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3

Es wurde ein Herbst voller Freude. Ein Herbst, der sich bis in den Winter hineinzog mit frischen, sonnenhellen Tagen, und ein Winter, der keinen Frost sah bis in den Februar. Es war, als ob selbst die Natur dem Bauherrn zu Hilfe eilen wollte.

Denn Friedrich Stoltenkamp war Bauherr geworden. Und von Stund an gab es für ihn keinen anderen Anreiz mehr, als den Bauplan zu entwerfen, die Ausschachtungsarbeiten zu überwachen und Maurer und Zimmerleute anzustellen, anzuleiten und anzutreiben. Frau Jodokus Stoltenkamp hatte draußen vor der Stadt ein Grundstück zur Verfügung gestellt, ohne sich jedoch ihres Eigentumsrechtes zu begeben.

»Der Boden bleibt mein,« erklärte die geschäftskundige Frau dem Enkel Fritz, »Übernimmt sich dein Vater, so werden die Hypothekengläubiger keine Lust verspüren, Gebäulichkeiten zu ersteigern, die auf fremdem Boden stehen. Und man wird euch einen längeren Atem lassen, um euch wieder aufzurichten.«

Friedrich Stoltenkamp aber sah nur den Erfolg. Und als im Februar der Frost einsetzte und jede weitere Bautätigkeit brachlegte, stand der neue große Schmelzbau mit der verdoppelten Anzahl Schmelzöfen und seinen hohen Essen unter Dach und Fach. Blieb auch noch vieles in dem weitläufigen Gebäude leer, weil die Hilfsmaschinen erst entworfen und angefertigt werden mußten, so hatte Friedlich Stoltenkamp in seinem Baueifer doch schon Sorge getragen, ein schmales, einstöckiges Aufseherhaus mit luftigen Dachstuben neben dem Schmelzbau auferstehen zu lassen, und nun ging er hinaus aufs Land und warb sich geschickte Tagelöhner, die bis dahin neben ihrer Feldarbeit Kleinschmiedearbeit ausgeführt hatten, um sie an Tiegel, Schmelzofen und Hammer gründlich auszubilden.

Manch ein Stück wurde ihm von ungeübten Händen verdorben. Er rechnete es nicht. Mit solchen Kleinigkeiten hatte jeder große Betrieb aufzuwarten. Und er zählte sich zu den großen Betrieben.

Und in der Gewißheit seiner erhöhten Geltung in der Bürgerschaft nahm er mehr und mehr als bisher an den städtischen Angelegenheiten teil und eilte vom Rathaus in der Stadt zu dem Schmelzbau auf dem Lande und vom Schmelzbau zum Rathaus oder in die Vereinssitzungen. Sein Geist war so rege wie nie, und sein Planen nahm zu, je mehr die Arbeit drängte und lastete.

Zuerst erhöhte er die Größe der Tiegel. Jetzt faßte ein jeder fünfundvierzig Pfund, und die Gesamtheit ergab Güsse bis zu vierhundert Pfund. Das war doch ein Anfang. Darauf ließen sich doch Hoffnungen bauen. Jeder Nerv in ihm zog sich erwartungsvoll zusammen, wenn die Männer die Riegel von den glühenden Öfen stießen und die Zangen reckten.

Auf einem Pferdekarren wurden die gegossenen Blöcke hinausgeschafft zum Hammerwerk auf der Mühle. Aber der Hammer erwies sich zu schwach für die größeren Stücke, und die Wasserkraft hätte einen schwereren Hammer nicht zu treiben vermocht. Friedrich Stoltenkamp aber konnte auf dem eingeschlagenen Wege nicht mehr stehenbleiben, er mußte vorwärts um jeden Preis. An die Kundschaft hatte er volltönende Ankündigungen erlassen, in denen er sich zur Lieferung gegossenen Stahls jeden Gewichtes erbot, und es war genug an Aufträgen eingelaufen. Die Aufträge mußten ausgeführt, die Kundschaft erhalten werden, koste es, was es wolle. Er schloß mit fremden Hämmern der Nachbarschaft Verträge ab, ohne die hohen Fuhrlöhne in Rechnung zu stellen. Aber die fremden Hammerschmiede ahnten nichts von der Eigenseele des Gußstahls und reckten ihn wie Eisen. Da wurden die Lieferungen ungleichmäßig und fehlerhaft, und die Kundschaft schickte ihm große Posten zurück, ohne einen Groschen dafür zu zahlen. Der Gußstahl verlangte das Auge des Herrn.

Das Auge des Herrn aber irrte jetzt mitunter über die zunehmende Zahl der Gläubigerbriefe, in denen Zahlungsfristen gestellt oder mit Einstellung der Rohstofflieferungen gedroht wurde. Und Friedrich Stoltenkamp schnürte sie eines Tages zusammen und trug sie zu seiner Mutter.

»Ganz so schnell hatte ich dich nicht erwartet,« sagte die alte Frau, als ihr der Sohn in dem kleinen Kontorstübchen des Kolonialwarengeschäftes schweigend das Bündel unterbreitete. »Geh jetzt an dein Werk, nimm das Kleine zuerst vor, das du schaffen kannst, und gib den Dingen kein künstlich Wachstum. Ich werde das hier inzwischen durchsehen.«

Der Alb wich, wie er gekommen war. Die Mutter wurde schon fertig mit der Last – er kannte ja die Mutter – und er selber sah die Bahn wieder frei. Freilich, von dem Großbetrieb durfte er zuvörderst nur noch träumen. Einstweilen hieß es, dem Rat der Mutter folgen und sich mit kleineren Aufträgen über Wasser halten, bis das Wasser Tiefe genug bekam für sein Glücks- und Lebensschiff. Ah, das Leben war doch zukunftsreich.

Die Mutter aber hielt ihr bauschiges Seidenkleid noch feiner und glatter, band ihr Häubchen noch fester und bewußter über das frühgebleichte Haar, und die Bürger, die ihr ehrerbietig nachblickten, wenn sie so aufrecht über die Gasse ging, hätten es nicht geglaubt, daß diese stolze Stoltenkamp das Geld, das sie zur Zahlung der Sohnesschulden brauchte, in einzelnen Talern der täglichen Ladenkasse entnahm und ihr Brot oft trocken aß.

In dieser Zeit gelang es dem Düsseldorfer Münzwardein Noelle, dem Freunde einen größeren Auftrag an Stempeln für die Düsseldorfer Münze zu verschaffen, und der getreue Helfer, der schon aus vaterländischen Gründen dem deutschen Stahl den Vorrang vor dem englischen wünschte, ruhte nicht, bis sich auch die Berliner Münze zu Bestellungen bequemte und sich die Münzen süddeutscher Staaten anschlössen. Wind war wieder in den Segeln, wenn auch nur für einen bescheidenen Kahn. Aber Friedrich Stoltenkamp gedachte den leichten Wind bald zu einer steifen Brise zu steigern. Auch mit Kleinkram konnte ein großer Betrieb gefüllt werden, wenn man ihn in Massen herstellte. Und wieder kam seine unbändige Arbeitskraft hoch, und neben den Stempellieferungen machte er sich an die Herstellung kleiner, fertig geschmiedeter Gußstahlwalzen für Feinbetriebe und fertiger Werkzeuge für Handwerker und Kleinbetriebe. Dafür reichte auch das Hammerwerk auf der Mühle aus, nur daß jetzt der anhaltende Frost bloß einen dünnen Wasserfaden unter dem Eise durchließ und die Wege, als endlich das ersehnte Tauwetter eintrat, für den schweren Pferdekarren ganz versagten. Der junge Fritz Stoltenkamp wußte Rat. Er schirrte den Gaul als Reitpferd und befestigte die Stahlgüsse, wie sie aus dem Schmelzbau kamen, an den Steigbügeln. Und in jeder Morgenfrühe ritt er im Schritt hinaus über die erwachende Heimaterde und fand am Amboß in der Mühle den Riesen Haniel warten, der ihn samt den Stahlblöcken vom Pferde hob.

»Na, nu wollen wir mal der Morgenstund das Gold im Mund besehen,« sagte der lange Hammerschmied und warf die Welle los. Das Amboßfeuer glühte auf dem Herd, der Hammer dröhnte und stampfte, und während der Schmied den Stahl reckte und streckte, griff der junge Fritz zum Handhammer und schmiedete die Stücke in Form, daß die Funken stoben, Walzen und Werkzeuge jeder Art. Die Unterhaltung aber zwischen beiden forderte Lungenkraft.

»Wie lebst du eigentlich, Haniel?«

»Wie ich leb? Gut! Und bei der Frau am besten!«

»Versteh ich nicht, Haniel. Du redest mal wieder Unsinn.«

»Unsinn? Sagst du? Un verstehst du nich? Schaff di mal so'n lecker lütten Dern an, un du wirst mi wohl recht verstehn. Eck segg di dat, Fritz, so'n lecker lustig Fraunsmensch is forn Arbeitsmann die reinste Erholung.«

»Ich meine doch,« lenkte Fritz ab, »wie du dich so einrichtest mit Lohn und Auskommen.«

»Da frag du den lieben Gott,« schrie der Schmied durch das Hämmergedröhn. »Dat's allein Sache vom lieben Gott, un wie der nu grad aufgelegt is, die Kartoffeln wachsen zu lassen und die Ferkel im Stall. Einmal fett, einmal mager.«

»Du siehst nicht danach aus, als ob du darben müßtest, Haniel!« schrie der Junge zurück.

»Möchtst wohl mein Geheimnis kennen?« lachte der Schmied durch den Funkenregen. »Also denn paß auf, Fritz. Dat's also folgendes: Sind die Wochen fett, so freß ich dir wie ein Scheunendrescher un lieg wie ein Sack in der Sonne. Dat setzt Kraft an, wie Speck beim Schwein. Sind die Wochen mager – tja, Fritz, dann wird mich leicht wie eine Feder, un ich nehm die Frau, weißt du, rundum un sag bloß: Na, wolln mer mal tanzen? Spaß is immer dabei, ob fett, ob mager, un man muß sich die Sache nur richtig einteilen.«

Fritz Stoltenkamp hämmerte schweigend einen Lohgerberfalz zu Ende und griff nach einer Feile. Er arbeitete, bis ihm der Schweiß kam, und sein Gefährte schnaubte am Reckhammer. Der Mann da war also zufrieden. Und hatte acht gute Groschen Wochenlohn. Woran lag das? An der Frau, hatte der rußige Zyklop gesagt, daß das Lachen des Wortes noch durch die Schmiede schwirrte. Und plötzlich sah er den Vater und sah die Mutter und sah den Vater Sorgen und Ängste beiseite werfen, wenn der Mutter Blumenkleid raschelte und ihre Arme sich ihm entgegenhoben: »Friedrich, bist du da? Abgespannt, Friedrich? Ach, geh her. Ein Mann wie du läßt sich nicht unterkriegen. Nun wollen wir fröhlich sein, daß wir zusammen sind, und die ganze Welt auslachen.«

Und der Vater? Fritz Stoltenkamp härtete und glättete eine feine Goldschmiedwalze, bis sie glatt war wie ein Hauch. Und der Vater? Ja, der holte sich seine Spannkraft aus diesem immerwährenden Frauenfrühling, der wußte nur: so ein Kleinod darf keinen alltäglichen Mann haben. Und ob der Leib auch müde war, der Geist sprühte Funken wie der Sternenhimmel im Sommer.

Bei der ermüdenden Arbeit im Hammerwerk der öden Mühle, zur Seite des starken Haniel, lernte der junge Fritz Stoltenkamp den Wert seiner Mutter für den Vater verstehen. Und langsam spürte er, wie die Kraft ihrer Freude auch auf den Sohn hinüberglitt.

»Mutter, schöne, fröhliche Mutter – das Taschenlämpchen brennt auch bei mir.«

Als er am Abend den Gaul bestieg, um heimwärts zu traben, kam er noch einmal auf seine Frage zurück.

»Du fühlst dich also wohl, Haniel? Sag es ernsthaft. Es nutzt mir.«

Der Hammerschmied hatte, die Tonpfeife im Mund, vom Mühlentor aus dem Aufsitzen des Jungen zugesehen. Jetzt nahm er die zerbissene Röhre aus dem Mund und ließ die hochgezogenen Augenbrauen fallen.

»Dat Reiten lernst du, Fritz. Dat sagt dir en altgedienter Kürassier. Aufgesessen, Schenkel an un mit dem Leib liebevoll den Bewegungen des Gauls gefolgt. Bis Mann und Pferd denselbigten Willen haben. Un dat kannst du nu getrost auch auf dat Verhältnis zwischen Herr und Arbeiter anwenden. Der Schenkeldruck muß sein wegen Erzielung des Respektes. Damit man weiß, du bis in der Hand von einem sicheren Führer. Aber auch die Rücksichtnahme muß sein auf unsere Artung und Beweglichkeit in Körper un Verstand, damit wir wissen: der oben sitzt, fühlt jeden Schritt un Tritt mit uns. Dann wird man eins und kriegt denselben Willen. Un darum sag ich dir als Tagelöhner un Hammerschmied, Fritz: Ich fühl mich genau so wohl, als der Herr sich fühlt. Un geht et ihm dreckig, wie et gerad jetz den Anschein hat, so mein ich, ich säß selber im Dreck. Aber bei der Stange wird geblieben. Fett oder mager.«

Da ließ der junge Stoltenkamp dem Pferd die Zügel frei, das nach dem guten Hafertag in der Mühle in Galoppsprüngen über den Acker setzte. Der Wind sauste dem Reiter um die Ohren. Schrie ihm Lieder hinein und anfeuernde Worte. In sein Hirn aber kehrte immer dasselbe Wort zurück, das der Haniel ausgesprochen hatte: »Un geht et ihm dreckig, wie et gerad jetz den Anschein hat ...« Gerade jetzt? So fein war also das Empfinden der Arbeiterseele, daß sie die verheimlichten Sorgen des Herrn dennoch mitempfand, zur eigenen Sorge machte? Herr und Mann, jeder in seiner Art, und doch ein Leib und ein Wille. Dann mußten sich Wunder erwirken lassen, und war der Weg ein Morast wie Erbsensuppe zäh. Ja, ja, das war wohl gut so. Aber der Mann auf der Mühle wußte schon, wie es um den Herrn stand. Er wußte es schon.

Der Junge brachte das Pferd in den Stall und schritt zu Fuß in die Stadt hinein. Großmutter wäre vielleicht hinein geritten, dachte er. Wohl gerade jetzt geritten. Aber darin übertreibt Großmutter wohl. –

Und das Jahr kroch dahin und wurde ein schweres Jahr. Die Aufhebung der Einfuhrzölle, die jedermann beglücken und an den Schätzen der ganzen Welt teilnehmen lassen sollte, drückte die wagemutig aufgeschossenen Industrien wieder auf den Boden zurück. Getreide und Frucht aber ließen sich billiger aus den Häfen beziehen, als sie der heimische Landmann zu bauen vermochte.

Friedrich Stoltenkamp litt am schwersten unter der Zeit. Wohl hatte er seinen Stahl durch unermüdliche Verbesserungen aus den Kinderjahren herausgebracht und die Aufmerksamkeit der deutschen Fachleute und Verbraucher auf ihn gelenkt. Aber durch den Bau der noch immer unvollendeten Fabrik und die hohen Unkosten, die das Recken des Stahls auf fremden Hammerwerken erbracht hatte, waren seine Verbindlichkeiten gewachsen und gewachsen und seine Einnahmen gefallen und gefallen. Seinen heißen Lebenstraum, den Wettstreit mit dem englischen Stahl erfolgreich zu bestehen, sah er immer ferner entschwinden, ohne ihn halten zu können. Denn der englische Stahl hatte nicht nur freie Einfuhr, er hatte allerorts kapitalkräftige, feste Niederlagen, und ein Gesuch des kämpfenden Fabrikanten an die preußische Regierung, ihn in seiner vaterländischen Arbeit zu unterstützen, war höflich, aber abschlägig beschieden worden.

Und aufs neue begannen die Rohstofferzeuger Schwierigkeiten zu machen.

Friedrich Stoltenkamp änderte seine Bezugsquellen. Er kaufte sein Eisen bald hier, bald dort, auf kleinen Hütten, bei Händlern, denen es darauf ankam, ins Geschäft zu kommen. Er kaufte, wo ihm ein Kredit eröffnet wurde, und arbeitete bei Tag und entwarf bei Nacht neue Pläne. