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Durch die leeren Straßen des Landstädtchens ging der grübelnde Junge mit seinem gleichmäßigen Schritt dem elterlichen Hause Zu. Er horchte auf die inneren Stimmen und suchte Ordnung in sie hineinzubringen. Aber über das Wort »Ordnung« kam er nicht hinaus, so sehr er den jungen Kopf zerquälte. Immer wieder sagte er es vor sich her, um seine Gedanken in Reih und Glied zu bringen, damit sie marschfähig würden. »Ordnung, Ordnung.« Und da überkam es ihn, daß er ja längst gefunden hatte, was er zu suchen wähnte: die Grundlage des Lebens und der Arbeit, die Wert und Wachstum des Lebens bestimmt, mußte die Ordnung sein.
Er hob den zergrübelten Knabenkopf und gab dem hochaufgeschossenen Körper eine gerade Haltung. Die Filzmütze schob er fester in das dichte, aschblonde Haar. Wie eine Windstille war es plötzlich in ihm geworden, in der er nur noch eine Stimme vernahm – die Stimme des Unsichtbaren.
»Ordnung.«
Auch die Landstadt um ihn her lag wie in einer Windstille. Um zehn Uhr erloschen die letzten Lichter in den Bürgerhäusern, denn was die Kohlen- und Eisengruben des Stadtkreises bestieg, hatte frühen Tag, und Handel und Wandel hatten sich den einfachen Bedingungen des Verkehrs anzupassen. Der Nachtwächter lehnte in einem schützenden Torbogen und hob kaum die gequollenen Augenlider, wenn sein Spitz anschlug und vor Schreck, daß ein Mensch noch die Straße querte, die Haare sträubte, »'s ist ja der Laternenlöscher, dummes Viech. Stör nicht die Nachtruh.«
Und der Laternenlöscher, selber erschrocken über den Widerhall seiner Schritte, kurbelte an den Häuserecken hastig die Ketten hernieder, an denen – quer über die Straße – die Öllampen baumelten, pustete die Lampen aus und kurbelte sie wieder hoch. Eine Weile noch glommen die ersterbenden Dochte wie Glühwürmchen durch die Nacht.
Der Junge stand vor seinem elterlichen Haus. Es war ein zweistöckiges, schieferbedecktes Mansardenhaus, dem die geschnitzten, weißgestrichenen Tür- und Fensterrahmen mit den grünen Schutzläden ein behäbiges Aussehen verliehen. Die steinerne Treppe sprang bis auf die Straße, und ein schmiedeeisernes Gitter gab ihr ein gefestigt bürgerliches Gepräge. Den Schritt gedämpft, stieg der Junge die Stufen hinauf und drückte behutsam die schwere Klinke nieder. Man schloß nicht ab im Stoltenkampschen Haus, solange der Hausherr draußen war. Man fürchtete keine Diebe. Die Leute hierzulande strichen sich vor dem Zubettgehen über die Armmuskeln.
Im vorderen Flur, der Haustür am nächsten, lag das Arbeitszimmer und Geschäftskontor des Vaters, mit den Fenstern nach der Straße. Hinter der Haustreppe, die breit und gemächlich anstieg, war der Mutter Küchenbereich. Und das obere Stockwerk barg die gute Stube, in der die Besuche der Freunde und Verwandten entgegengenommen wurden, das Eßzimmer und das Schlafgemach der Eltern. Hier zögerte der Junge eine kleine Weile, hielt den Atem an und lauschte. Die Mutter schlief ihren ruhigen Jungmädchenschlaf. Die Mutter ... Es war ein heller Schein in den Augen des Knaben, als er die Mansardenstiege hinaufhuschte, die zu den Schlafstübchen der Kinder führte.
Er machte nicht Licht, um die Geschwister nicht zu wecken. Der zehnjährige Eberhard schlief mit ihm im selben Zimmer, die zwölfjährige Amalie im Stübchen nebenan. Er tastete sich nach seinem Bett, legte die Kleider über den Stuhl, schauerte einen Augenblick in dem kühlen Bettleinen und lag schon im Schlummer, bevor er den letzten Gedanken zu Ende denken konnte.
Einmal nur fuhr er auf. Da war der Vater heimgekehrt. Er hörte durch die dünne Decke die fröhliche Stimme, die Bericht erstattete, und er hörte die Mutter in die Hände klatschen.
Jetzt freut sie sich, dachte noch der Wiederentschlummernde, weil die Majore – den Laufpaß – haben.
Früh am Morgen war er auf den Beinen. »He, Eberhard, aufstehen! Die Schule kommt nicht ans Bett!«
»Mir is so schlecht –«
»Ach so. Lateinstunde. Wieder nicht vorbereitet. Ich werd mal den Schwamm nehmen.«
»Untersteh dich.« Und die nackten Beine flogen im Schwung aus dem Bett.
»Mach, daß du in die Buxen kommst. Die Amalie muß durchs Zimmer.«
Der Zehnjährige zog sich gähnend das Nachthemd über den Kopf. »Gott, die Pute. Sie soll sich nur nich so.«
Klatsch, saß ihm der nasse Schwamm auf dem Rücken.
»Du – laß das! Nich noch mal, sag ich! Klätschnaß! Es braucht nur einer ein Mädchen zu sein, und du machst Umständ Gott weiß wie.« Durch das Zimmer kam die Schwester im geblümten Kleidchen. »Guten Morgen,« sagte sie. »Seid ihr wieder nicht fertig? Eberhard, du solltest dich wirklich ein bißchen schämen.«
»Kuck doch weg, wenn et dich scheniert. Mich scheniert et nu mal gar nich.«
Amalie Stoltenkamp zog ihr krauses Näschen. »Seit der Junge Latein lernt, ist er von einer Frechheit –«
»Er lernt ja gar keins,« lachte Fritz. »Komm, Amalie, ich geh schon mit und helf dir den Kaffeetisch decken.«
»Ihr habt ja noch gar nich zu Morgen gebetet!« brüllte der Junge hinter ihnen drein. Dann aber ging es fix in die Kleider.
