Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Heute abend,« sagte Fritz Stoltenkamp am nächsten Tage zu seiner Mutter, »muß ich dir die Buchführung allein überlassen. Max Schlechtendahl will nach Feierabend ein Stündchen bei mir sein. Es geht doch?«
»Es geht alles an der Schnur,« beruhigte Frau Margarete. »Wenn man täglich das, was der Tag bringt, aufarbeitet und keine Reste läßt, kommt nichts überraschend.«
Von der Seite beobachtete sie ihren Sohn. Ihr kam sein Gesicht zu schmal und seine Augen zu ernst vor.
»Du bist gestern abend nicht mit deinen Kameraden gegangen. Das hättest du tun sollen, Fritz. Arbeit braucht Ausspannung, und Jugend braucht Jugend. Das ist wie der Wein im Faß, der immer wieder bis zum Spund aufgefüllt werden muß, damit er frisch bleibt und sich nicht selber verzehrt.«
»Ich hab dich, Mutter. Das ist mehr.«
Ein Erröten stieg in Frau Margaretes Wangen. Aber sie schämte sich der mädchenhaften Wallung nicht. Sie tat ihr wohl.
»Junge,« sagte sie, »glaubst du denn, ich hätte in der Jugend nicht auch gelacht und gesungen und mich meines Lebens gefreut? Seh ich aus wie eine vergrämte Jungfer? Laß gut sein,« wehrte sie lachend ab, als der Sohn Miene machte, heftig zu widersprechen. »Also heute abend kommt dein Freund, der kleine Schlechtendahl. Da werdet ihr wohl Nachfeier halten.«
»Nachfeier nicht,« meinte Fritz Stoltenkamp und strich sich nachdenklich das Haar aus der Stirn, »aber wenn's kommt, wie ich es mir denke, könnte es wohl eine Art Vorfeier werden.«
Frau Margarete verstand. Weiter durfte sie heute nicht eingreifen. »Nun, wenn's nur irgendeine Art Feier wird.« Und sie bastelte an ihrer Hausschürze, bis sie fest über dem schwarzen Kleidchen saß, nickte dem Sohn zum Abschied zu und begann mit ihren feinen Händen im Zause zu putzen und zu reiben, als müsse es täglich und stündlich für Lebensfeste vorbereitet sein.
Den ganzen Tag sann Fritz Stoltenkamp über seine Arbeit in die Weite. Diese Weite mußte erschlossen werden, das spürte er, sie mußte einbezogen werden in seinen Arbeitsring, oder der enge Ring schnürte den Kreislauf des Blutes ab. Und da die Weite nicht zu ihm kam, weil sie nicht von ihm wußte, mußte er zu der Weite kommen und ihr sagen: Hier bin ich, und wir warten aufeinander, weil wir einander brauchen. Daß sie ihn aber brauchte, das mußte er ihr zeigen und beweisen. Vom Kleinsten zum Größeren. Und dann weiter, weiter. Wenn man dreimal drei nahm, gewann man neun. Vervielfältigte man dann aber neun um die eigene Zahl, so ergab sich schon einundachtzig. Auch der Punkt des Archimedes war klein.
Das alles schoß ihm durch den Kopf, gewann Farbe und Form, ordnete sich ein und machte ihn fröhlich, während er den Hammer schwang oder den Schmelztiegel beschickte. Aber seine Fröhlichkeit war eine gesammelte, und er wunderte sich über den Schmelzer Frowein, dem keine Arbeit zuviel, keine Arbeit unbekannt war, der seine Augen auf der eigenen Arbeit und der der Kameraden hatte und doch immer noch Zeit, Lust und Gedanken übrig behielt, zu singen und zu pfeifen.
»Wie macht Ihr das, Frowein? Ich brächt's nicht fertig.«
Der Krausköpfige lachte. Er war ein hübscher, sehniger Bursch mit einem Bärtchen auf der Oberlippe, und die Mädchen liefen ihm nach.
»Das ist kein Wunder, Herr Stoltenkamp. Sie haben die Verantwortung. Ich nicht. Wenn ich meine Pflicht tue, streich ich pünktlich meinen Lohn ein. Und was Sie über Ihre Pflicht hinaus mit Sorgen ausfüllen müssen, füll ich mit Pfeifen aus.«
»Da möchtet Ihr gewiß nicht mit mir tauschen, Frowein?«
»Danach wird man wohl nicht gefragt, Herr Stoltenkamp. Wird man aber danach gefragt, ob's über das Pfeifen hinausreicht, so beißt man sich eben auf die Zunge und pfeift innerlich. Entschuldigen Herr Stoltenkamp, der Tiegel muß raus.«
Auch über diese Unterhaltung dachte Fritz Stoltenkamp im Laufe des Tages nach. Der Mann war zwanzig und er sechzehn. Und doch kam er sich alt vor gegen den zupackenden, sehnigen Arbeiter. »Sie haben die Verantwortung. Ich nicht,« hatte der Frowein gesagt. Das traf den Kern. Und damit mußte er sich nicht abfinden, das mußte sein Stolz und Lebensinhalt sein und bleiben. Pfeifen ging ja auch innerlich. Wenn einmal Gelegenheit dazu war. Ja – wenn einmal!
Er hatte die Kundenliste im Kopf, als er auf seiner Dachkammer saß und den Freund erwartete. Es war nicht schwer, die paar Namen und Orte im Kopfe zu behalten. Aber er hatte ein Notizbuch und einen Bleistift neben sich gelegt.
Max Schlechtendahl kam. Er kam in seiner dünnen, abgescheuerten Ladenjoppe, und seine übernächtigen Augen blickten aus dem grauen Zwergengesicht forschend auf den Tisch. Dann setzte er sich stumm.
