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Die Faust des Vierzehnjährigen saß dem scheltenden Mann mitten zwischen den Augen.
Das Wort brach ab. Als wäre es erschlagen.
Und die beiden Männer, die mit im Zimmer waren, griffen erschrocken in die Luft.
Der Getroffene aber hatte nicht gezwinkert. Das glattrasierte, rotbraune Gesicht mit dem kantigen Bauernschädel wechselte nur ein wenig die Farbe. Hin und her. Und in den scharfen Kaufmannsaugen stand es eine kurze Spanne wie Verblüffung.
»Grote,« sagte der Düsseldorfer Münzwardein Noelle hastig und trat mit einer beschwichtigenden Handbewegung an den Tisch. »Unternehmen Sie jetzt nichts, Grote. Sie sind mit Ihren Worten Zu weit gegangen, und der Junge – der Junge ...« – er räusperte sich heftig – »das steht auf einem anderen Blatt. Es kann für einen Sohn nicht angenehm sein, seinen Vater so – so – herunterputzen zu hören. Meinen Sie nicht selber, Grote?«
»Komm, Vater,« bat der Junge leise und griff nach des Vaters Hand. Und Friedrich Stoltenkamp setzte den hohen, oben abgeplatteten Filzhut auf und ging mit dem Sohn zur Tür.
Da kehrte dem Hausherrn im Ledersessel die Sprache zurück.
»Vetter Stoltenkamp – die Hitzigkeit des Jungen – hoho, ich kann mich doch in meinem Hause nicht mit einem Kind katzbalgen – so was kann nicht an mich heran und macht die Sache nicht besser und nicht schlimmer. Aber ich wiederhole Ihnen: Keine Karre Kohlen geht aus meiner Grube noch in Ihre Alchimistenbude. Und keinen Taler Kurant bürge ich mehr für – jawohl, für einen Narren und Phantasten. Schluß dafür.«
Friedrich Stoltenkamp stand mit seinem Sohne längst auf der Schwelle der geöffneten Tür. Der Düsseldorfer Münzwardein kam ihm nach.
»Stoltenkamp, auch ohne Abschied von mir? Ich hätt' gern mehr für Sie erreicht.«
»Ich weiß es, lieber Herr Noelle, und bin Ihnen so dankbar, als ob Sie es erreicht hätten. Gute Heimfahrt nach Düsseldorf. Und bewahren Sie mir Ihre Freundschaft.«
Sie reichten sich die Hand.
»Nicht den Mut verlieren,« sagte Noelle. Er fuhr dem Knaben über den Kopf. »Auf Wiedersehen, Fritz.«
Über den engen Gassen schaukelten die Öllampen. Unter den Stößen des kalten Herbstwindes drehten sie sich fröstelnd an ihren Ketten, und die krummen Dochte blakten gegen die Scheiben. Vater und Sohn suchten sich ihren Weg durch die winklige Häuserzeile. Dann rauschte es vor ihnen auf, und sie standen auf der Brücke und hörten unter sich die Ruhr fließen. Friedrich Stoltenkamp legte seinem Jungen den Arm um die Schulter.
»Auf dich ist Verlaß, Fritz.«
»Ja. Vater.«
»Nur ein wenig grobschmiedsmäßig hast du dich benommen. Ein Faustschlag ist kein Gegenbeweis.«
»Er hat dich geschimpft, Vater.«
»Das hat er. Aber du darfst nicht vergessen: die Stoltenkamps lieferten den Städten zwischen Rhein und Ruhr und Lenne schon die Ratsherren, als die Grotes noch ein paar Jahrhunderte Ackerbauern waren. Das verpflichtet, Fritz. Taten, Erfolge, das sind die besten Kopfnüsse für die Dickschädel hier.«
In die Stimme des Jungen kam ein leises Verwundern.
»Aber du hast dem Vetter doch den Erfolg gezeigt – den Tiegelstahl – –«
Friedrich Stoltenkamp lachte vor sich hin.
»Alchimistenbude! Hast du's gehört, Fritz? Alchimistenbude hat er meinen Betrieb genannt. Weil die beiden Landsknechte da auf der alten Mühle ihr Wesen treiben wie die Goldsucher. Hm, Fritz, ganz vorbeigegriffen hat der Vetter Grote vielleicht nicht.«
»Ich versteh nicht, Vater –«
»Also das sind jetzt ein paar Jahre und mehr, daß die beiden Herren Offiziere, frisch verabschiedet, in unsere Gegend kamen und behaupteten, das Geheimnis des neuen Stahlgusses zu kennen. Ich war längst bei den Versuchen. Seit deiner Geburt. Seit des Kaisers Napoleon Kontinentalsperre auch den englischen Gußstahl nicht mehr hereinließ. Ah, der Kaiser Napoleon wußte, was er wollte. Aber ihm ging der Atem aus. Und mir auch. Und ich wußte auch, was ich wollte. Und deshalb nahm ich die Gelder deiner Mutter und steckte sie in die Versuche und nahm Gelder von der ganzen Familie und steckte sie hinein und nahm die beiden Herren Majore ins Geschäft, die das Geheimnis zu kennen behaupteten. Und die Anfänge blieben, und der Kredit ging zu End.«
Sie stolperten in der Dunkelheit vorwärts. Einen verwahrlosten Karrenweg entlang. Links und rechts öde Felder, die sich in der Weite verloren.