Frau Friedrich Stoltenkamp kam schon aus der Küche. Ihre feine, zierliche Gestalt umschloß ein geblümtes Kleidchen von selbem Stoff und Muster, wie es ihr Töchterchen trug. Eine weiße Hausschürze deckte das Kleid, und in dem vollen braunen Haar saß ein Spitzenfleck wie die Andeutung eines Häubchens. Als sie neben den Kindern stand, schien sie nicht anders als die ältere Schwester zu sein. Friedrich Stoltenkamp hatte sich die feine, kleine Schönheit erheiratet, als sie erst sechzehn Lebensjahre zählte.
Selbst die gestrenge Frau Jodokus Stoltenkamp, Friedrichs früh verwitwete Mutter, vermochte dem eben Zwanzigjährigen angesichts so viel Liebreizes nicht im Wege zu sein. Doch war sie, auch im Laufe der nun fünfzehnjährigen Ehe, dabei geblieben, in Frau Margarete das Kind und, wenn es hoch kam, den Zierat des Sohnes zu sehen.
»Nun, ihr Schwalben,« rief die Mutter den Kindern entgegen, »seid ihr aus dem warmen Nest gekrochen? und Hunger habt ihr wohl auch schon? Flink, Amalie, hilf der Trine den Frühstückstisch richten. Vater ist auch schon auf.«
»Wie du heute aussiehst,« sagte Fritz, als die Schwester davongesprungen war. »Das ganze Haus ist hell.«
Die Mutter strich ihm mit der weichen Innenhand über das Gesicht. Von der hohen Knabenstirn bis zu dem festen Kinn. »Hab auch Grund dazu, Fritz. Weißt wohl schon, weshalb. Und der Vater ist fröhlich und guter Zuversicht wie nie. Trotz der Absage des Vetters Grote.«
»Hat Vater dir gesagt, daß ich heut noch die Schule verlassen soll? Daß ich zu ihm soll, in die Lehre?«
Mutter und Sohn sahen sich in die Augen. Schon war der Sohn um ein paar Fingerbreiten über die Mutter hinausgewachsen. »Wie groß mein Junge geworden ist,« murmelte die junge Mutter. »Und nun will er noch weiter wachsen.« Und sie legte ihm schnell die Hände um den Kopf und küßte ihn auf den Mund. »Nimm das als gutes Meilengeld.« Und schon war sie im Eßzimmer verschwunden.
Fritz Stoltenkamp stand noch immer unbeweglich auf demselben Fleck. Überschwengliche Zärtlichkeiten waren nicht des Hauses Brauch. Sie paßten nicht zu des ganzen Volksstammes Art und Wesen. Und mitten auf den Mund hatte ihn die Mutter geküßt und dabei die Hände hinter seinem Kopf verschränkt. Das sagte mehr als: Ich segne dich für deine Lehrzeit, das sagte: Ich vertrau auf den Mann in dir. Und nun wußte er, daß diese Stunde seines Lebens Feierstunde sei.
Mit glühendem Gesicht trat er in den kleinen Familienkreis, der sich um den gedeckten Kaffeetisch versammelt hatte. Er begrüßte den Vater und setzte sich zu den Geschwistern. Und dann mußte er den Vater betrachten, den schmalen, blassen Kopf mit den lebendigen Augen, in denen es heute auch wie ein frohes Scheinen lag. Und der Vater nickte ihm zu. So, wie man einem jungen Mitarbeiter zunickt und nicht einem Knaben.
»Trink doch ein bißchen schneller,« drängte Eberhard, »es wird Zeit zur Schule.«
»Ich geh nicht mehr zur Schule,« sagte Fritz und sah steif geradeaus. »Ich trete beim Vater in die Lehre.«
»Der Fritz hat das Fieber!« schrie der jüngere Bruder. »Ich glaube, er hat auch Lateinstunde.«
Der Vater hob den Kopf. »Ich wollte, du Strudelkopf wärst im Leben nur halb so fieberfrei wie der Fritz. Und nun lauf und bestelle dem Rektor, ich käme am Morgen noch bei ihm vor.«
Da stieß dem Zehnjährigen das Schluchzen auf.
»Weshalb – weshalb durfte der Fritz vier Jahre früher zur Welt kommen?«
»Komm,« sagte die Schwester und nahm den Widerstrebenden bei der Hand, »wir haben ein Stück Schulweg zusammen.« Und sie knickste vor den Eltern, daß ihr geblümtes Röckchen knitterte, sah den älteren Bruder verwundert von der Seite an und führte wie eine kleine Dame den jüngeren hinaus.
»Die hat auch ihren Kopf,« schmunzelte Friedrich Stoltenkamp zufrieden. Und dann wandte er sich seinem Ältesten zu. »Die Majore sind fort,« begann er. »Sie wollten nicht bei Tage ihren Auszug halten. Schlag Mitternacht nahmen sie ihren Ranzen, pfiffen ihrem Hund und verschwanden im Dunkel. Ganz wie die Alchimisten.« Und er lachte vor sich hin. »Es war überraschend.«
»Es war durchaus nicht überraschend,« sagte eine scharfe Stimme von der Tür her. »Ganz und gar nicht.«
»Mutter,« rief Friedrich Stoltenkamp überrascht, »so früh schon? Fritz, schieb den Sessel heran.« Die Frau mit den: frühgebleichten Haar unter dem schwarzen Seidenhäubchen nahm den Diensteifer der Ihren ruhig hin. Sie setzte sich in den Sessel und nahm der Schwiegertochter die eilig dargebotene Tasse Kaffee aus der Hand. Der Mund war hart wie eine Linie. Und die Augen musterten erst der Reihe nach die Gesichter der Anwesenden und dann mit einem einzigen Blick den ganzen Raum. Von den kattunbespannten, blinkblanken Kirschbaummöbeln bis zum letzten Blumentopf der Fensterbank.