»Fehlt was. Max?«
»Ich wußte nicht, daß du schon gegessen hattest. Aber es macht nichts aus.«
»Was? Du hast noch nicht gegessen? Ich glaubte, das kam nur bei mir mal vor. Warte, ich sag's eben der Mutter.«
Nach wenigen Minuten kam er mit einigen faustdicken Butterbroten und einer Tasse Kaffee zurück. »Die Mutter meint, bei der Dicke des Butterbrots merkte man die Dünne des Schinkens nicht so arg,« berichtete er vergnügt wie ein Junge. »Na, nu hau ein. Arme Leut machen keine Umständ miteinander.«
Der Buchhändlerlehrling aß und trank, bis sein graues Gesicht sich rötete. Dann schob er Teller und Tasse beiseite und sagte: »Nun kann's losgehen. Wenn ich dich gestern richtig verstanden habe, möchtest du einen Vortrag über die Art und Weise meines Geschäftsbetriebes.«
»Du gehst also wirklich auf den Handel? Und auf eigene Rechnung?«
»Ich habe nächstes Jahr ausgelernt. Dann sitze ich als Gehilfe mit acht Taler Monatsgehalt, freier Wohnung in einem Verschlag und freier Beköstigung neben der Küche im Zimmerwinkel. Tritt dann erst die Gewöhnung dazu, kann man für den Rest des Lebens sein Tagebuch zuklappen und sich für den Altersfall mit dem Armenvorsteher guthalten. Wer sich nicht schon als Lehrling seine Ziele steckt, wird nicht Meister.« Er trommelte auf der Tischplatte und kniff die entzündeten Augen ein.
»Glaubst du nicht, daß das Leben so schön und reich ist, daß man sein ganzes Ich daran wagen kann, an all dem Reichtum und der Schönheit teilzunehmen? Irgend einmal. Aber nicht zu spät. Damit einem die Organe zum Genießen nicht fehlen. Das Hab ich mir vom ersten Tag meiner armseligen Lehrzeit an als Ziel gesetzt, und meine Schwester hat mich darin bestärkt.«
»Deine Schwester?«
»Meine Schwester Mathilde. Kennst du sie nicht? Sie ist vierzehn Jahre alt und mit deiner Schwester Amalie auf derselben Klasse. Das Hab nur ich ihr in den letzten Jahren ermöglichen können, durch meinen Hausiererhandel, wenn du so willst.«
»Erzähl mir davon,« drängte Fritz Stoltenkamp. »Wie hast du deine Kundschaft gefunden?«
»Zuerst hab ich meine Mineraliensammlung verkauft. Du weißt, ich habe nie etwas liegen lassen. Und für die paar Taler habe ich vom Lager meines Buchhändlers Schreibpapier, Bleistifte, Schreibfedern, Tinte, und was so dazu gehört, entnommen. Ich hab gesagt, die zu Hause wollten damit handeln. Da kriegt ich es zum Wiederverkäuferpreis. Und das hab ich in einem bequemen Kasten alles schön herausgeputzt und bin damit an meinen freien Sonntagen zunächst auf die Dörfer gezogen. Das war eine harte Lehrzeit, denn die Bauern wollten die Schreibfedern immer erst probieren, bevor sie sie kauften, und ich konnte sie vor dem Dorf immer erst wieder reinigen, damit sie wieder wie neu wurden. Das Gebiet war denn auch schnell abgegrast, denn der Bauer schreibt seine paar Briefe am liebsten auf leeren Kalenderseiten. Ich grübelte nach. Dabei wurde ich nicht reich, und die Schuhsohlen wollten auch bezahlt sein. Die großen Werke hier im Kohlen- und Eisengebiet kamen für mich nicht in Betracht. Die bezogen vom Kaufmann selber. Aber wo waren denn all die kleinen Betriebe, die das Eisen verhämmerten und die Kohle verstochten? die ihre kleinen Gewerke zu betreiben hatten wie die großen und Geschäftsbücher führen mußten und Schreibarbeit zu erledigen hatten, für die Kalenderblätter nicht paßten? Die saßen in den kleinen Seitentälern der Ruhrberge, an der Volme und der Emscher, an der Lenne und auf der Enneper Landstraße bis zur Wupper, als Eisenrecker und Werkzeugschmiede, als Knopfstanzer, Gürtler und Harnischfeger, auf einsamen Kotten, wo Wasserkraft war und ein Kohlenmeiler in der Nähe. Leute, denen es lästig ist, um jeden Bleistift in die Stadt zu schicken, und die nicht lange feilschen, wenn sie wissen, man bedient sie gut. Es ist eine rauhe Gesellschaft, Fritz, das bringt die Beschäftigung mit dem Eisen wohl so mit sich, und du hörst zum Beispiel auf der Enneper Landstraße mehr Flüche, als alle Päpste des Mittelalters zu verschleudern hatten. Aber daraus darfst du dir nichts machen.«
»Und da bist du ins Geschäft gekommen?«
»Zuerst haben sie mit dem Hammer nach mir geschmissen. Da bin ich zu den Frauen gegangen. Und dann haben sie die Frauen angebrüllt: ,Bist du der Herr oder ich?' Und dann haben sie über den Kasten hingeguckt und gefragt: ›Wat kost der Kram?‹«
»Ich weiß nicht,« sagte Fritz Stoltenkamp zögernd, »diese Art Geschäftsverkehr würde mir wohl nicht liegen.«
Und der Kleine bekannte ohne Scheu: »Das bieten sie mir auch nur, weil ich nicht zum Eisenfach gehöre, sondern zum Papierfach. Und was nicht zum Eisenfach gehört, macht ihnen nicht den geringsten Eindruck. Aber ich kenn mich doch aus in Eisen und Kohle. Das wird einem bei uns im Land der Gruben und Zechen doch mit der Muttermilch eingeflößt, und wenn man mit Heringen handelt. Davon hab ich denn keinen schlechten Gebrauch gemacht und mit meiner Wissenschaft nur so um mich geworfen. Das half. Erst guckten sie sich ganz verdutzt an. Dann lachten sie, hauten mich über die Schulter und schrien sich zu: ›Der Zwerg tut so, als ob er wahrhaftig was von der Sache verstünde.‹ Aber von Stund an faßten sie Vertrauen, kauften, was sie brauchten, und ließen sich auch allmählich zu anderen Käufen drängen, beispielsweise zu Abenteuerromanen und Reisebeschreibungen, die ich nach und nach in meinen Handel aufnahm. Sie betrachteten mich sozusagen als ein Zwischenglied zwischen dem Eisenfach und dem übrigen Leben.«
Er lachte ein wenig und rieb sich die schlafentwöhnten Augen.
