Da vermochte er der Lockung nicht zu widerstehen. Er stieg aus und wanderte den Stadtgraben entlang und blickte den weißen Schwänen zu, die geräuschlos einander folgten, und befand sich wie ein Träumer im lichten Grün des Hofgartens.

»Ich muß Eberhard besuchen und seine Frau,« sagte er sich mehrere Male. »Ich kann doch nicht in Düsseldorf herumstreichen, ohne sie begrüßt zu haben.« Und dann machte er sich auf den Weg. Aber am Karlsplatz fiel ihm an einem großen, alten Gebäude ein Firmenschild in die Augen, das Max Schlechtendahls Namen trug, und ohne sich zu besinnen, bog er in das offenstehende Tor ein und ließ sich anmelden.

Ein kleiner graubärtiger Herr, große Brillengläser im gefurchten Gesicht, empfing ihn. Die Türe schloß sich.

»Bist du es wirklich, Fritz Stoltenkamp? Bist du es wirklich? Ich kann es gar nicht glauben, Fritz.«

»Max! Nein, dich hätte ich auch nicht wiedererkannt. Wir sind nicht mehr die Jüngsten, Max. Aber wollen wir uns nicht die Hände reichen?«

Der kleine Graubärtige griff hastig zu.

»Fritz, Fritz, wie schön, daß du gekommen bist. Da kommt meine Jugend zu Besuch, und ich bin ein alter, überflüssiger Bursche geworden.«

»Du bist ein oder zwei Jahre älter als ich. Soll ich auch klagen?«

»Du bist jung geblieben. Dich hat die Arbeit jung gehalten und die großen Ziele. Du hast dich selber in die Faust genommen und dich durch keine eitlen Schwächen ablenken lassen. Das macht es, Fritz.«

Fritz Stoltenkamp blickte sich in dem hohen, holzgetäfelten Raume um.

»Das sieht hier auch nicht nach Armut aus und nach geschäftlichen Niederlagen, Max. Mir scheint, du brauchst dich, was Arbeit betrifft, nicht vor mir zu verstecken, und was deine Erfolge betrifft, erst recht nicht. Wenn du dich jetzt also ein wenig ausruhst –«

»Ausruhen?« fiel ihm der Gealterte ins Wort. »Ich mich ausruhen? Wenn ich früher bis in die Nacht hinein gearbeitet habe, so muß ich jetzt bis in die Nacht hinein fronen, wie ein Sklave an der Kette Frondienste tut. Doch ich will dir hier nichts vorjammern. Ich hab's ja selbst so gewollt. Aber freuen will ich mich, Fritz, freuen, daß ich dich wieder einmal bei mir habe.«

Fritz Stoltenkamp saß im Sessel und rauchte eine Zigarre. Eine Zeitlang wußten sie nicht weiter. Dann sagte der Gast: »Es hat keinen Zweck, daß wir mit unseren Gedanken umeinander herumlaufen. So oft kommen wir nicht zusammen. Wenn du also glaubst, es täte dir gut, dich auszusprechen – in mich kannst du alles hineinreden.«

Da sprach Max Schlechtendahl, wie er als junger Mensch gesprochen hatte, hastig und unaufhaltsam, als fürchte er, etwas zu versäumen und eine Gelegenheit aus der Hand zu lassen.

»Deiner Verschwiegenheit bin ich sicher, Fritz, obwohl es hier wenig zu verschweigen gibt. Es ist die alte Geschichte, die immer neu bleibt. Nicht die trotz ihrer Wehmut so schöne von den beiden Königskindern. Ach nein, die ist es nicht. Es ist die ganz nüchterne und platte vom Wurm, der aus der Erde herauskriecht und mit den bunten Vögeln fliegen möchte, statt dessen aber von den leichter beschwingten neuen Spielgefährten stückweise aufgezehrt wird. Ich bin vielleicht das geworden, was man einen Millionär nennt, aber ich bin es geworden, ohne mich innerlich darauf vorbereitet zu haben. Ich hab nicht um der Arbeit willen gearbeitet und um einem Werke meine ganze Seele zu geben. Was ich in die Hände nahm, das war mir gänzlich gleich. Ich habe nur danach gefragt, bringt es Geld ein und bringt es viel Geld ein. Und von diesem Gesichtspunkt aus habe ich geschafft und gescharrt und Zeitungsunternehmungen und Papierfabriken ins Leben gerufen und mich an allem beteiligt, was schnell und viel Geld abwarf. Dabei ist denn der innere Mensch zu kurz gekommen, wie es die Regel ist, denn man meint, der äußere Reichtum macht alles wett, und du kannst dir die Sterne dafür kaufen.