»Mutter,« fragte Friedrich Stoltenkamp, »wußten Sie es denn schon?«
Die weißhaarige Frau kniff die Augen ein wenig ein und sog an dem heißen Kaffee.
»Wohl Hexerei?« sagte sie kurz in den Pausen. »Den Verstand in der Nähe haben und nicht in der Ferne. Das predige ich den Tauben. Und den Blinden dazu. Nur deinen Herren Offizieren, denen braucht ich es nicht zu predigen. Die sind hellhörig. Und hellsichtig wie die Sperber. Ausgerissen sind die Lumpen. Schlechtweg ausgerissen. Gar nicht geheimnisvoll. Weil sie die Rechnungsablage scheuten, darum.«
»Und Sie – Sie wußten das alles schon, Mutter?« fragte Friedrich Stoltenkamp noch einmal. »Und früher als ich?«
»Das wußte ich seit gestern nachmittag, lieber Sohn. Und deine Herren Majore wußten so gut wie ich, daß deine Wanderung zum Vetter Grote die letzte deiner vergeblichen Wanderungen bedeuten würde. Darum erschienen sie bei lichtem Tag in der Stadt, um sich zur Reise auszurüsten.«
»Und von dir haben sie Abschied genommen?« fragte der Sohn. Die alte Frau Stoltenkamp lachte, daß sich die Lippen von den kräftigen Zähnen hoben. »Abschied – genommen? Deine rittermäßigen Freunde? Ach, Friedrich, ich glaube fast, ich habe ihnen den Abschied gegeben, und ich will mich noch einmal im Grabe an ihren Gesichtern freuen. Wie es sich machte, meinst du? Nun, sie kamen zu mir ins Geschäft und berichteten mir, heute würde es ihnen glücken, und sie hätten nur eilig ein Einsatzmaterial nötig, um den Guß zum herrlichen Abschluß zu bringen. Da du über Land seist, möchte ich ihnen zwanzig Taler Münze geben. Darauf ging ich ein.«
»Um Gottes willen, Mutter, darauf gingen Sie ein?«
»Aber gewiß. Ich sagte den Herren, ich hätte noch ein Guthaben bei dem Eisenhändler, und davon sollte er's abziehen. Daß du da deine Ritter nicht gesehen hast! Wie die geschundenen Raubritter trotteten sie von dannen, denn beim Eisenhändler gab es weder Rock noch Hose noch Stiefelsohlen zu kaufen.«
Es lachte keiner in der kleinen Runde, und auch die herbe Frau lachte nicht mehr. Es war ein langes, drückendes Schweigen. In den Augen der Weißhaarigen aber glomm ein kleines, mildes Licht auf, und sie legte ihre sehnige Hand auf die zuckenden Hände des Sohnes.
»Nun, Friedrich, du bist sie los. Und wir wollen von dem Abenteuer nicht mehr sprechen. Wir haben ernstere Sachen. Der Vetter Grote hat also abgelehnt.«
»Ja, Mutter. Er wie die anderen!«
»Und was gedenkst du zu tun?«
Friedrich Stoltenkamps Augen irrten im Zimmer umher. Dann trafen sie auf den Sohn. Und hier verharrten sie.
»Ich will Fritz in die Lehre nehmen, Mutter.«
Die Mutter nickte. »Gut, Friedrich. Das ist so gut wie eine Kapitalanlage. Und weiter?« Friedrich Stoltenkamp hatte das karge Lobeswort aufgegriffen. Seine Zuversicht fand schon wieder Boden.
»Mutter,« sagte er, »Sie wären gewiß nicht schon am frühen Morgen herübergekommen, wenn Sie nicht Rat wüßten.«
»Weih denn deine Frau keinen Rat?«
»Ach, Mutter, sie hat vor Freuden in die Hände geklatscht, als ich ihr diese Nacht den Abzug der Majore meldete.«
»So, so. In die Hände geklatscht hat sie. Das war brav.«
Aber Frau Margaretes Gesicht ging eine rote Welle. Bis in das braune Haar. Aber sie erwiderte nichts.
»Nun,« fuhr die alte Frau fort, »es bleibt also an mir hängen. Aber wann hätte ein Ertrinkender einen Rat gebraucht? Er braucht eine Planke. Ich kann noch einmal fünftausend Reichstaler flüssig machen. Aus einer Haushypothek. Sie ist in diesen Tagen fällig, und du kannst das Geld bei mir holen.«
»Sagt ich's nicht?« rief Friedrich Stoltenkamp. »Sagt ich's nicht?« Und er sprang auf und packte sich den Sohn. »Junge, das ist ein glücklicher Beginn für dich! Nun werden wir's meistern! Nun werden wir's meistern!«
Die Schwiegertochter stand neben der Mutter. Die alte Frau sah steif auf ihre Hand im Schoß und drehte an ihrem Trauring. Und Frau Margarete hob die Hand und strich der Frühgealterten ganz still über den Kleiderärmel.
Und die Mutter hob den Kopf und heftete ihren Blick in den Blick der Sohnesfrau.