»Und bei dem geringen Verdienst blüht dein Geschäft?« fragte Fritz Stoltenkamp nachdenklich. »Denn dein Lehrherr gibt die Sachen doch auch nicht zu Einkaufspreisen her.«
»Ich bin Ostern drei Jahre in der Lehre. Da weiß ich doch wohl Bescheid.«
»Ah – du beziehst nicht mehr von deinem Lehrherrn?«
»Ich beziehe direkt von den Quellen. Gegen Voreinsendung des Betrages. Das kann ich mir heute leisten. Und so bekomme ich das meiste, was ich brauche, billiger als mein Lehrherr, der nur zur Messe seine Rechnungen begleicht.«
»Besucht dich denn nie ein Reisender? Da könntest du doch deinem Lehrherrn gegenüber in eine arg schiefe Stellung kommen.«
Max Schlechtendahl riß verwundert die Augen auf. »Schiefe Stellung? Meinem Lehrherrn gegenüber? Wieso denn das? Ich bestehl und betrüg ihn doch nicht? Oder soll ich die Hände in den Schoß legen und die Daumen ineinanderdrehen, nur weil der Herr Prinzipal das so vormacht? Was geht mich denn überhaupt mein Lehrherr an? Nichts, aber auch gar nichts, wenn die Buchhandlung geschlossen ist. Und du glaubst doch etwa nicht, daß ich ihn etwas angehe? Noch nicht einmal in den zweieinhalb Jahren hat er mich gefragt: ›Geht's leidlich, Schlechtendahl? Sind Sie auch warm? Sind Sie auch satt? Tun Sie auch was gegen Ihren Husten?‹ Aber angefahren hat er mich wohl täglich: ›Sie! Versparen Sie sich das auf den Abend, Sie husten mir noch die ganze Kundschaft zur Tür hinaus!‹«
Fritz Stoltenkamp schüttelte den Kopf. »Du übertreibst wohl. So etwas gibt es doch wohl nicht.«
»Du meinst das, weil es bei euch nur zwei Dinge: den Herrn und seine Leute auf der einen und die Firma auf der anderen Seite gibt. Da gilt der Firma gegenüber der Herr so viel wie der Arbeiter und der Arbeiter wie der Herr. Ach, lieber Fritz, es denken nicht alle Herren wie die Stoltenkamps und daher auch nicht alle Angestellten wie die Stoltenkampleute. Und deshalb denke ich auch zuerst an mich und noch einmal an mich. Denn ich will heraus aus dem Hungerleben. Und der Rothschild in Frankfurt hat auch mit einem Handel begonnen, und noch dazu in alten Hasenfellen. Und meine Schwester – – ja, das wollte ich ja sagen, die Bestellungen und die Waren lasse ich alle an meine Schwester schicken in die Wohnung der Eltern. Kommt dann wirklich mal ein Reisender, so heißt es ›nicht zu Hause‹ oder ›verreist‹, und so wird das letzte halbe Jahr der Lehrzeit auch noch herumgehen. Und dann, Fritz Stoltenkamp, geht's mit vollen Segeln in den Großbetrieb hinein! Wenn ich daran denke, daß ich dann die ganze Woche – die ganze Woche für mich habe und nicht nur die Nächte! Diese Nächte, die ich an meiner Bildung gearbeitet habe und der Fortbildung auf allen Gebieten des kaufmännischen Wissens. In den Abenteuerromanen, die ich meiner Kundschaft auf der Enneper Landstraße verkaufe, würde es heißen: ›Das Leben wird viel an ihm gutzumachen haben‹; Ich aber werde es mir lieber vom Leben nehmen!«
Der kleine Körper hatte sich gestrafft. Die graue Gesichtsfarbe war einem hellen Rot gewichen, und die übernächtigen Augen sicherten scharf wie Falkenaugen.
»Von keiner Gnade will ich abhängen. Keinem will ich etwas zu danken haben. Nur meiner Arbeit. Nur mir selber.«
»Dann denken wir eins,« sagte Fritz Stoltenkamp ruhig. »Wenn auch auf verschiedenen Wegen.«
Und der erregte Freund kam zu sich und antwortete stiller: »Ich habe eine Schwester, die ich liebe, und sie ist jünger als ich. Und du hast eine Mutter, die du liebst, aber sie ist dir voraus. Und darin liegt wohl auch die Verschiedenheit unserer Wege. Deiner Mutter eilt es nicht um ein Jahr oder zwei. Um meine Schwester aber eilt es, oder sie kann sich trotz ihrer guten Schule einen Dienst suchen als Hausmädchen oder, wenn's hoch kommt, als Schneidermamsell. Deshalb muß ich rücksichtsloser voran als du.«
Fritz Stoltenkamp erwiderte nichts. Er fand sich in der Welt des Freundes nicht zurecht. Ein Angestellter, der hinter dem Rücken des Herrn einen Wettbetrieb unterhielt – und war es auch nicht geradehin zur Schädigung seines Herrn: die ganze Kraft des Angestellten gehörte dem Hause, dem er sich verpflichtet hatte. Das Haus aber – und das mußte seine vornehmste Sorge sein – hatte einen jeden Angestellten so zu stellen, daß der Wert seiner Arbeit in der Bemessung des Lohnes unbedingt seinen Ausdruck fand. Das war Stoltenkampsche Losung gewesen, und das sollte sie bleiben. Dabei fand jeder billig Denkende seine Rechnung.
Er nahm sein Notizbuch und griff nach dem Bleistift.
»Wenn du nun so gut sein wolltest und mir mal die Namen und Ortsbezeichnungen der Kundschaft angeben, die für mich in Betracht kämen, wäre das sehr freundlich. Du kennst dich ja in beiden Lagern aus. Also beginnen wir mal mit der Enneper Landstraße. Die Grobheit schreckt mich nicht, und das Fluchen lernt sich.«
Sofort war der Kleine bei der Sache. Er nannte Weg und Steg, schilderte die Lage der verstecktesten Hämmer und Kotten, wußte von jedem mit kurzen Worten Betriebsart und Warengattung anzugeben und die Schwächen und Stärken des Eigentümers. Er wanderte mit dem Freund die ganze betriebsame Gegend ab, die sich vom Weichbild der schmiedereichen Stadt Hagen durch die Ortschaften Haspe, Vörde, Gevelsberg bis zu den eisenhaltigen Quellen des Städtchens Schwelm und zum Weichbild der gewerbereichen Stadt Barmen an der Wupper zieht. Er ließ alles Unwesentliche beiseite. Er zeichnete in Worten klipp und klar eine Aufmarschkarte.