»Es ist nicht einmal Geld im Land, um die Wege zu bauen,« sagte Friedrich Stoltenkamp. »Seit der Kaiser Napoleon erschien, haben wir in diesen zwanzig Jahren viermal den Herrn getauscht. Und wir haben Tausch- und Umzugskosten bezahlen dürfen für die hohen Herrschaften. Da wird Bargeld knapp, und der Vetter Grote tut nun auch nicht mehr mit.«
Weiter ging es durch Regenwind, Öde und Dunkelheit. Und nach einer Weile faßte sich der Sohn einen Mut und fragte: »Vater, du lachtest vorhin, als du von den Alchimisten sprachst.« Und er hörte den Vater trotz aller Sorgen aufs neue heiter auflachen.
»Die Alchimisten! Fritz, ich sagte dir schon, der Vetter hat nicht unrecht. Also – er hat recht. Aber das ist ein Kapitel, das wohl ein Stoltenkamp, aber kein Grote versteht. Ich kann doch die Herren Majore nicht einfach an die Luft setzen, weil sie nicht mehr Glück haben als ich.«
»Doch, Vater, doch! Und ich bin auch ein Stoltenkamp.«
»He! Fritz!«
»Verzeih mir, Vater. Aber du darfst dich mit den beiden nicht in einem Atem nennen. Du stehst tausendmal höher, Vater. Was für die Herren Majore Glückssache ist, ist für dich Lebens- und Ehrensache!«
»Sonst – Glücksritter mit einem Wort.«
Sie waren von der Karrenstraße auf einen Feldweg geraten und tasteten sich zurück.
»Vater,« sagte der Sohn, »das verstehst du besser als ich. Aber daß die Herren auch nicht einen Schritt über deine eigene Erfindung hinausgekommen sind, das verstehe ich auch schon.«
»Und trotzdem,« fragte Friedrich Stoltenkamp langsam, »trotzdem schlugst du nach dem Vetter Grote?«
»Nicht deshalb, Vater.«
»Nicht deshalb? Bleibt noch der Narr und Phantast ...«
»Vater,« bat der Junge hastig, »nimm deine Sache wieder selber in die Hand. Gib den Majoren den Laufpaß. Was kann ihnen daran liegen. Zahlen kannst du sie doch nicht mehr. Vater, und wenn du Hilfe brauchst, nimm mich!«
Friedrich Stoltenkamp spürte die suchende Hand des Sohnes an seinem Rock. Es kam eine stille Rührung über ihn, und er nahm die Hand und behielt sie eine Strecke Wegs in der seinen.
»Ich weiß, Fritz,« begann er, »du bist über deine Jahre hinausgewachsen. Ich sagte dir schon: auf dich ist Verlaß. Aber die Herren Majore kann ich gerade jetzt nicht entbehren. Sie kennen alle meine Versuche und Erfahrungen und besitzen die ihren dazu. Auf mir aber lasten so viel städtische Ehrenämter, daß ich die Vertretung auf dem Hammer und in der Schmelzkammer brauche. Die Stadt geht vor.«
Die Hand des Jungen zuckte krampfhaft in der Hand des Vaters. Und Friedrich Stoltenkamp fühlte es wohl.
»Was wolltest du sagen, Fritz?«
»Dein Werk geht vor!« stieß der Junge heraus. »Wenn das Werk groß ist, bist du groß. Vater, was nutzen die Kleinen der Stadt und dem Land?«
»Der Kopf ist nicht von der Tasche abhängig.«
»Und wenn – die Tasche nicht mehr zahlungsfähig ist? Vater, ich meine, wenn man nicht mehr in der Lage ist, für die eigenen Arbeiter zu sorgen, kann man doch – erst recht nicht – für die gesamte Bürgerschaft – sorgen wollen.«
Friedrich Stoltenkamp blieb stehen. Wind und Wetter fuhren in der Dunkelheit um seine heiß gewordenen Wangen. Was war das mit dem Jungen? Rang in dem Vierzehnjährigen schon die Seele des Mannes? Die Kinder im Lande des Eisens und der Kohle wurden schneller reif und gehärtet als in den weicheren Strichen. Das Leben packte sie früher, die Arbeit, der Erwerb – und sie packten das Leben. Der Fritz aber – das fühlte Friedrich Stoltenkamp an diesem dunklen Abend auf der verschlammten Ackerstraße – der Fritz aber nahm das Leben als eine Pflicht, das Leben zu vergrößern, neues Leben daraus zu gestalten.