»Wir Stoltenkampsfrauen haben es nicht leicht,« sagte sie. »Aber wir gehören zu unseren Männern.«
Die junge Frau hielt dem Blick ruhig stand. »Mutter, Sie überarbeiten sich für uns.«
»Du wirst es auch noch lernen. Und es wird dir mehr Spaß machen, als dich in bunte Rüschen zu stecken.«
Margarete Stoltenkamp sah an dem frischen Kleidchen nieder, das sich unter dem fest anliegenden Leibchen lustig bauschte. Und wieder glitt die mädchenhafte Röte über sie hin. Aus dem schmalen Halsausschnitt bis ins Haar.
»Wir Stoltenkampsfrauen haben es nicht leicht,« wiederholte sie leise. »Aber wir gehören zu unseren Männern.«
Die Weißhaarige fuhr sich über die Augen. Langsam hin und her. Dann erhob sie sich und ging zu ihrem Enkel. »Gib mir mal die Hand. So ... Du hast einen kräftigen Druck. Glückauf, Fritz.«
»Glückauf, Großmutter.«
Friedrich Stoltenkamp hatte nach Hut und Rock gegriffen. Er mußte sich auslaufen und die neuen Pläne ordnen. Er fühlte sich, aus dem Ungewissen herausgerissen und auf ein Stück festen Bodens gestellt, reicher und unternehmungslustiger als je zuvor. »Bleiben Sie noch, Mutter? Der Fritz ist empfänglich für starke Lebensregeln, und ich will inzwischen zur Stadtschule und ihn beim Rektor zur Abmeldung bringen. Dann können wir zum Mittag auf der Mühle den Lehranfang machen.«
Frau Margarete räumte die Tassen auf ein Kaffeebrett, deckte den Tisch mit einer feinen Häkeldecke, stellte ein Gläslein mit Reseden darauf und trug das Kaffeebrett in ihrem leise wiegenden Gang zur Küche. Ihren Jungen aber streifte sie mit einem lächelnden Blick, den er bei sich behielt.
Großmutter Stoltenkamp winkte dem Enkel, sich niederzusetzen. Sie saßen sich gegenüber, Knie an Knie, und der Knabe blickte still und aufmerksam in die Augen der Großmutter, die in die Ferne gingen. Und so sprach sie zu ihm.
»Wenn einer sein Leben in die Hand nimmt, um es von nun an selbst zu gestalten, wie du heute, Fritz, so muß er wissen, welche Werkzeuge ihm zur Verfügung stehen, und wie weit der Boden fest und tragbar ist, auf den er sich begibt. Nur so kann er eine richtige Berechnung aufstellen und auf ihr weiter aufbauen. Oder das ganze, mühsam errichtete Gebäude bricht ihm eines Tages über dem Kopf zusammen, weil ihm unter den Hausmauern die Grundlagen wegschwimmen. Das ist das Verbrechen so vieler Eltern, daß sie den Kindern nicht die Augen öffnen über die Mittel, die vorhanden sind, über den Grenzstrich, bis zu dem sie springen können, und sie in der Annahme belassen: Vater kann alles, Vater wird sorgen. Nur, um sich vor den Kindern ein Ansehen zu geben. Bis das Wetter einsetzt und Kinder und Eltern über den Haufen wirft. Aus der Bürgerklasse in die Bettlerklasse. Darum sage ich dir zum Lehrbeginn als erste Lebensregel: die Grundmauer eines jeden Werkes ist die Ordnung. Wer in sich selber und in seinem Tun Ordnung hält, daß er jedes Ding übersieht, der kann von keinem Wetter überrascht werden. Er hat die Rettungsleine längst bei der Hand.«
Die Ordnung! dachte der junge Fritz Stoltenkamp. Es ist dasselbe Wort, das vergangene Nacht die Stimme in der Windstille sprach. Und es wurde ihm ganz feierlich zu Sinn.
»Und deshalb,« fuhr die altgewordene Frau fort, »sollst du zu allem Anbeginn wissen, wie weit du zu springen hast.« Sie blickte auf den abgeschabten Trauring an ihrer Hand, drehte ihn langsam um den Finger und blickte dem Enkel plötzlich mitten in die Augen. »Du hast gar nicht zu springen. Du hast zu gehen, Schritt für Schritt, und bei jedem Schritt links und rechts neben dir den Boden zu sichern. Und erst von der neugewonnenen Grundlage aus hast du weiter zu gehen. Dann aber – immer weiter.«
Der Enkel hielt den Blick aus. Er zwinkte nicht mit den Augen.