Fritz Stoltenkamp staunte, aber er äußerte sein Staunen nicht. Er war viel zu sehr Sohn seiner Heimat, um sich in Geschäftsdingen nicht völlig in der Hand zu haben. In diesem Punkt verstanden sich die beiden verschiedenartigen Freunde ohne weiteres.
»Ich denke, Fritz, das genügt für heute,« sagte der Buchhändlerlehrling, »sonst wirfst du mir die Angaben noch durcheinander. Ein zweites Mal nehmen wir die Leute an der Lenne vor, ein drittes Mal die an der Volme und der Emscher. Und bis zur Lippe können wir uns ausdehnen und bis Zum Niederrhein. Mein Gott, wie reich ist das Land.«
Wieder hatte sich sein Gesicht gerötet. Er strich mit der Hand durch die Luft, als strich er das alles in seine Tasche.
Und Fritz Stoltenkamp dachte: So weit können wir uns ausdehnen? Das soll doch erst der Anfang sein, das Sprungbrett für meinen Gußstahl. Für den Gußstahl, der die Welt beherrschen und umwandeln wird. Für den deutschen Stahl! Und auch seine Wangen brannten, als er sein Notizbuch schloß und die Taschenuhr zog.
»Mitternacht vorüber. Morgen müssen wir beide früh ins Geschirr. Hab Dank, Max, und komm gut heim.«
»Wann willst du die Fahrt antreten, Fritz?«
»Diese Woche noch. Ich hab keine Zeit zu verlieren. Sobald ich meine Muster zusammengestellt habe, geht's los auf die Wanderschaft.«
»Wenn du bis Sonntag früh wartest, bring ich dich auf den Weg. Wir haben ein Stück gemeinsam. Die Post kann dir zunächst nichts nützen. Wir kürzen ab, quer über die Ruhr, die Berge entlang und bei Volmarstein hinüber. Vor Tag und Tau sind wir unterwegs.«
»Gut. Sagen wir Sonntag früh um vier. Ich berechne eine Woche für die Reise.«
»Hätt ich eine Woche, wollt ich halb Rheinland und Westfalen erobern. Am Abend muß ich zurück sein.«
Fritz Stoltenkamp brachte den Freund über den Hof bis an den Weg. In der Nacht sah er ihn verschwinden. Mit hochgezogenen Schultern wie einen gedrückten Buchhändlerlehrling. Und als er sich wandte und sah, daß das Haus im Dunkel lag von der Schlafkammer der Mutter an bis zu den Dachstuben der Geschwister, ging auch er zu Bett wie ein müde gewordener Junge.– –
Die Mutter hatte den Plan gutgeheißen. Was ihr Großer vorschlug, waren keine Traumgebilde und Hirngespinste, das hatte irdisches Knochengerüst und stand mit beiden Beinen auf der Erde. »Du wirst diese Abende nun wohl die Buchführung allein machen müssen,« meinte sie, »denn ich werde deine Kleider nachzusehen und dir auch noch Wäsche zu nähen haben. Der Teilhaber der Firma Friedrich Stoltenkamp darf wohl zu Fuß kommen, aber sonst – untadelhaft.«
»Ja, Mutter, aber du mußt bei mir sitzen.«
»Du Schürzenkind,« scherzte Frau Margarete und fuhr ihrem ernsten Jungen durch das dicke, aschblonde Haar.
Fritz Stoltenkamp ging hinüber zum Schmelzbau und ritt hinaus zur Mühle. Wie alltäglich. Und Tag um Tag. Nur noch gewissenhafter vollführte er sein Tagewerk, und noch weniger Freizeit gönnte er sich als sonst. In den Stunden, in denen für seine Leute die Arbeit ruhte, wählte er Stahlproben in Stangen von verschiedenen Dicken, vorgearbeitete Platten und Muster fertiger Werkzeuge, alles sorgsam geordnet nach dem Bedarf, den die Leute von der Enneper Landstraße haben mochten. Nichts Überflüssiges. Aber auch nichts, was der Zufall hatte besonders gut geraten lassen. Er wollte jederzeit in der Lage sein, nach den vorgelegten Proben zu liefern. Kein Stück durfte fehlgehen. Sein Stahl mußte unangreifbar sein.
Sein Stahl. Bis jetzt war es seines Vaters Stahl gewesen. Nun wartete der Stahl auf ihn. Und so sollte es sein. Jeder in der Reihe, die da folgen würde, sollte ihn so hegen und pflegen, daß er ihn als seinen Stahl weitergeben könnte. Dann rief er sich den Frowein heran und ließ ihn ein paar Tage nicht von der Seite. Auch mit zur Mühle mußte er hinaus und unter den Augen seines jungen Herrn den Reckhammer tanzen lassen und am Amboß stehen. Und der Frowein bewährte sich, wo er auch hingestellt wurde.
»Ihr sollt nun mal ausprobieren, Frowein, wie es mit der Verantwortung geht und dem Pfeifen. Ich will eine Woche in die Kundschaft.«
»Herr Stoltenkamp,« sagte der Krausköpfige und lachte, »Kunden schaffen ist schwerer, als Ware schaffen. Da hab ich von uns beiden doch wieder das leichtere Teil erwischt, und es kann vorderhand beim Pfeifen bleiben.«
Abends aber saß Fritz Stoltenkamp am Arbeitstisch der Mutter gegenüber. Aus der Wohnküche klang gedämpft und gleichförmig die Stimme Eberhards herüber, der seine Aufgaben für die Schule lernte. Er war von schneller Auffassungsfähigkeit und einer Begabung, die ihn spielend durch die Schule trug. Dadurch aber kam auch etwas Schnelles und Spielerisches in alles, was er vornahm. Das Blut der Großmutter fehlte in der sonst so glücklichen Mischung von Vaters und Mutters Blut. Amalie, die Schwester, wirtschaftete in der Küche neben ihm, ohne sonderliche Rücksichten zu nehmen. Sie war klug und pflichtgetreu, doch ihr fehlte der Liebreiz und die Lebensfroheit, ohne daß sie es bemerkte.