»Ich habe mir einen Stern gekauft, Fritz. Den schönsten und glitzerndsten, der mir vor Augen gekommen war. Der Gedanke, ob ich an Persönlichkeit so viel besäße, um eine schöne und verwöhnte Frau an mich zu fesseln, der Gedanke ist mir bei meinem vollen Geldbeutel gar nicht gekommen. Die schöne Frau aber machte es wie ich, nur umgekehrt, und kaufte sich für ihre Schönheit und ihre gesellschaftlichen Gaben das dazu Nötige: mein Geld. So wurde es eine bis ins Kleinste abgestimmte Ehe. Ich trage Wünsche vor, und meine Frau lächelt nur ein ganz klein wenig, und ich spüre wie ein Dorfjunge, daß ich Unsinniges wünsche. Ich rede vom Geschäft, meine Frau klingelt nach dem Wagen und fährt in ihre Theaterloge. Ich verdiene Tausende, und meine Frau gibt Zweitausende aus. Ich sitze daheim und vergehe vor Angst, ob meine Geschäfte nicht nachlassen, und meine Frau entzückt durch ihr Lachen einen ganzen Hofstaat in den Bädern. Zwar habe ich ihr Lachen noch nie gehört. Bei mir schaudert sie nur mit den Schultern, und ihre Verehrer würden sich wundern, welche Art Liebesworte sie zu verwenden vermag. Werde nicht ängstlich, Fritz. Sie ist in Venedig und nicht am Karlsplatz zu Düsseldorf. Und ich habe vor Sorgen und vor – Scham graue Haare und ein verschlissenes Gesicht bekommen. Fritz, unsere Jugend! Unsere himmelstürmenden Pläne! Weißt du noch, wie ich mich in die Brust warf? Genießen, genießen? Arbeiten, um genießen und schwelgen zu können? Nein, Fritz, so niederträchtig läßt sich die heilige Arbeit nun einmal nicht beleidigen. Und der fettgewordene Wurm, der mit den Vögeln um die Wette fliegen möchte, wird nun stückweise aufgezehrt.«

Fritz Stoltenkamp stieß seine Zigarre in den Aschenbecher und erhob sich. »Mensch, so schlag doch auf den Tisch!«

»Ausgezeichnet,« lächelte der graue Kleine trüb, »ausgezeichnet. Hast du schon einmal vor ›Sternen‹ auf den Tisch geschlagen? Sie blinzeln dich ein wenig erstaunt und schläfrig an und – lassen dich im Dunkeln allein.« Er rieb sich verlegen die Hände. »Nun ist es heraus, und es hat gut getan. Geändert hat es nichts. Ich bin und bleibe der glückliche Besitzer der schönsten Frau Düsseldorfs und des Rheines.«

»Ich wollte zu meinem Bruder Eberhard und seiner Frau,« sagte Fritz Stoltenkamp und griff nach seinem Hute. »Nur die Hand wollte ich dir drücken, und das ist geschehen. Nun muß ich schon wieder weiter.«

»Zu Eberhard willst du? Da wird sich Mathilde freuen.

Ja, siehst du, der Eberhard. Der hat auch eine schöne und glänzende Frau, aber er ist auch eine andere Natur als ich. Er ist doch immer von den alten Stoltenkamps, und es ist sonderbar, wie lange so was vorhält. Du triffst ihn jetzt draußen in der Fabrik. Ein Viertelstündchen von hier.«

Als sich Fritz Stoltenkamp abschiednehmend zur Tür wandte, fiel sein Blick auf ein großes Ölbildnis des Hausherrn in breitem, goldenem Rahmen, das in einer verdunkelten Ecke hing. Der Hausherr folgte dem Blick.