»Die Stoltenkamps,« sprach die alte Frau weiter, »waren alle Springer. Springer in dem Reichtum, den sie einst besaßen, Springer in der Fülle ihrer Gedanken, die sie heute noch besitzen. Sie saßen als Bürgermeister und Ratsherren in den Ämtern der Stadt, als müßte es so sein. Sie hatten ihre Hand in jedem neuen Handelsunternehmen, als dürften sie nicht fehlen. Sie schürften nach Kohle und Eisenstein, als die Gruben erschlossen wurden, gerade so, als könnten nur sie die Wünschelrute besitzen. Sie hielten das offenste Haus, waren die witzigsten Kumpane beim Wein, gaben an Bedürftige und Schmarotzer und steckten ihren Namen wie ein Fähnlein im Wind heraus. Da war es kein Wunder, daß sie beliebt waren bei groß und klein, und daß sie lieber Geld dahinschwimmen sahen, als daß sie ein Titelchen ihrer Beliebtheit geopfert hätten, die sie für Würde hielten. Dein Grußvater war ein schöner und stattlicher Mann. Als er mich zur Frau wählte, glaubte ich zwanzigjähriges Ding auf einen Fürstenthron zu kommen. Nein, ich habe nichts bereut. Er war ein Mann von so starkem Geist und so reichen Gaben, daß er jeden mit sich riß bis in seinen Himmel. Mich auch. Nur daß ich bald merkte, daß dieser Himmel nicht die Erde sei, und daß wir ohne das Brot der Erde da oben verhungern würden. Da Hab ich tagsüber seinen Flug mitgemacht, und des Nachts habe ich gearbeitet und über den Geschäftsbüchern gesessen und gerettet und festgelegt, was ich nur vermochte, bis ich vor der Zeit mein graues Haar bekam. Denn ich zähle heute erst sechsundfünfzig, und du siehst nur die Greisin in mir, und dein Großvater sah sie eines Tages auch in mir, und es war ihm, als hätte ich all seinem stolzen Mannesempfinden eine Beleidigung angetan.«
Wieder drehte die Altgewordene langsam den Trauring am Finger. Dann fuhr sie ruhig fort: »Ich habe ihn aber doch liebgehabt. Weil ich verstanden habe, daß seinem Wesen von den Eltern her die festen Grundlagen fehlten, und daß seine funkelnde Art, die auch ich immer aufs neue bewundern mußte, sein ein und alles war. Und so habe ich weiter gesorgt und geschafft, daß ihm nichts an seiner Lebensführung fehle und er nicht den Sturz aus der Höhe täte. Und nur den Sohn konnte ich ihm nicht aus den Händen nehmen, seinen Liebling. Deinen Vater.«
Der Enkel rückte auf seinem Stuhl, und die Großmutter gewahrte es wohl.
»Das nutzt nun nichts,« sagte sie und blickte den Knaben an. »Du mußt wissen, mit was für Werkzeugen du arbeitest.«
Da nickte der Knabe und sah vor sich hin. Und es kam ein weicher Ton in die herbe, alte Stimme.
»Dein Vater» Fritz, ja, er war, wie man die Allbegabten nennt, ein Wunderkind. Er lernte spielend seine Aufgaben, und was er außerhalb der Schule anfaßte, hatte Schick und geriet ihm unter den Händen. Das war des Großvaters helle Freude, und er ließ den Knaben heute dies, morgen jenes verrichten, nie bei einer Sache verharren, den Geist wie einen Bogen spannen und bald hierhin, bald dorthin zielen. Und bald war es des Vaters und des Sohnes Stolz, daß jeder Schuß saß und die Umstehenden in die Hände klatschten. So wurde auch der jüngste Stoltenkamp ein Springer, nur daß er noch begabter war als sein Vater. Und er sah zeitlebens nur das gefeierte Ziel und nie die schwere Strecke. Als dein Großvater starb, wie ein Mann nach einem stolzen Fürstenleben, war das Bargeld erschöpft. Denn alles, was ich früher in den Nächten und später in den Tagen und Nächten erarbeiten konnte, hatte ich in Grundstücken angelegt, in Wiesen und Ackern draußen vor der Stadt und in den Ruhrfeldern, die nicht weggetragen und aufgezehrt werden konnten, weil ich sie in langfristige, billige Pacht gegeben hatte. Es war, als dein Vater sich selbständig gemacht hatte. Als er mit seinem wunderbaren Scharfblick dem gießbaren Stahl auf die Spur gekommen war und den Plan faßte, England über Nacht auszuschalten aus der deutschen Stahlversorgung. Ein Riesenplan! Und die Hunderttausende von Betriebsmitteln, die er erforderte, waren von den Stoltenkampschen Springern längst vertan um des großen und schönen Ansehens willen. Fritz, daß du es weißt: das Ansehen gibt nicht die Mitwelt. Was von uns bleibt, und was dann noch für die Nachkommenden wie ein Segen weiter wirkt, das schafft den Familiennamen.«
»Ja, Großmutter,« sagte der Knabe. Er hatte längst wieder den Blick zu ihren Augen gehoben.
»Das übrige,« schloß die Wetterhartgewordene, »hast du selber miterlebt. Denn du hast den Schwung der Stoltenkampmänner und den klaren Blick der Stoltenkampfrauen. Deshalb rede ich auch zu dir. Du hast die scharfsichtigen Entdeckungen deines Vaters miterlebt, seine glänzenden Versuche, aber du hast auch seine vielen Ehrenämter miterlebt, die ihm die Zeit stehlen, und du hast die Majore miterlebt und seine fröhliche Geselligkeit und seine Vertrauensseligkeit auf den kommenden Tag. Und deshalb wirst du wissen, weshalb seine Versuche nicht über eine kleine Entwicklung hinausgekommen sind und ein Darlehen immer mit einem anderen gestopft werden muß. Ich habe meine Handlung in Kolonialwaren, die deinem Großvater ein Greuel war, beibehalten, wie ich sie hatte. Jetzt wie damals hilft sie uns über manchen Berg. Die Grundstücke aber behalte ich in der Hand. Die Stoltenkamps sollen seßhaft bleiben und nicht hinter fremdem Herd verelenden.«
Sie beugte sich vor und streckte dem Enkel die sehnige Hand hin.
»Nun weißt du, Fritz, wie dein Werkzeug aussieht und wie der Boden ist. Und nun noch einmal, Fritz: Glück auf.«
»Glück auf, Großmutter.«
»Jetzt muß ich gehen,« sagte die Großmutter und erhob sich mit einem Ruck des Sessels. »Ich hab auch mein Geschäft.« Und sie ging, ohne sich umzusehen, aus der Tür und die Treppe hinab. Die Haustür klappte, und nun war alles still.
In der Stille aber öffnete sich leise die Stubentür, und die Mutter kam herein in ihrem feinen, geblümten Kleid und ihrer mädchenhaften Schönheit und blieb vor ihrem Jungen lächelnd stehen.