Fritz Stoltenkamps Feder kratzte über das Papier der Geschäftsbücher. Frau Margaretes Nadel flog durch das Leinen und stichelte ohne Unterlaß. Und doch wußte jeder, daß er nur aufzuschauen brauchte, um dem Blick des anderen zu begegnen. Erst geschah es lächelnd. Und dann wurde es der Blick der schönen stillen Feierstunde. Abend für Abend saßen sie so. Glücklich, für einander schaffen zu können. Und für das gemeinsame Werk.
Einmal fragte Fritz Stoltenkamp die Schwester: »Kennst du Mathilde Schlechtendahl? Sie ist deine Mitschülerin, wie ich höre.«
Amalie krauste die Nase.
»Sie ist ein sehr schönes Mädchen und sehr klug. Aber ich mag sie nicht.«
»Doch nicht, weil sie von geringen Leuten ist? Ihr Bruder ist mein Freund.«
»O nein. Nicht weil sie von geringen Leuten ist, sondern weil sie sich an uns von altem Namen so heranwirft.«
Fritz Stoltenkamp lachte. Heranwachsende Mädchen hielten doch immer mehr auf Namen und Herkunft als heranwachsende Männer. Sie konnten es umkleiden, wie sie wollten. Bei ihnen entschied die Geburt, bei den Männern die Lebensleistung. Und er kam sich seiner Schwester sehr überlegen vor. –
Es war kaum vier Uhr morgens, als die beiden Freunde in den noch schlummernden Sonntagmorgen hineinmarschierten. Die erste keusche Sonnenhelle spann über dem Land, das so unhörbar atmete, als wäre der aufsteigende Feiertag nur ein Traum in seinem Werktagsleben, den man nicht verjagen dürfe. Das Schweigen in Gruben, Eisenhütten und Hammerwerken legte sich fremdartig auf die Sinne und zwang das Gemüt, eine schweigende Einkehr zu halten.
Stumm marschierten die Freunde eine Strecke Wegs durch die Felder. Fritz Stoltenkamp trug eine breite lederne Tasche wie eine Jagdtasche umgeschnallt, in der seine Stahl- und Werkzeugproben in Futteralen staken. Der Buchhändlerlehrling hielt einen schmalen, flachen Kasten in der Hand, den er an einem gewirkten Gurt auf den Rücken nehmen konnte wie einen Tornister. Seit er bei seiner Kundschaft in Ansehen stand, genügte es, Muster mitzuführen statt der schweren Warenauslage. Mit ausgreifenden Schritten ging es eine gute Stunde gen Osten, um die großen Flußkrümmungen zu meiden, und dann in einem scharfen Winkel gen Süden zur Ruhr hinab. Ein paar Glocken riefen durch die Morgenstille. Andere gaben Antwort. Und die Feierklänge stiegen aus der Fülle der Ortschaften.
»Leben, Leben,« murmelte der junge Buchhändler, und Ohr und Augen berauschten sich, »dich will ich gewinnen.«
»Ich hör nur das Leben unter der Erde,« sagte Fritz Stoltenkamp, und sein Schritt blieb gleichmäßig. »Das Leben, das aufgeweckt werden will für die Hunderttausende. In jedem Fußbreit Boden unter uns liegt es und wartet. Die Kohle, das Eisenerz, das Kupfer, und will lebendige Arbeit werden. Arbeit für alle. Lohn für alle.«
»Ach, Fritz, das liegt seit Jahrtausenden und Jahrtausenden an der Ruhr, und es kamen nur die kleinen Propheten und kein Messias. In den Stiftungsbriefen von Essen und den Urkunden von Dortmund wird die Steinkohle schon im vierzehnten Jahrhundert erwähnt, und zu Werden und Kettwig wurde sie schon zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts auf der Ruhr verfrachtet und in Karren bis tief ins bergische Land gebracht. Eisen und Metalle aber grub man hier nicht nur schon im Mittelalter, sondern in der ältesten Heidenzeit, und die alten westfälischen Sagen erzählen dir viel von Gold- und Silberbergen. Wenn du durch die Wälder läufst, triffst du auf riesige Schlackenhaufen, die schon auf den Bergbau der alten Germanen und ihrer Fronherren, der Römer, schließen lassen, ja sogar weiter und immer weiter noch zurück bis auf die keltischen Ureinwohner. Und unser bestes märkisches Stabeisen, der Osemund, stand schon im vierzehnten Jahrhundert dem schwedischen gleich. Arbeit, sagst du, Lohn für alle. Ich meine, dafür wäre Zeit genug gewesen.«
»Die Zeit muß reifen,« beharrte Fritz Stoltenkamp. »Wie das Eisen und die Kohle in der Erde. Und wie eine reife Fruchtkapsel springt, berstet die Erde und gibt ihren Segen her für den, der die Arme recken will. Ich hör schon das Krachen und Knattern im ganzen rheinischwestfälischen Land. Das ist Männermusik.«
»Die Engländer werden euch die Noten unterlegen wie immer. Was aus der deutschen Heimat kommt, taugt nicht. Das ist deutsche Art von alters her, Fritz. Im Jahre 1626 wurde den Aachenern verboten, ihre Ware anders als unter deutschem Namen herausgehen zu lassen. Und wie die Aachener machten es die anderen.«
»Du bist sehr belesen,« sagte Fritz Stoltenkamp. »Schade um die verlorene Zeit, denn du wirst umlernen müssen, so sicher, wie wir hier in die Sonne hineinlaufen. Und daran soll, so Gott will, der deutsche Stahl seinen Anteil haben.«
»Der deutsche Stahl? Dein Gußstahl? Du weißt so gut wie ich, daß die deutschen Werkzeugfabrikanten ihren Waren den englischen Stempel aufdrücken, um ihnen erhöhtes Ansehen zu geben. Ach Gott ja, wo ist Deutschland?«
Und Fritz Stoltenkamp antwortete: »Deutschland wird dort sein, wo sein Stahl ist, und sein Stahl wird dort sein, wo Deutschland ist.«
»Das sind Runenworte, mein lieber Fritz. Ich höre die Veleda der alten Germanen durch die westfälischen Wälder murmeln.«
»Hör lieber auf einen lebendigen Mann als auf ein totes Weib. Ich meine klipp und klar: unser deutscher Stahl muß und wird durch unsere Arbeit so sehr an Güte zunehmen, daß das englische Warenzeichen nur noch als Merkmal für geringere Güte zu gelten hat, und Deutschland wird groß und mächtig werden, wenn es sich auf die Erstarkung seines Wirtschaftslebens besinnt und dadurch seine Mannbarkeit in allen Knochen spürt.«
»Du sprichst,« spottete der Freund, »als hättest du einer der Fürsorgereden Karl Schultes beigewohnt.«
»Karl Schulte sieht nur die Arbeiterlage. Ich sehe die Arbeitslage. Das Werk muß dem Einzelnen vorausgehen. Es ist das Bleibende.«
»Zunächst hab ich Verpflichtungen gegen mich selbst.«
Fritz Stoltenkamp lachte. »Erst komme ich, sagt der Hanswurst zu Beginn der Vorstellung, und zum Schluß reibt er sich den Buckel.«
Max Schlechtendahl lachte mit. Er war nicht übelnehmerisch. Und sie holten den Fährmann aus seiner Hütte und setzten über die silberne Ruhr. Drüben grüßten die Trümmer des Isenberges, auf dem einst der Mörder des Kölner Erzbischofs Engelbert gräflichen Hof hielt, und die Burgruine Blankenstein seines Nachfolgers in Amt und Lehen.
Fritz Stoltenkamp deutete auf die Hammerwerke im Tal. »Ein anderer Adel kommt herauf. Der Adel der Arbeit.«
»Streckenweise, Fritz, und alles nach der Bodenbeschaffenheit. Als der Teufel einst mit einem Sack voller Adligen unter dem Arm über Westfalen flog, war der Sack so prall, daß ein paar über der Mark und dem Hellweg herauspurzelten, über dem Münsterlande aber der Sack barst und sie allesamt herunterfielen. Geh du nur mal ins Münsterland.«
Das war ein Sonntagswandern, die blitzende Ruhr zur Linken, zur Rechten rauschenden Buchen- und Eichenwald. Kein Mensch begegnete ihnen auf den einsamen Wegen, bis die Burgruine Volmarstein von dem Hügelrücken blickte» der das Ruhrtal von dem Tal der betriebsamen Ennepe schied. Und hier schieden sich auch die Wege der Wanderer.
»Von dort oben,« sagte der Buchhändler, »Wirst du – wie einst Moses Kanaan – die gesegnete Enneper Landstraße erblicken. Stirb nicht vor Glück. Wappne dich und ziehe ein. Ich habe den Kammerdirektor des Alten Fritz in Ostfriesland, Daniel Lenz, im Verdacht, daß er mit seiner Druckschrift: ›Beweis, daß diejenigen, so Christum gekreuziget, Westfälinger gewesen,‹ nur das Urvolk der Enneper Landstraße gemeint haben kann. Glück auf, Fritz!«
»Glück auf, Max!« Und Fritz Stoltenkamp setzte in seinem gleichmäßigen Schritt den Weg fort, erstieg die Höhe und wandte sich, ohne die Burgruine weiter zu betrachten, ins Tal hinein der Gevelsberger Landschaft zu.
In einem Wirtshaus, frei an der Landstraße gelegen, fand er Unterkunft. Und da der Wirt ihn bedeutete, daß die Schmiede und Schleifer auch am Sonntag kein Verbrechen darin sähen, über Geschäfte zu reden, so erquickte er sich nur an einem handfesten Frühstück und dem ortsüblichen Schnaps und suchte den nächstgelegenen Hammer auf. Munter sprang die Ennepe an seiner Seite dahin, die Spatzen zwitscherten aus allen Hecken, und die Frühbirnen polterten lustig von den Bäumen.
»Das ist ja urgemütlich,« dachte der junge Reisende, trat in einen Garten ein und wurde von einem wütend um die Ecke schießenden Spitz beinahe zu Boden gerannt.
»Pfeifen Sie doch den Hund zurück,« rief Fritz Stoltenkamp einem gedrungenen Manne zu, der seelenruhig unter seinem Birnbaum saß und dem Toben des Hundes zusah. »Das Tier zerreißt mir noch die Hosen.«
»Dä Spitz tut nix als seine Schuldigkeit. Dä Spitz weiß, wann ich meine Ruh brauch, und wer ›mir nix, dir nix‹ eintreten darf un wer nich. Sie nich! Gottverdimmich nochmal. Ich bin doch noch Herr im Haus.«
»Das Tor steht doch sperrangelweit offen! Wie soll da ein Mensch wissen, was hier für ein Grobian wohnt?«
»Was hier für ein – –? Spitz, has du dat gehört, wat sich da einer von deinem Herrn zu sagen erlaubt hat? Has du et nich gehört, du Mistvieh?«
Da beugte sich Fritz Stoltenkamp kurz entschlossen nieder, packte den wie irrsinnig schnappenden Hund im Genick und schleuderte ihn durch die Luft zu seines Herrn Füßen. »Glück auf!« rief er zornig dazu.
»Glück auf?« wiederholte der Mann, gab dem winselnden Hund einen Fußtritt und reckte fragend den Kopf, ohne sich zu erheben. »Wollen Sie damit sagen, dat sie vom Fach sind un nich so'n verfluchter papierner Tagelöhner, wie sie jetzt die Enneper Landstraße zu Dutzenden verludern? He?«
»Wer ich bin und was ich hier wollte, geht Sie doch wohl den Teufel an. Meine Handschrift kennen Sie ja.'«
»Die Handschrift is nich schlecht,« grinste der Vierschrötige, »un Umgangsformen scheinen Sie ja auch zu haben. Na denn man nich mucksig und Platz genommen. Mein Name is Sieper.«
»Fritz Stoltenkamp. Mitinhaber der Firma Friedrich Stoltenkamp, die das Geheimnis des deutschen Gußstahls besitzt.«
»Sie nehmen dat Maul nich schlecht voll. Da soll mich doch einer von hinten und von vorn begutachten, wenn ich so einem Maulhelden je im ganzen Leben begegnet bin.«
Fritz Stoltenkamp griff in die Umhängetasche. Er holte ein Stück seines Stahls hervor und hielt es dem Mann unter die Augen.