Der Junge, der seltsam bescheidene – zielbewußte Junge.
»Glaubst du an meinen Stahl, Fritz?«
»Wie an mich selber, Vater.«
»Du hältst mich also nicht für einen Narren und Phantasten?«
»Der Ohm Grote hat die beste Antwort.«
Da wurde es schon wieder heiter in Friedrich Stoltenkamps leicht beweglicher Seele, und nun wünschte er aus des Sohnes Mund mehr von dem zu hören, was ihm wohltat.
»Und was gibst du dem Stahl für Möglichkeiten, Fritz? Ich meine, wenn wir ihn erst gießen können, wie wir wollen.«
»Dem Stahl gehört die Zukunft, Vater. Er wird die Welt umwandeln und beherrschen.«
»Und wir – und wir –« rief Friedrich Stoltenkamp und streckte den Arm gen Himmel wie ein jubelnder Knabe, »wir werden die Welt beherrschen, weil uns der Stahl gehört.«
»Nein, Vater, wir werden dem Stahl gehören. Das ist eine Lebensaufgabe. Wir werden sterben, er wird bleiben. Und immer noch wachsen, wachsen, Vater. Bis die ganze Welt stählern ist.«
Friedrich Stoltenkamp überhörte es. Ihm lag jetzt nur daran, den Sohn in die eigene Freudigkeit hineinzuziehen, die die Schatten und Schwierigkeiten verschwinden und das Leben lachen macht. Er rüttelte den ernsten Jungen an der Schulter, wie man fröhlich ein Kind zu rütteln pflegt. »Also wenn du schon an alles glaubst, an den Stahl, an seine ungehemmten Möglichkeiten, an seinen Siegeszug durch Länder und Meere – wach auf, Fritz, und rede mir nicht mehr von Geduld und Zahlungsnot. Kinderkrankheiten, Kinderkrankheiten. Die klugen Ärzte werden sich schon finden!«
Aber mit dem Jungen war heute nichts anzufangen. Er ließ sein heißes Blut nicht noch einmal durchgehen wie beim Vetter Grote. Er hatte sich fest in der Hand. »Ich bin ganz wach, Vater. Ich mein oft, ich wär zu wach. Wir reden von unserem Gußstahl, als hätten wir ihn schon in ganzen Blöcken unterm Hammer. Und haben seit Jahren nicht mehr als die paar winzigen Tiegelschmelzproben. Und selbst die geraten uns nicht gleichmäßig. Weil wir nicht langsam vom Kleinsten zum Größten gehen, sondern sprunghaft auf gut Glück und noch dazu durch die Herren Majore, die sich dabei einen guten Tag antun. Das sehe ich, und das sehen die erfahrenen Männer vom Fach noch mehr, und deshalb knöpfen sie die Taschen zu. Das ist so.«
Da spürte Friedlich Stoltenkamp plötzlich wieder die Dunkelheit und den nassen Herbstwind. Er band sein feines, schwarzseidenes Halstuch im Knoten fester und stellte den Rockkragen hoch. Seine Stiefel versanken im Schmutz. Nahm denn der Weg nie ein Ende? Kam man denn nie aus dem Dreck heraus? Er wußte nicht mehr, wie lange sie schon gegangen waren und wie weit sie noch zu gehen hatten.
Neben ihm schritt der Sohn dahin, als säh er im Dunkeln. Zielbewußt.
Und der Vater empfand es.
»Wie lange gehen wir schon? Man kommt in dem Schlamm nicht vorwärts.«
»Seit einer Stunde. Wir müssen heute bis zu Hause mit einer zweiten rechnen.«
»Wir gehen nicht nach Hause. Wir gehen zur Mühle.«
»Zu den Majoren?« stieß überrascht der Junge hervor und horchte erregt hinter seinen Worten drein.
»Gerade zu den Majoren.«
»Kehraus, Vater?«
Und dieser Schrei des mannbaren Jungen rüttelte dem Vater das Herz und gab ihm die Überlegenheit zurück und die Freude, sie zu zeigen.
»Kehraus, Fritz. Und morgen nehme ich dich aus der Schule und nehme dich ganz in die Lehre. Oder glaubst du, daß du bei deinem Vater nichts mehr lernen könntest ...«
Der Junge stand wie an den Boden geschmiedet.
»Ich darf – zu dir?«
»Du hast mir noch nicht geantwortet, Fritz.«
Da brach alle schwärmerische Liebe zum Vater aus dem Jungen heraus.
»Vater, verspotte mich nur. Du bist ja doch der Größte hierzulande. Aber ich werde nicht so hoch fliegen lernen.«
Friedrich Stoltenkamp preßte die Lippen aufeinander. Ganz scharf sah er sein Streben – und sein Leben. Und sah beides nicht im Einklang miteinander. Sah das Unstete in sich, das Greifen und Jagen nach allem und jedem, ohne das eine zu Ende zu führen. Das Zersplittern seiner Kräfte, dieser großen, bewunderten Kräfte, die doch nicht einmal die Gewähr für das tägliche Brot zu bieten vermochten. Was hatte da eben der Fritz gesagt? »Aber ich werde nicht so hoch fliegen lernen!« Und er öffnete schmerzhaft die Lippen, zog den kalten Herbstwind ein und sagte mit erzwungener Fröhlichkeit: »Dafür lerne du besser den Erdboden unter die Füße nehmen.«
Ein Licht schwankte auf sie zu. Es ging auf und nieder, beschrieb irre Kreise und stand fest wie ein winziger Mond in einem rötlichen Lichthof. Und wüstes Peitschengeknall und niederdeutsche Schimpfworte füllten die Luft.
»Da ist mal wieder eine Karre in ein Loch geraten,« stellte Friedrich Stoltenkamp horchend fest. »Wie soll hier Handel und Wandel gedeihen bei den Straßen? Und der Wasserweg wird gerad so vernachlässigt. Von zwanzig Schiffen geht eins auf der Ruhr an Steinen und Mühlenschächten zugrunde. Dafür und zur Hebung der Gewerke hat Preußen kein Geld.«
»Der Kerl soll das greuliche Fluchen und Prügeln lassen,« rief der Junge. »In die Hände spucken soll er und selber zupacken.« Und in großen Sätzen sprang er durch das Dunkel dem Lichtschein zu, daß der Vater ihm kaum folgen konnte.
Eine schwer beladene Kohlenkarre stak mit den Rädern in einem Loch, und der pralle Flamländer arbeitete sich unter der Peitsche des Knechtes vergeblich in der Deichsel ab, das Hindernis zu nehmen. »Preußische Wirtschaft!« schrie der wütende Kerl. »Vermaledeite! Unterm Napolium, hä, hüh, da war's ein ander Geschäft. Willst du, verfluchtige Kracke?«
»Das Pferd will schon, aber der Fuhrmann will nicht!« rief der junge Stoltenkamp zornig.
»Kiek ens, dä Gelbsnabel.«
»Setzt die Karre zurück. Und dann ein Brett vor die Räder.«
»Du häst woll en Brett vorm Kopp? Eck seh sons keines.«
»Dann reißt man sich ein paar Wacholderbüsche heraus. Gebt die Laterne her.«
Friedrich Stoltenkamp trat in den Lichtkreis. Der Knecht erkannte ihn und rückte an der Krempe seines Fuhrmannshutes. »Guten Abend,« erwiderte Stoltenkamp und musterte Gefährt und Ladung. »Von Grube Wilhelm Grote. Stimmt's?«
»Jawoll, Herr Stoltenkamp.«
Der Sohn hatte die Laterne genommen und sie über den Wegrand geschwenkt. Nun tat er ein paar Schritte, zog sein großes Taschenmesser und kehrte mit einem Arm voll Wacholdergesträuch zurück. Die Laterne stand mitten auf dem Ackerweg und hüllte Menschen und Gefährt in einen kreisrunden gelben Schein. Fauchend sprang aus der Dunkelheit der Wind um sie her.
Friedrich Stoltenkamp im feinen Tuchrock, seidenen Knüpftuch und hohen Filzhut griff mit seinem Sohn in die Speichen der zweirädrigen Karre. Der Fuhrmann packte unter erneutem greulichem Geschrei den Gaul beim Kopf, und der Gaul stemmte sich in den Sielen und drückte die Karre zurück. Die Wacholderbüsche flogen ins Loch, und unter hä, hüh, Gepolter und Peitschengeknall kletterte die Karre, hin und her schwankend, aus der Versenkung.
»Sagt Wilhelm Grote,« rief Stoltenkamp atemlos lachend dem Fuhrmann zu, »hier schickte ihm sein Vetter Friedrich Stoltenkamp mit herzlichem Gruß eine Karre Kohlen, die er persönlich für den lieben Vetter zutag gefördert hätte. Und er sollt sich die Kohlen feurig aufs Haupt legen.«
»Wird bestellt, Herr Stoltenkamp.«
Und der Mann langte sich die Laterne vom Erdboden und rannte, hä, hü brüllend, hinter seinem Gefährt her.
Die beiden Stoltenkamps blieben in der Finsternis zurück. »Ich seh nicht die Hand vor Augen mehr,« sagte Friedrich Stoltenkamp. »Der jähe Wechsel von Licht und Dunkelheit hat mich nachtblind gemacht. Du mußt mich wahrhaftig führen.«
»Mein Gott, Vater – da laufen wir seit über einer Stunde durch die dunklen Ruhrfelder, und ich vergaß vor lauter Erregung, daß ich eine Laterne in der Tasche trage.«
»Eine Laterne? In der Tasche?«
»Zusammengeklappt. Eine Spielerei.«
»Zeig doch mal her, das Ding ... Ein paar Blechrähmchen mit Glasscherben und Scharnieren, eine aufgelötete Ölkapsel mit Docht, das Ganze einen Finger dick. Schlag mal Feuer. So – da brennt's. Wirklich sauber gearbeitet. Herstellungswert einen guten Groschen. Verkaufswert zehn gute Groschen. Fritz, der Artikel wird von uns aufgenommen. Morgen schreib ich ans Patentamt.«
»Vater,« meinte der Junge verlegen, »das Patentamt wird sich mit solchen Spielereien nicht befassen.«
»Mit dem Laternchen nicht, aber mit der Maschine, die sie herstellt.« Und er war ganz bei dem Gegenstand. »Ich konstruiere eine kleine Handpresse. Auf einen Druck wird der Blechstreifen geschnitten und gefalzt, auf einen zweiten die Scharniere gestanzt, auf einen dritten die Ölkapsel. Glas wird geschnitten bezogen und in den Falz eingeschoben. Jedes Laternchen braucht fünf Minuten Herstellungszeit. Eine Handpresse liefert demnach täglich ein Gros. Macht bei neun Groschen Überschuß über die Unkosten rund vierundvierzig Taler preußisch Kurant den Tag.« Er war selber verblüfft. »Fritz, damit können wir uns helfen.«
Da lachte der Junge zum erstenmal hell und unbekümmert in den Abend hinein. Und der Vater ließ sich anstecken von diesem hellen Knabenlachen und lachte schmetternd mit hinein. Und Vater und Sohn standen inmitten der weiten, öden Ruhrfelder und lachten, bis alle Öde wich und die Weite voller Fröhlichkeit war.
»Zwölf Dutzend Laternchen, Vater! Tag für Tag!«
»Macht im Jahr über viertausend Dutzend, Fritz! Oder rund fünfzigtausend Stück!«
»Und das nur mit einer Handpresse, Vater! Wenn mir aber zwölf nehmen!«
»Hör auf, Fritz, hör auf! Mir tanzen Millionen Laternchen vor den Augen!«
»Mir auch, Vater, mir auch! Und ich seh vor lauter Laternchen unseren Gußstahl nicht mehr.«
Friedrich Stoltenkamp strich sich mit der Hand über die Augen. Er sammelte sich. »Siehst du, es tut doch gut, so recht von Herzen fröhlich Zu sein. Gerade den Menschen tut es gut, die um jeden Tag neu zu ringen haben. Die aber, in der Wolle sitzen, entrüsten sich darüber und nennen es Leichtsinn. Fritz, hör nie darauf. Nie im Leben. Gerade die Minderbegünstigten brauchen das Lachen, um aus einem Tag in den anderen zu kommen.«
Und Fritz Stoltenkamp vergaß dies Wort des Vaters im Leben nicht.
Flotter ging das Marschieren vonstatten. Das Laternchen warf seinen Lichtschein vor die ausschreitenden Füße. Schon blinkten ihnen die Lichter der Stadt entgegen. Da gurgelte ein Bächlein vor ihnen auf. Und sie bogen von der Stadt ab und schritten auf einem Feldweg den Bach hinauf, bis das alte Mühlengebäude vor ihnen aus der Erde wuchs. Die Tür war geschlossen. Ein Hund schlug an. Oben klirrte ein Fensterriegel. »Halt – wer da?«
»Friedrich Stoltenkamp.«
»Kann passieren!«
Das Fenster stemmte sich gegen den Wind. Dann knallte es zu, daß die Scheiben tanzten. Und der Herr des Hauses wartete mit seinem Sohn eine Weile und noch eine Weile, bis ein paar Reiterstiefel die Treppe hinunterstampften, zweimal ein Schlüssel sich drehte und zum Überfluß noch ein Holzkeil mit einem Hammerschlag aus dem Riegelverschluß getrieben wurde.
In der Türöffnung stand eine hagere Gestalt in verschlissenem Offiziersrock, das Gesicht wie dreimal gegerbtes Leder von bläulichem Rot. Die Nase war scharf wie eine Messerklinge, und die Augen hatten den stahlblauen Glanz, den Wind, Wetter und ein guter Tropfen verleihen.
»Guten Abend, Herr Major. Sie halten ja die alte Mühle wie eine Festung verrammelt.«
»Wir sind beim Gießen.« flüsterte der Major geheimnisvoll. »Guten Abend, Stoltenkamp.«
»Beim Gießen?« wiederholte Friedrich Stoltenkamp, und unwillkürlich dämpfte auch er die Stimme. »Hat sich mein neuer Tiegel bewährt?«
»Der neue Tiegel? Daß mich der Deibel. Stoltenkamp, können Sie beschwören, daß Sie den neuen Tiegel meinen?«
Friedrich Stoltenkamp streckte sich kerzengerade. »Was ist Ihnen, Herr Major? Ich spreche von dem neuen Tiegel, den ich herausgeschickt habe. Den größeren.«
Der Major fing mit zwei Fingern seine Hakennase, als ob er sich schneuzen wollte.
»Ah, ah,« preßte er hervor, »so, so. Der größere. Jetzt verstehe ich vollkommen. Wie sich der größere bewährt hat, meinen Sie. Der größere ist natürlich zu groß.«
»Darf ich jetzt in mein Haus eintreten?« sagte Friedrich Stoltenkamp knapp.
Der Major horchte hinter sich. Die Ohren legten sich flach an den Kopf, als sögen sie in dieser Lage jedes Geräusch in der Mühle ein. »Sie sind scherzhaft, Stoltenkamp. Zu jeder Tages- und Nachtstunde ist es uns ein herrliches Vergnügen.«
Steif schritt Friedrich Stoltenkamp an ihm vorüber. Der Sohn folgte ihm stumm. Und steif stieg Friedrich Stoltenkamp die Treppe hinauf und trat in den Gießraum. Sein erster Blick sagte ihm, daß das bißchen Holzkohlenfeuer, das um einen Tiegel geschichtet war, erst vor einer Minute entzündet sein konnte. Wohl während sie vor der Haustür verhandelten.
Vor dem Tiegel hockte in verschlissener Uniform, den Rücken der Tür zugekehrt, eine zweite hagere Gestalt. Die Flamme warf den Schattenriß mit der scharfen Nase über Fußboden und Wand. Der Mann stierte so angestrengt in den Tiegel, daß er den Eintritt Stoltenkamps überhaupt nicht gewahrte.
»Guten Abend, Herr Major. Nein, Sie beschämen mich durch Ihren Fleiß.«
»Jesus Maria!« rief der Major und schreckte so jäh empor, daß sein Reiterstiefel durch die stiebende Holzkohle fuhr. »Stoltenkamp! Ja, ob Sie das nun sind oder ein anderer, da muß ich doch mit Verlaub sehr bitten. Sehr! Jawohl. Es ist und bleibt das erste Gesetz, beim Gießen nicht zu stören. Die leiseste Erschütterung zu vermeiden. Nun ist der Guß zum Teufel mitsamt dem Tiegel.«
»Der Tiegel war wohl sowieso zu groß,« meinte Friedrich Stoltenkamp, und es zuckte leicht um seine Mundwinkel.
»Wollen Sie damit sagen, daß ein größerer Guß etwa außerhalb des Bereichs unserer Möglichkeiten läge?«
»Der Herr Bruder sprach mir vorhin davon,« sagte Stoltenkamp wie beiläufig.
»Der Herr Bruder?« echote der Major. »Das Bruderherz scheint nicht ganz bei Verstand zu sein.« Und seine Augen suchten den Bruder und winkten ihn herbei.
Der trat vor und strich kopfschüttelnd seine Nase.
»Unser hoher Gönner beliebte mich mißzuverstehen. Es war von dem größeren Tiegel die Rede und nicht vom größeren Guß.«
Friedrich Stoltenkamp spürte sein Blut hochgehen. Scham und Zorn trieben es ihm hoch.
»Wollen Sie den größeren Guß etwa in einem alten Hut ausführen?« fragte er scharf. »Auf den Tiegel kommt es an und auf die Beharrlichkeit. Langsam, vom Kleinsten zum Größeren, und nicht sprunghaft auf gut Glück!« Und er wußte nicht, daß er die Worte seines Jungen nachsprach.