»Es ist von unserem Freunde Jan Kröger gemalt,« sagte er errötend, »als Hochzeitsgeschenk für meine Frau. Ich hätte mir damals schon sagen können, daß es von übler Vorbedeutung für mich war.«

»Inwiefern?«

»Es sollte am Vorabend abgeliefert werden, aber es kam nicht, und ich lief zu Kröger hin. Bild und Goldrahmen hatte ich bereits bezahlt. Und der Kröger empfängt mich und will sich vor Lachen ausschütten. ›Man hat dich gepfändet, Schlechtendahl. Bestell die Hochzeit ab. Du kannst nicht erscheinen!‹ – ›Nein, sage ich, an meinem Bildnis wird kein Mensch Anteil nehmen, und wäre es der Gerichtsbote‹ Und der Kroger brüllt: ›An deinem Bildnis nicht. Aber an dem gediegenen Goldrahmen! Der stach dem Kerl sofort in die Augen, kann ich dir sagen!‹ Was blieb mir weiter übrig? Ich mußte mit dem vergnügten Jan zur Gerichtsstube und den Pfändungsbetrag erlegen, damit ich nur mein Bild zum Abend bekam. Und der Kröger hat es doppelt bezahlt erhalten. Meine Frau aber meinte später, hier in der dunklen Ecke leuchte der Rahmen am schönsten, und das Bild störe nicht.« – –

Fritz Stoltenkamp hatte die Fabrik seines Bruders

303 aufgefunden. Ein dröhnendes Gehämmere tönte ihm vom Hofe entgegen, und diese taktfeste Hammermusik jagte ihm den letzten Gedanken an Schlechtendahls Glücksjagd aus dem Kopf.

»Ich bin's, Eberhard. Dein Bruder Fritz.«

Eberhard Stoltenkamp hatte beim Eintritt des Besuchers kaum von seiner Arbeit aufgeschaut. Er lag mit dem halben Körper über einem Zeichentisch und verfolgte mit dem Finger die Linien eines Planes. Jetzt schnellte er empor. Der Plan rollte sich zusammen und flog vom Tisch. Und Eberhards Arme lagen wie ein Schraubstock um die Schultern des Bruders.

»Fritze! Fritze! Altes Familienoberhaupt! Bekümmerst du dich auch mal wieder um die verirrten Schäflein?«

»War wohl nicht nötig, Eberhard. Wo so ein Hammergedröhn herrscht wie bei dir auf dem Hof, da können sich keine Schäflein verirren.«

»Glänzend herausgeredet, Fritz. Ja, der Diplomat, der lernt sich wohl, wenn man mit in- und ausländischen Regierungen verkehrt. Aber das tut nichts. Nachträgerisch bin ich Zeit meines Lebens nicht gewesen, und dir hatte ich doch zuletzt mein Glück zu verdanken, als du mich vor die Entscheidungsfrage stelltest.«

»Also glücklich bist du, Junge?«

»Wie am ersten Tage und gesteigert durch ein wohlklingendes Echo. Ja, schau dich hier nur um. Das ist eine Dampfkesselfabrik, die sich sehen lassen kann, mit den verschmitztesten Erfindungen. Die letzte Dampfkraft wird ausgenutzt bei sparsamstem Feuerungsverbrauch. Und wird von mir immer noch weiter verbessert, immer noch weiter. Sonst zaust mich die edle Ritterfrau Mechthildis an den Ohren und sagt: ›Pfui, Eberhard, schäme dich vor deinem Bruder Fritz!‹ Sie hat mich bös an die Arbeit herangekriegt. Aber es bekommt mir.«

»Kann ich deine Frau begrüßen, Eberhard?«

»Ob du kannst? Höre einmal, Fritz, mir scheint, es wird nachgerade Zeit, daß du mußt. Wohnst eine halbe Tagereise von hier und tust, als lebten wir in Australien. Du kannst doch nicht verlangen, daß Mathilde dir zum zweitenmal einen Antrittsbesuch macht.«