»Ich würd mir doch die Sache erst mal betrachten, bevor ich mir als alter Hammerschmied vor einem Wildfremden die Blöße gab.«
Der Mann sprach irgendeinen Gruß, griff zu und besah und befühlte das Stahlstück von allen Seiten. »Ja, ja, dat is un bleibt en Stück Stahl. Also Gußstahl. Aber et kommt mutterseelenallein darauf an, wie et sich unterm Hammer benimmt. So'n Lausegußstahl wie der deutsche reißt schon aus allen Fugen, wenn man'n bloß mit em Hammer mal leise tätschelt. Haben Se keinen englischen? Da ließ sich en Wort reden.«
»Ich will Ihnen mal was vorschlagen, Herr Sieper. Sie reden nicht, und ich rede nicht, und wir gehen jetzt zu Ihrem Reckhammer und lassen da mal ganz allein meinem Stahl das Wort. Mit Schmeicheleien kommen wir nicht weiter.«
»Dunnerschlag,« staunte der Mann, »Sie gehen auf et Ganze. Aber so gut steh ich mich nich mit'm Pastor, dat ich et wagen könnt, am heiligen Sonntag de Schleuse zu ziehen un et Hammerwerk durch die stille Natur rattern zu lassen. Ich hab ihn letzten Sonntag im ›Schafskopf‹ mit einem Taler sieben Silbergroschen hereingelegt, un wenn der einen Sonntag schlechte Karten gehabt hat, schimpft er den anderen auf der Kanzel über Sonntagsentheiligung. Morgen früh, so früh Sie wollen. Mein Hammerwerk können Sie sich aber inzwischen begucken. Kommen Sie gleich mit durch die Wiese. Der Spitz is kusch.«
Und wie zwei alte Bekannte gingen sie ins Hammerwerk und betrachteten es, wie man eine trächtige Kuh betrachtet, und Fritz Stoltenkamp klopfte dem mächtigen Reckhammer auf die Backen und lobte: »Das ist ein prächtiger Knabe.«
»Un doch is noch en Fehler dabei,« meinte Sieper mit zusammengekniffenen Augen. »Dat Gußeisen nutzt sich an der Schlagfläche vom Hammer zu rasch ab un schmiedet dann kein glatt Stück mehr. Dat macht viel Ärger un kostet Zeit un Geld, bis man dat Hammereisen wieder ausgewechselt hat.«
Fritz Stoltenkamp untersuchte den Reckhammer mit der Sorglichkeit eines Zahnarztes. Der Mann da brachte ihn auf einen Gedanken. Hier war wieder ein Feld für seinen härteren und doch elastischeren Gußstahl. »Herr Sieper,« sagte er nach einer längeren Weile, »dem Fehler kann abgeholfen werden. Ich besorg Ihnen das, und Sie sollen Ihre helle Freude daran haben.«
»Wieso besorgen Sie mir dat?« fragte der Mann mißtrauisch.
»Ich setz in einen Falz der Hammerbahn einen schmalen Sattel aus Gußstahl ein. Wie, das wird sich schon finden. Ich mach mir heute nachmittag noch den Entwurf. Und dann können Sie mit dem Hammer den härtesten Stahl schmieden, bis Gott weiß wann. Mein Stahl gibt nicht zuerst nach.«
»O Sie Dunnerschläger,« wunderte sich der Mann, der den Vorschlag blitzschnell erfaßte. »Un morgen früh mit dem Frühesten treten Sie an. En Wort is en Wort. Un jetz kommen Sie man gleich mit un essen en Löffel Suppe mit. Aber nich die Magd kneifen. Die Frau kann dat nu mal nich leiden.«
Und Fritz Stoltenkamp aß im Sieperhaus an der Enneper Landstraße zu Mittag. Die Frau war frisch und gesund und die Magd ein Racker. Aber die Hauptsache blieb, der Hausherr war sein guter Freund, und er mußte sich dreimal eine Scheibe Rindsbraten nehmen, so dick wie ein Finger, bis der Hausherr sich befriedigt erklärte. »Nu machen Sie sich aber gleich an den Entwurf von dem Gußstahlsattel,« drängte der Hammerschmied und begleitete den Gast durch den Baumgarten. »Um sechs können Sie wohl wieder hier sein. Dann gehen wir zu Wefers auf dem Vogelsang Bier trinken. Da finden Sie die ganze Rasselbande von Schmieden und Schleifern beisammen, un ich führ sie gut ein.«
Vom Birnbaum purzelten ein paar Früchte. Er nahm sie auf und biß zärtlich in eine hinein. »Dat sind Honigbirnen. Ende August schon reif. Bei dem rauhen Klima.« Er biß auch in die andere. »Schütteln Sie mal. Dann kommen mehr.«
Pünktlich um sechs Uhr nachmittags trat Fritz Stoltenkamp im Sieperhause wieder an. Der Entwurf war fertig» der Sattel sauber gezeichnet und bis ins kleinste auf das Maß seiner Leistungsfähigkeit berechnet. Sieper las das mehrere Male mit gespannter Aufmerksamkeit und betrachtete mit Andacht die einfache Zeichnung. »Dat is klar wie Sonntagsbier,« sagte er endlich, »un ich führ dat auf der Stelle ein. Und die anderen werden dat auch einführen, wenn se sich noch nich dat letzte Hirn weggesoffen haben. Un deshalb müssen wir nu wirklich machen, dat wir zum Sonntagsbier kommen.«
Das war bei Wefers auf dem Vogelsang! In der geräumigen Bauernstube saßen die Männer der Enneper Landstraße dicht gedrängt auf den langen Banken, die Arme aufgestützt, das Bierglas vor sich. Aber es war kein Vogelsang, was den Eintretenden entgegenscholl, sondern ein Lärm und ein Gewitter von Kraftworten, als ob der nächste Griff nach dem Stuhlbein sein müsse. Und doch war es nur ein Überschuß an urwüchsiger Kraft und Gesundheit, und sie nannten es ›mal in Gemütlichkeit sein Glas Bier trinken‹.
»Der Sieper! O du verdammichten Kerl, wat för'n Giraffe schleppst denn du ran?«
»Dat es hie kein zoologischen Garten, du ollen Tierbändiger.«
»Kann de Jong ook schon et Supen verdreegen? Sons giww en an de Küche aff. De Hulda hat lang schon nix Kleines gehatt.«
Die Magd schlug mit dem Handtuch. Die Männer gröhlten vor Vergnügen.