»Herr, Sie halten uns wohl für eine Art Glücksritter?«
»Herr, ist das der Lohn für dies – dies Hundeleben?«
»Oder liegt eine tiefere Absicht zugrunde? Ist die Kasse leer? Will man uns los sein? Oh, oh, ein Wort genügt. Wir sind keine Marodeure, die Leichen plündern.«
Wie zwei Raubvögel, die ihr Gefieder spreizen, standen die beiden Brüder vornübergeneigt vor Friedrich Stoltenkamp. Sie warteten auf eine heftige Entgegnung. Sie forderten sie heraus. Und Friedrich Stoltenkamp merkte es ihnen an, daß sie den Streit suchten, daß er ihnen gelegen kam. Daß die Ratten das Schiff verlassen wollten, auf dem es nichts mehr zu knabbern gab. Und er fand die stille Vornehmheit der Ratsherrengeschlechter, die den Stoltenkamps seit Jahrhunderten im Blute war.
»Ich danke Ihnen,« sagte er mit höflicher Stimme. »Ich weiß, daß Sie es immer gut mit mir gemeint haben, und daß Ihre Ritterlichkeit auch jetzt nur zu dem äußerlichen Mittel des Zankes greift, um mir die Lage des Erledigten zu erleichtern. Wie gesagt, ich danke Ihnen.«
Die beiden Streithähne wechselten den Ausdruck. Einen Augenblick schwankten sie, zu welcher Miene sie greifen sollten. Dann entschieden sie sich für die des gutmütigen Polterers.
»Bester Stoltenkamp –«
»Alter Freund und Kumpan –«
»Sie machen es einem verteufelt schwer, das Gesicht zu bewahren. Aber da Sie nun selber so freimütig den schmerzlichen Punkt berühren, bedarf es keiner Verstellung mehr –«
»Die nur aus tiefstem Mitgefühl für Sie entsprang, Stoltenkamp. Denn bei einem ordentlichen Krach kommt auch der Verlierer noch auf seine Kosten.«
Friedrich Stoltenkamp faßte den Humor der Lage. Nein, diese abenteuernden Kriegsknechte waren im Grunde doch gutmütige Kerle. Ein bißchen Stegreifritter, gewiß. Man durfte sie nicht in der landläufigen Art nehmen.
»Es ist sehr gütig von Ihnen, meine Herren Majore,« sagte er freundlich, »daß Sie mir Ihr Entgegenkommen, wenn auch auf etwas ungeahnte Weise, zu zeigen wünschten. Da sie wissen, wie es in absehbarer Zeit um meine Kasse steht –«
»Und der Vetter Grote?« fielen die Herren Majore beutegierig ein.
»Hat auch versagt. Hätten Sie es gewußt, nicht wahr, so hätten Sie sich den Guß am späten Abend erspart. Aber er wird mir als ein Zeichen Ihrer Unermüdlichkeit und Hoffnungsfreudigkeit immer im Gedächtnis bleiben.«
Die Majore kniffen die Augen ein. Sie spürten den Dorn. Dann aber legten sie die Stirn in teilnahmsvolle Falten, traten auf den langjährigen Quartiergeber zu und streckten ihm die Hände entgegen.
»Kopf hoch, Stoltenkamp. Jed Ding will sein Lehrgeld. Und machen Sie sich um uns keine Sorgen. Es finden sich immer noch Leute und Länder für Männer unseres Schlages, solange die Welt steht. Also keine Kümmernis unseretwegen, verehrter Kamerad.«
»Sie beschämen mich.«
»Kein Wort weiter. Die Gutmütigkeit liegt uns nun mal im Blut. Die ist nicht erst mit den Jahren wie eine Speckschicht angewachsen. Hören Sie, das war bei Großbeeren. Ich war am Abend vor der Schlacht mit meinem General ein wenig das Gelände sichten gegangen. Bis zu den französischen Vorposten. Da kauert so ein armer Teufel und stopft sich das Pfeifchen. Wir liegen auf zehn Meter vor ihm hinter einem Busch. Der General befiehlt: Schießen Sie ihn ab, Leutnant. Denn ich hatte einen Karabiner mitgenommen. Ich sage: Herr General, er hat sich gerade einen Tobak angezündet. Den möcht ich ihm vergönnen. Und ruhig hab ich zugeschaut, bis der Franzos sein Pfeifchen ausgeklopft hat. Dann ›päng!‹ – da lag er. Nicht um ein Tabakblatt früher.«
Der Brüder klopfte ihn zärtlich auf den Rücken. »Weiches Herz – –«
»Geben Sie mir ein Glas Wein,« sagte Stoltenkamp. »Ich möchte noch einmal mit Ihnen anstoßen und Ihnen glückliche Reise wünschen.«
Die Majore rissen die Tür zu ihrem Wohngemach auf. Ein undurchdringlicher Tabaksqualm balgte sich in der Stube. »Ja, ja, ja,« entschuldigte der eine, »man raucht sich halt sein Elend vom Leibe.« Und dann lächelte er verschämt. Da stand ein Wassereimer in der Ecke, von dem ein eilig übergeworfenes Tuch heruntergeglitten war. Friedrich Stoltenkamp sah vier Flaschenhälse ragen. Und der Major, der seinem Blick gefolgt war, fuhr entschuldigend fort: »Oder man trinkt es sich mitunter auch vom Leib.«
Dann machte er gewandt den Wirt.