»Ist sie – ist sie sehr zornig auf mich?«

»Ach – daher der Besuch der Dampfkesselfabrik. Daher! Du hast dich wohl nicht ins Haus getraut? O nein, ich bleibe jetzt hübsch hier bei der Arbeit, und du suchst dir den Weg ganz allein. Du hast den ganzen Nachmittag vor dir. Bis ich zum Abend heimkehre, wird die Kopfwäsche dann wohl beim Händetrocknen angekommen sein.«

Fritz Stoltenkamp lachte und schüttelte dem Bruder die Hand. Und dann stand er vor einem vornehmen weißen Zause, das sich dicht beim Schlosse Jägerhof an den Hofgarten schmiegte, und trat ein und ließ sich bei der Schwägerin melden.

Frau Mathilde Stoltenkamp kam ihm rasch entgegen. Er hörte das leise Röckerauschen, bevor er sie sah. Und dann stand sie vor ihm mit ausgestreckten Händen, und der glockenförmige Reifrock ließ das schlanke Leibchen mit dem freien Halse wie einen Blumenkelch emporwachsen.

»Da bist du ja, Fritz.«

Es kam ihr gar nicht zum Bewußtsein, daß sie ihn ›du‹ nannte. Er legte seine Hände in die ihren und sagte: »Ja, da bin ich, Mathilde, und ich hoffe, du verzeihst mir.«

»Weil du nicht früher gekommen bist? Du wirst deinen Grund dafür gehabt haben, und wir wollen nicht davon sprechen, Fritz. Denn jetzt bist du ja hier, und der Anfang ist gemacht.«

»Ja, Mathilde, der Anfang ist gemacht. Ich komme soeben von Eberhard, und ich muß dir wirklich danken. Was hast du mit dem wilden Jungen angefangen?«

»Wild ist er immer noch,« und sie lachte ein leises Lachen. »Man kann aber die Kraft eines wilden Stromes verdoppeln, wenn man ihn eindämmt.«

»Du bist eine kluge Frau, Mathilde.«

Sie zog ihre Hände aus den seinen und wies auf einen Sessel. »Das sagtest du mir schon früher einmal, und du glaubst gewiß, tief in den Schatz deiner Artigkeiten damit zu greifen. Es liegt mir wirklich nichts daran, eine kluge Frau zu sein.«

»Es war in einem herzlicheren Sinne gemeint, Mathilde.«

»Das ist schön von dir. Und nun wollen wir fröhlich plaudern. Was macht das schöne Mütterlein daheim?«

»Es hat weißes Haar bekommen, aus Schreck, daß ihr großer Junge nun schon graues bekommt. Sonst aber ist sie wie früher.«

»Ich möchte sie mir wohl zum Vorbild nehmen,« sagte Mathilde Stoltenkamp ein wenig versonnen, »so schön ist sie. Du weißt, wie ich das meine. Da spielt die braune oder weiße Haarfarbe keine Rolle mehr. Und da du über dein etwas fahler gewordenes Haupthaar eine Schmeichelei zu hören wünschest, so kann ich dir versichern, daß dich die seltene Farbe ganz besonders kleidet.«

Fritz Stoltenkamp schüttelte den Kopf.

»Was helfen Schmeicheleien. Ich bin alt geworden und war wohl nie recht jung, und du bist jung geblieben, wie du warst, und die Jahre kommen nur zu dir, um sich an dir zu erfreuen. Nein, staune mich nicht so an. Ich bin ganz gewiß kein Dichter. Ich spreche nur aus, was ich sehe und empfinde. Und noch eins möchte ich sagen.«

»Noch eins –?«

»Es ist nur eine Wiederholung, Mathilde. Ich danke dir, daß du aus Eberhard einen Mann gemacht hast und einen glücklichen Mann. Wie stolz er auf sein Werk hinwies. Wie er bei der Stange blieb und nicht einmal die Gelegenheit wahrnahm, mit hierherzulaufen. Und doch so keck und siegesbewußt wie immer. Du kannst Wunder tun, Mathilde.«

Sie blickte an ihm vorüber auf irgendeinen unsichtbaren Punkt.