»Holl et Muhl,« schrie Sieper in den Lärm, »on macht Platz. Dat's hier der Herr Stoltenkamp. Ob he supen kann, dat werd he uns schon wiesen, äwer dat he mehr von Isen on Stahl versteht als dä ganze Radautisch hier, dat es so utgemacht wie die Tugend von Hulda. Hulda, zwei Glas Bier.«
Fritz Stoltenkamp rückte in die Bank ein. Und die Männer machten bereitwillig Platz und begrüßten ihn ganz vertraulich. »Nix für ungut, Herr Stoltenkamp, aber Spaß muß sein. Zumal am Sonntag.«
»Prosit,« sagte Fritz Stoltenkamp, blies wie sein Nachbar den Schaum vom Glas und tat einen guten Zug.
»Prosit,« erscholl es um den Tisch herum. »Wohlsein, Herr Stoltenkamp.« Und die Hulda mußte frische Füllung bringen und kreischte nur, wenn's ihr gar zu handgreiflich wurde.
»Meine Herren,« sagte der Hammerschmied Sieper mit einiger Wichtigkeit, »wat ich gesagt hab, dat hab ich gesagt, un ich hätt mir nich erlaubt, den Herrn Stoltenkamp mitzubringen, wenn er nich selbs sein lebendiger Zeuge war. Von der Firma Friedrich Stoltenkamp, die dat Geheimnis des deutschen Gußstahles besitzt, hat wohl jeder Schafskopp gehört, soweit er vom Fach is. Hören und glauben is zweierlei. Morgen früh macht der Herr Stoltenkamp bei mir am Reckhammer sein Probestück. Un fällt dat gut aus, dann kömmt er zu euch un überschlägt keinen. Wat ich aber sagen wollte, is dieses.« Die Kehle war ihm trocken geworden. Er nahm sein Glas. »Prosit.«
»Sup jetz nich, Sieper. Red!«
»Also als wir mein Hammerwerk besichtigen un ich dem Herrn Stoltenkamp klag, dat sich die Fallhämmer an der Schlagfläche so rasch abnutzen, hat der junge Mann dat 'eraus wie et Huhn et Ei. Ruhig, sag ich. Ich hab die Zeichnung un die Berechnung. Der junge Herr Stoltenkamp hat sie gleich heut nachmittag in aller Gemütsruh angefertigt. Un ich hab sie mitgebracht. Jawoll, jetzt könnt ihr Hälse machen. Also kurz un gut, hier is sie. Ich stell sie zur allgemeinen Besprechung. Un nu sag noch einer, dat der Sieper nix für die Enneper Landstraße tät, ihr Sakermenters.«
Der Entwurf ging von Hand zu Hand. Die Berechnungen wurden laut und umständlich nachgerechnet. Als das Blatt zu seinem Eigentümer zurückkehrte, war es naß von Bier und zerknittert von rauhen Männerfäusten. Aber es hatte seine Wirkung getan.
»Dat leuchtet ein wie ne Kerze.«
»Überleg du, bis du deinen leeren Kopp selbs unter deinen Hammer legen kanns. Als alt Eisen. Dat hier, dat is eine Sache von Hand un Fuß, un wer dat nich einsieht, un wat sie für alle bedeutet, un sich noch herausnimmt, von ›überlegen‹ zu reden, der soll doch, so wahr ich Sieper heiß un als gelernter Hammerschmied jedermann ungespitzt in den Boden schlag« – –
»Herr Stoltenkamp,« wandte sich der Angegriffene an den Gast, »nu sagen Sie mal selbs: Wenn ich sag ›überlegen‹, is dat nu wirklich geschimpft oder is dat nur so harmlos dahergeredt?«
Fritz Stoltenkamp beruhigte die Streitenden. Er sprach von den Versuchen seines Vaters, von der Entwicklung des Gußstahls, von seiner noch unübersehbaren Verwendungsmöglichkeit. Er sprach von den billigen Überschwemmungen des deutschen Marktes mit englischer Ware, die auf gut Glück gekauft werden müßte, ohne daß Sicherheit gewährleistet würde, ganz abgesehen davon, daß das gute deutsche Geld das Ausland nur immerfort bereicherte und das protzenhafte England uns dafür als seine Lohnarbeiter betrachte und demgemäß behandle. »Aber den deutschen Stolz,« fuhr er mit heiß gewordenem Kopf fort, »den will ich jetzt gar nicht wachrufen. Nur den deutschen Verstand. Und der ist wohl hier auf der Enneper Landstraße zu Hause, wie nur irgendwo. Ich will meinen Stahl bei jedem von Ihnen jeder Probe unterwerfen und für jede Stange, die ich Ihnen liefere, und für jedes Werkzeug, das Sie von mir kaufen, jede Haftung übernehmen. Was Sie mir zurückschicken, ersetze ich. Das bin ich meiner Firma und dem Ruf meines Gußstahls schuldig, der als erstes deutsches Erzeugnis der Engländern den Krieg erklärt hat.« Er hielt inne, empfand die Stille, wischte mit der Hand über die schweißnasse Stirn und tastete nach seinem Glas. Es war weg.
»Herr Stoltenkamp,« sagte sein Nachbar zur Rechten, »dürfte ich Sie zu einem Glase Bier einladen?«
»Herr Stoltenkamp,« sagte sein Nachbar zur Linken, »dürfte ich wohl dasselbe tun?«
»He, Hulda, Blume der Ennepe – eck sall die wall Beene maken?«
»Prosit, Herr Stoltenkamp. Eisen un Stahl!«
»Un Deutschland inmitten!«
»Un nu noch enmal!« – »Un nu erst grad!«
Die Menschen schrien, die Menschen lachten, daß es schallte, die Menschen sangen und trommelten. Es wurde Nacht, und keiner fragte danach. Bis sie plötzlich in einem Rudel aus der Türe drängten und jeder befriedigt von dem schönen Abend nach seinem Kotten strebte.
So begann Fritz Stoltenkamps erste Fühlungnahme mit der Kundschaft. Er vergaß es sein langes Leben nicht.
*