»Großmutter ist gegangen,« sagte sie, »und mein Fritz marschiert jetzt aufs Leben los mit lauter schwarzen Arbeitsgedanken.« Sie strich ihm mit dem weichen Handinnern über das erglühte Gesicht. »Vergiß das Taschenlaternchen nicht, von dem mir der Vater diese Nacht erzählte. Man muß bei aller Arbeit immer sein heimlich Sonnenstrählchen bei sich tragen, Fritz. Sonst macht der größte Erfolg nicht warm.«
»Der Vater kommt!« rief der Sohn und horchte nach der Haustreppe. Friedrich Stoltenkamp kehrte schon zurück. Ihm war auf der Straße eingefallen, daß Schmelzer und Hammerschmied auf der Mühle weder die Majore noch Arbeit vorfänden, und er hatte sich beeilt, den Sohn beim Rektor abzumelden und nach Hause zu gelangen. »Der Poensgen starrt den kalten Ofen an und der Haniel den stummen Reckhammer. Los, Fritz, wir müssen hinaus, Feuer schaffen und Bewegung. Gretelein, Magaretelein, koch etwas Einfaches zu Mittag, denn wir essen auf der Mühle aus dem Blechnapf, und rüste das Hauptgericht zum Abend für deine heimkehrenden Arbeitsleut. Vorwärts, Lehrling, vorwärts!«
Und Fritz reichte der Mutter die Hand und ging hinaus, die Mütze vom Haken zu nehmen. Friedrich Stoltenkamp aber wandte sich in der Tür um, fing seine Frau mit dem Arm und riß sie an sich, daß Bänder und Rüschen flogen. »Liebe! Liebe! Liebe!« Und dann war auch er hinaus.
Frau Margarete strich den bauschigen Rock zurecht und die Bänder an ihrem festen Leibchen. Sie wischte das zerflatterte Haar aus den Schläfen und wischte sich über den Mund.
»Wie ein wildes Pferd. Über Stock und Stein. So ein Vollblut.«
Vom Fenster aus sah sie mit strahlenden Augen hinter Vater und Sohn drein. Friedrich Stoltenkamp ging lebhaft dahin, der Junge mit dem ruhigen, seltsam zielsicheren Schritt.
Ob sie Glück haben oder nicht, dachte die Frau am Fenster, glücklich sollen sie werden. Mann und Kinder.
Friedrich Stoltenkamp wandte sich fern auf der Straße um, als hätte er eine Berührung verspürt. Er zog den Hut und winkte mit ihm zurück. Und nun wandte sich auch der Sohn und griff überrascht nach der Mütze. – – Aus dem Stadttor ging's hinaus und durch die weiten Felder, auf denen die Herbstzeitlosen in ganzen Scharen blühten. Oft lagen auf den Wiesen lange Strecken in kümmerlicher Grasnarbe. Dann wußte Fritz, daß hier ein Grubenstollen unter Tag lief, der den nährenden unterirdischen Wasserlauf abzog und ihm eine andere Richtung gab. Nichts, was zur Landschaft und ihrem Boden gehörte, war dem Knaben fremd. Solange er denken konnte, war er mit dem Vater oder allein auf Gruben, Hütten und Hämmer gelaufen. Was mit der Kohle zusammenhing oder mit dem Eisen, war ihm vertraut von Kindesbeinen an. Und den Schmiedehammer führte er, seit er ihn heben konnte, wie ein Alter. Jeden Handgriff sah er sich ab und verbesserte ihn.
Friedrich Stoltenkamp wußte, wen er als Lehrling bekam.
Da lag die alte Mühle am Bach. Aber Hammer und Pochwerk hätten sich nicht zu rühren vermocht, auch wenn die Majore zur Stelle gewesen wären. Denn der Bach, der in der Nacht noch so kräftig dahingeströmt war, sickerte nur trübselig daher. Von weiter droben aber klang lustiges Wasserrauschen, das in einem Murmeln verlief.
»Der Getreidemüller,« sagte der Junge zornig. »Da hält er wieder die Schleusen geschlossen, bis ihm die Arbeit gefällt.«
»Drei Prozesse habe ich verloren,« erklärte der Vater. »Nichts zu machen an der alten Gerechtsame. Und im Winter sperrt uns der Frost. Die Sammelbecken aber, die ich hab anlegen lassen, genügen auch nur für Kleinarbeit. Einen Hammer, der einen wirklich nennenswerten Stahlblock ausrecken sollte, werden sie nicht heben können. Daran krankt der Betrieb. Bis einmal die Dampfmaschine so weit ist, die sie schon in Essen bauen.« Sie kamen an das alte Mühlengebäude heran. An dem Tor des Seitengebäudes, das den Reckhammer zum Ausschmieden der Stahlgüsse enthielt, das Pochwerk zum Zermalmen des Tiegelmaterials und den Amboßherd, lehnten zwei Männer und starrten, die holländische Tonpfeife im Mund, auf das stillstehende oberschlächtige Wasserrad, das durch eine große Welle Hammer und Pochwerk bediente, während ein unterschlächtiges Rad den Antrieb der Bälge besorgte. Die Männer trugen Kittel und Hose aus blaugefärbtem Leinen, schwere Holzpantoffeln an den Füßen und auf dem Kopf alte seidene Schirmmützen. Von Zeit zu Zeit nahmen sie gemächlich die Tonpfeifen aus dem Mund, spuckten ins Wasser und schoben die Tonpfeifen gemächlich wieder zwischen die Zähne. Sie schienen sich über das Vorkommnis des Tages bereits ausgesprochen zu haben.