»Wunder? Und das verwundert dich? Müssen die Stoltenkampfrauen nicht alle Wunder tun? Das liegt an euch Stoltenkampmännern im Guten und im Wilden. Wir müssen euch und eure Art lieben. Wie auch immer.«

Sie wandte den Kopf nach dem Stubenmädchen, das eingetreten war. »Ja, Liese?«

»Der Kutscher läßt fragen, wie es mit den Pferden gehalten werden soll. Gesattelt wären sie.«

»Du wolltest ausreiten?« fragte Fritz Stoltenkamp. »Ich komme zum Abend wieder.«

»Der Kutscher begleitet mich täglich. Er kann heute absatteln. Oder – oder hättest du Lust?«

»Mit dir auszureiten? In den Frühlingsnachmittag hinein? Kann ich denn so, wie ich bin?«

»Die Herren reiten hier alle in Stegen und Zylinderhut. Sporen und Reitstock kannst du von Eberhard nehmen. Sagen Sie dem Kutscher Bescheid, Liese. Er darf zu Hause bleiben. Und du entschuldigst mich wenige Minuten, Fritz. Ich werfe nur schnell den Reitrock über und bringe dir Sporen und, Reitstock mit.«

Wie schlank sie zu Pferde saß in dem schmiegsamen Kleid. Größer erschien sie ihm, seit der Reifrock vertauscht war, und noch jünger und biegsamer. Sie ließen die Pferde im Schritt durch die grüngoldene Sonne des Hofgartens gehen und trabten an, als sie hinter dem alten Park des Schlosses Jägerhof das freie Feld gewannen. Kaum ein Wort wurde gesprochen. Sein Auge, das erst heimlich und sorglich Sitz und Zügelführung bei ihr gemustert hatte, war groß und klar geworden. Und nun nahmen die Gäule eine Strecke Wiese im Galopp, daß es eine Lust war.

Sie kann alles, was sie erfaßt, dachte Fritz Stoltenkamp. Sie sitzt zu Pferde, als wär sie's nie anders gewöhnt gewesen.

Ein paar Gehöfte flogen vorbei. In der Ferne tauchte ein Dorf auf. Sie kamen näher, und nun scholl ihnen schrille Orgelmusik und Paukenschlag entgegen. »Frühkirmes am Rhein,« lachte die Reiterin. »Da wird man jung!« Das Karussell drehte sich auf dem Anger, und der Mann am kreisenden Ring sang werbend sein rheinisch Kirmesliedchen zu den Reitern hinüber. Ihre Pferde fielen in Schritt. Die Reiter horchten auf. Erst lachend wie die Kinder und dann stiller und sinnend:

»Ihr Häre un ihr Junges,
Ihr kommt von fern un nah,
Dä Mann mi'm Karussellche,
Pitt Jüppche, is schon da.
Pitt Jüppche dreht dat Rädche,
Singe Fru, die schlägt die Trumm,
Die Orgel spielt Janettche
Un der Döres die Lafumm ...«

Und aus der Ferne tönte es noch hinter den Reitern drein:

» Schimmela, Schimmela, hopsassa,
Schimmela, Schimmela: Bumm!«

Fritz Stoltenkamp gab seinem Gaul Schenkeldruck und verhielt ihn auf der Stelle wieder. Dies Lied – dies törichte Kirmesliedchen – und in Witten war's gewesen, vor vielen, vielen Jahren, in Witten auf dem Pferdemarkt, und er war von seiner ersten Kundenreise gekommen, zu Fuß, von der Enneper Landstraße, die Weidmannstasche mit den Stahlproben über die Schulter. Und die da neben ihm ritt, hatte auf dem Schimmela gesessen, dem hölzernen Schimmelpferd, in einem luftigen Blumenkleid und einem breitrandigen Bänderhut. Und er hatte sie auf dem Markte stehen lassen und war mit der nächsten Post heimgefahren.