»Das Saufen, das Saufen. Nicht der siebente verträgt's. Man bringt es als Gabe mit auf die Welt, oder man lernt's im Leben nicht. Das war im Jahre nach dem Krieg. Anno 1816 war's. Man hatte die auf dem Schlachtfeld beerdigten Kameraden zur Beisetzung in die Heimat übergeführt, und wir alten Kriegsgefährten hockten beieinander und stießen miteinander an, bis die Sache so weit war. Dann hieß es: ›Angetreten!‹ Mein Gott und Vater, war das traurig. So etwas von Trauergefolge habe ich nicht wieder erlebt. So ein schmerzliches Gewanke. Und der Festredner mußte aufgeschnappt werden, damit er nicht in die Grube fiel. Na, zum Wohlsein, meine Herren.«
Friedrich Stoltenkamp hatte die Ratsherrnwürde wieder abgelegt. Seine gesellige Natur hatte wieder Oberwasser erhalten. Er saß auf dem kattunüberzogenen Kanapee und ergötzte sich aus voller Seele an den Schnurren der gerissenen Gesellen. Fast tat es ihm leid, daß er den Gesang der beiden Spottdrosseln nun nicht mehr vernehmen sollte. In der Spießbürgerlichkeit hierzulande, die sein beweglicher Geist so oft und so niederdrückend empfand. Er wußte nicht, daß er aus dem kattunenen Überzug ein Spiel Karten hervorgezogen hatte und es immer wieder durch die Hand laufen ließ. Bis es ihm einer der Majore sacht aus der Hand nahm.
»Es ist nur, um sich zuweilen das Elend vom Leib zu spielen,« sagte der Major.
Und Friedrich Stoltenkamp sagte: »Ja, ja – der Gußstahl ...«
»Da hatten wir mal,« lenkte der Major ab, »in der Schlacht bei Leipzig einen Überläufer erwischt, der das Schießen und Stechen nicht vertragen konnte. Bruderherz und ich lagen am Abend des zweiten Schlachttages am Feuer und langweilten uns. Denn wir konnten uns mit den Karten doch nicht gegenseitig die Löhnung wegnehmen. Da kam uns der Überläufer wie vom lieben Gott gesandt. Er konnte Karten spielen. Nun, er spielte unter dem Hund. Und für jede falsch geworfene Karte gab es einen Knuff und Puff, bis der Kerl rot und blau am ganzen Leibe war und uns himmelhoch anflehte, lieber wieder in die Schlacht zu dürfen. Sie sehen, meine Herren, daß das Kartenspielen auch seine erzieherische Seite hat.« Und er entkorkte umständlich die zweite Flasche.
»Ach, meine Herren,« sagte Friedrich Stoltenkamp und hob sein Glas, »es ist ein Jammer, daß sich unsere Wege trennen müssen. Auf gut Glück allzeit.«
»Auf gut Glück bei den Mijnheers.«
»Sie wollen nach Holland?«
»Die holländische Regierung verlangt nach tüchtigen Offizieren. Da dürfen wir nicht Nein sagen. Ausgetrunken, tapferer Stahlfinder. Es lebe die holländische Armee!«
Der junge Stoltenkamp war in der Schmelzkammer geblieben. Gläserklirren, Stimmengewirr und Gelächter zogen ihn ins Wohngemach. Er sah seinen Vater auf dem buntgewürfelten Kanapee zwischen den beiden abenteuernden Kriegsgurgeln sitzen und winkte ihm mit den Augen.
»Geh nur heim, Fritz. Es ist der letzte fröhliche Abend auf lange Zeit. Den vergönnst du mir doch.«
Der Junge nickte. »Nimm nur das Laternchen an dich. Gute Nacht, Vater.«
Er ging. Die beiden Majore sah er nicht. Hinter ihm blieb der Lärm übermütiger Knaben. Und er selbst ging mit sorgenschweren Mannesgedanken durch die nachtdunklen Felder auf die Heimatstadt zu, in der auch schon die Lichter erloschen waren.
*