»Heda!« rief Friedrich Stoltenkamp den Feiernden zu. »Haniel! Poensgen! Hier bring ich euch den neuen Lehrling der Firma Friedrich Stoltenkamp! Seid ihr's zufrieden? Die Majore hat über Nacht der Teufel geholt. Was sagt ihr dazu?«
Die Männer fuhren auf und schnappten nach ihren Pfeifen. Sie rückten ihre Mützen zum Gruß quer über den Schädel und grinsten vor Vergnügen. »Herr Stoltenkamp,« sagte der Hammerschmied Haniel, »da haben Sie einen Lehrjung erwischt, mit dem ein Meister bei stockfinsterer Nacht arbeiten kann. Tag, Fritz. Glück auf!« Und der Schmelzer Poensgen meinte: »Herr Stoltenkamp, nix für ungut, aber die Majore waren Schweinigel von Kerls, und der Fritz ist heut schon ein Mann von Fach. Glück auf, Fritz.« Damit war der Fall erledigt.
Fritz Stoltenkamp hatte in Firma Friedrich Stoltenkamp seine Lehre angetreten.
»Schmeiß einmal einer dem Mahlmüller ein Stück Eisen gegen das Dach, damit er sich auf die Arbeit besinnt,« sagte Friedrich Stoltenkamp und ging mit dem Sohn in den Schmelzraum. Links und rechts von dem hohen Kamin flammte der Koks in den Schmelzöfen. Ein paar Glühöfen waren angegliedert, um durch Vorwärmen des Eisens das Schmelzverfahren zu beschleunigen. Die Gußtiegel standen sorglich aufgereiht. Friedrich Stoltenkamp stellte sie selber her aus einem Gemisch von Graphit und Ton, und er war stolz darauf, daß sie als die feuerbeständigsten der Welt galten.
Der Vater wies auf die mit Brand versorgten Ofen. »Arbeiter und Herren müssen ein Fleisch und ein Bein sein. Kein Auftraggeber war in der Frühe zur Hand, und doch ist alles im Lot. Selbst die Glühöfen sind mit Tiegeln versorgt. Hallo, Poensgen!« Der Schmelzer war schon zur Stelle. »Ist genügend vorgewärmt?«
»Alles nach der Regel, Herr Stoltenkamp. Und nun können die Gußöfen versorgt werden.«
»Vorwärts denn.«
Poensgen packte eine lange Eisenzange. Der junge Stoltenkamp packte eine zweite. Friedlich Stoltenkamp prüfte einen großen, neuen Tiegel und stellte ihn bereit. Der Hammerschmied Haniel stieß mit einer Stange die Ofentüren auf. Und beißende Glut schnob um die Männer, die, ohne zu zwinkern, in das Feuer starrten.
»Links anpacken, Fritz,« gebot der Schmelzer Poensgen, »ich pack rechts.« Und die Zangen schlossen sich, als wären sie nur eine, links und rechts um den Tiegel und hoben ihn sacht, ohne daß sein Inhalt sich regte, aus dem glühenden Bett. Wie ein Milchweib die Sahne, so schöpfte der Hammerschmied die Schlacke ab. Und nun goß der Schmelzer Poensgen das Einsatzmaterial in den neuen Tiegel, dem Friedrich Stoltenkamp die Flußmittel zusetzte, die dem Gußstahl seine bewunderten Eigenschaften, Gleichmäßigkeit, Dehnbarkeit und Naturhärte, gaben. Der Tiegel war beschickt. Er wanderte in den Schmelzofen.
Und wieder wurde ein anderer Tiegel aus dem Glühofen geholt und mit Flußmitteln beschickt und in einen zweiten Schmelzofen gebracht, bis die Schmelzöfen ihr Futter hatten.
Stunden hindurch hatten sie geschafft. Friedrich Stoltenkamp und sein Sohn in übergezogenen Leinenanzügen wie ihre Arbeiter. Schweißnaß waren Stirnen und Leiber. An Mittagessen hatte keiner gedacht. Jetzt holten die beiden Arbeiter hinter den Wärmöfen ihre blechernen Henkelgefäße hervor.
Der Junge, hungrig wie ein Wolf, schnupperte durch die Luft.
»Was hast du drin, Haniel?«
»Schweinernes mit Rüben. Delikat, sag ich dir. Willste mithalten?«
»Aber gewiß.« Und der Hammerschmied gab dem Gast den Löffel und nahm selbst die zweizinkige Gabel.
»Junge, Junge,« sagte Friedrich Stoltenkamp zum Schmelzer Poensgen, »dein Henkelmann ist auch nicht schlecht beschickt. Kann die junge Frau denn schon kochen?«
»Das sollten Sie mal probieren, Herr Stoltenkamp. War Köchin bei Wilhelm Grotes, und dies hier sind Erbsen mit Speck. Wissen Sie, nach der guten westfälischen Art, Herr Stoltenkamp.«
»Na, denn mal her mit der Kostprobe.«
Aber der Mann litt es nicht, daß der Herr mit dem Löffel in den Henkelmann fuhr. »Ich hol einen Teller von den Majoren. Allens werden die besäuftigten Schweinskerls doch nich kaputt geschmissen haben.«
Und er lief und brachte aus dem wüsten Wohngemach zwei Teller mit abgestoßenen Rosenrändern, und der eine trug die Inschrift: »Mit Gott fang an«, und der andere trug die Inschrift: »So leben wir«. Friedrich Stoltenkamp nahm einen der Teller entgegen. Den zweiten wollte der Schmelzer dem Sohn reichen. Der aber tauchte seinen Löffel längst in den Henkelmann Haniels, und der Hammerschmied stieß mit der Gabel nach.