»Fritz,« sagte Mathilde Stoltenkamp neben ihm, »nun müssen wir doch davon sprechen.«

Und er erwiderte: »Ich habe mich damals wie ein Tor betragen und nicht nur damals.«

Ihre Pferde gingen im Schritt nebeneinander her. Die Orgel war hinter ihnen verbraust und das Feld ganz still.

»Ich rede gerade so offen zu dir, Fritz,« sagte die Frau an seiner Seite und blickte nach der sich neigenden Sonne. »Du mußt es nicht als unweiblich nehmen, aber Feigheit – nein, Feigheit habe ich nie gekannt. Seitdem ich dich kennen lernte, hab ich dich sehr bewundert. Dich und deinen Ringkampf.«

»Dein Bruder hat auch gekämpft, Mathilde, und nicht weniger als ich.«

»Ich hatte immer scharfe Augen, Fritz. Mein Bruder kämpfte sich hoch, um zu Geld zu gelangen für sich und für mich. Du nahmst den Kampf einfach als eine Pflicht. Aber als eine eiserne, für die ein Mannesleben nicht zu schade war. Du warst der Vornehmere. Nicht nur im Vergleich zu dem einen. Im Vergleich zu allen. Und nun sollst du mich ganz ruhig anhören. Ich habe dich als Kind bewundert und als junges Mädchen geliebt, und ich liebe dich immer noch. Bleib ganz ruhig, Fritz. Du brauchst nicht zu erschrecken. Du meinst: Eberhard. Und ich meine dasselbe. Ich bin so glücklich mit ihm geworden, wie ich es mir gedacht hatte, und seine Wildheit ist mir eine Freude. Er ist mir immer wie ein großer, wilder Junge, dem man alles und alles zuliebe tun muß. Und nun muß ich dich etwas fragen. Glaubst du nicht, Fritz, daß deine junge Mutter nach deines Vaters Tode noch Anträge erhalten hätte? Du nickst. Und daß vielleicht auch ihr Gefühl einmal emporgelodert ist? Und doch war ihr Herz zu dir, zu ihrem großen Jungen, stärker, und sie blieb dir treu. So ist es auch mit mir, Fritz. Ich bleib meinem großen Jungen Eberhard treu, auch wenn du jetzt weißt, wie gern ich dich hatte und dich heut noch habe. Ich bin eine Stoltenkampfrau geworden, und die haben sich in der Gewalt. Weshalb ich dir das alles gesagt habe?«

»Ja,« sagte Fritz Stoltenkamp und sah sie ernst an.

»Weil du mir nicht mehr wie bisher aus dem Wege gehen sollst. Weil du fröhlich werden sollst, wenn du bei mir bist, und weil du kein beschwertes Gewissen mehr haben sollst, wie ich es nun auch nicht mehr habe. So, und nun gib mir die Hand. Nur das Unausgesprochene ängstigt. Wir sind jetzt freie Menschen, stolze Menschen. Und nun Galopp! Wir müssen heim!«

»Schwägerin,« rief Fritz Stoltenkamp hinter ihr drein und brachte sein Pferd heran. In ihm war lauter Frühling und lachende Männlichkeit. »Schwägerin, das müssen wir Eberhard sagen.«

»Was er dir antworten wird, meinst du?« Sie jagten Seite an Seite. »Das ist eine alte Geschichte,« wird er dir antworten. »Ich bin ein verwechselter Hochzeiter. Aber nun halt ich fest wie ein Stoltenkamp.« –

Zu dritt saßen sie bei Tisch.

»Habt ihr euch ausgesprochen?« fragte Eberhard und zwinkerte dem Bruder zu. »Ist sie höllisch scharf ins Zeug gegangen? Hast du Farbe bekennen müssen?«

»Ja, Eberhard,« sagte Fritz Stoltenkamp, »und ich bin ganz jung dabei geworden. Laßt uns mal auf die Mutter anstoßen. Von ihr haben wir doch alle viel gelernt.« – –

*

 


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