»Herr Stoltenkamp,« sagte der Schmelzer zu seinem Herrn, »dat is en Lehrling, wie 'r im Buch steht. Da wird was draus.«
Das Mittagsmahl war beendet. Auch die kurze Verdauungsrast. Und während die Arbeiter neue Tiegel mit Einsatzmaterial zum Vorwärmen versorgten, mit Rohstahl und Eisenabfällen aller Art, scholl auch das Brausen des Baches wieder herauf. Der Hammerschmied ging zum Werk hinunter, und Friedrich Stoltenkamp und sein Sohn begleiteten ihn. Der Junge warf auf einen Wink die Welle los, und das Pochwerk wurde in Bewegung gesetzt. Der Graphit stäubte unter dem Gestampfe in schwarzen Wolken, und der Ton stob darüber hin wie Schnee über Ackerland. Friedrich Stoltenkamp ging an die Tiegelherstellung, und der Sohn griff zu beim Formen und Brennen, als hätte er nie Latein gelernt.
»Es gibt nichts Unwichtiges bei der Gußstahlbereitung,« belehrte der Vater den Sohn. »Aber das wichtigste ist die Beschaffenheit des Tiegels, denn der Tiegel ist für den Guß verantwortlich und damit für dein Geld. Alsdann kommt das richtige Einsetzen des Metalls, die richtige Beschickung der Tiegel mit den Flußmitteln. Es muß eben alles »richtig« sein. So richtig wie die Leitung des Feuers, die Untersuchung des flüssigen Metalls mit dem eisernen Spieß und die Anwendung einer Beschickung, die das Metall nicht zu streng flüssig und nicht zu wild macht. Nun, Fritz? Was ist bei all dieser Richtigkeit also das wichtigste?«
»Das Auge des Herrn,« sagte der junge Stahlgießer.
Da ließ der Vater die Lehren und vertraute auf den klaren Sinn des Jungen.
Es dämmerte bereits, als die langen Stunden des Schmelzverfahrens abgelaufen waren. Wieder standen die Männer vor der offenen Glut der Öfen, die um sich biß wie ein wütender Hund: noch sorglicher, noch zärtlicher wurden die Schmelztiegel hervorgeholt und der kochende Stahl in gleichmäßig schwebendem Fluß in eine Blockform gegossen. Den kleinen Block aber packte der Hammerschmied Haniel, und der Riese trug ihn in der Zange wie ein Spielzeug auf den Amboß unter den Reckhammer, der ihn aushärtete und von den letzten Schlacken befreite.
Friedrich Stoltenkamp machte die letzte Hammerprobe an ihm. Der Stahl war vollwertig. –
Schweigend marschierten Vater und Sohn durch den dunklen Abend zur Stadt zurück. Sie waren zu müde, um zu sprechen, aber innerlich freudig erregt wie nach einer gelungenen Tat. Und schweigend traten sie in das schieferbekleidete Mansardenhaus mit dem weißen und grünen Holzwerk, und Friedrich Stoltenkamp stand still, horchte zur guten Stube hinauf und sagte: »Das ist doch die Stimme des Münzwardeins Noelle?«
Da war alle Müdigkeit verflogen, und er sprang die Treppe hinauf wie ein Jüngling und fand den treuen Gönner und Freund im lachenden Gespräch mit Frau Margarete. »Noelle, Noelle – Sie hier?« Und der Münzwardein reichte ihm die Hand und meinte: »Ja, Düsseldorf liegt woanders und muß nun bis morgen warten. Und das kam folgendermaßen, wie ich Ihrer lieben Hausehre schon erzählte. Ich hatte nach dem großen Krach bei Ihrem Vetter Grote den Postwagen versäumt, weil ich zum zwölftenmal die Güte Ihres Stahles erläuterte, bis der Vetter Grote plötzlich erklärte, Ihr Junge gefiele ihm noch besser als Ihr Stahl. Aber weiter rückte er nicht vom Platz. Und als ich nun heute in aller Herrgottsfrühe so ganz erfolglos zum Postwagen gehe, wer taucht aus Nacht und Dunkel auf und strebt ebenfalls zum Postwagen? Gott soll mich bewahren, denke ich. Die Herren Majore. Woher – wohin? Nach Holland sagen sie, und der Vertrag mit Friedrich Stoltenkamp sei gelöst für alle Zeiten. Und der Junge träte ins Geschäft. Ich lasse Postwagen Postwagen sein, zurück zu Grote und trommle ihn aus dem Bett. Erst will er's nicht glauben und denkt, es sei eine Spitzbüberei von mir. Bis ich die Schwurfinger hob. Da geht er in Unterhosen durch das Zimmer hin und her und streichelt sich die Stirn. Dort, wo der Junge – na, das war einmal. Und dann sagt er: Wenn's stimmt, und der Friedrich macht nun ernst, und der Junge ist auch dabei, will ich den Stoltenkamps mit zehntausend Talern beispringen. Aber sie sollen mir vorläufig von der Tür wegbleiben, bis ich das Boxen gelernt Hab.«
»Und mit dieser Himmelsbotschaft,« schrie Friedrich Stoltenkamp, »kommen Sie erst am Abend, Noelle? Und lassen mich den Tag über auf der Mühle schwitzen?« Er atmete tief. »Nun wird neu gebaut.«
»Stoltenkamp,« sagte der Freund, »ich wußte es im voraus. Und da der neue Schmelzbau das Geld verschlungen haben wird, bevor er ans Eisenschlingen gerät, so bin ich ins Märkische auf die Eisenhütte meiner Brüder gefahren und habe Ihnen da auf Grund Ihres feinen Münzstempelstahls einen laufenden Kredit erwirkt. Denn der Schornstein muß rauchen!«
»Gretelein,« rief Friedrich Stoltenkamp, »alle Lichter an! Wein auf den Tisch! Das ist ein Fest- und Feiertag, und wir wollen ihn nicht wie einen Alltag verlaufen lassen.«
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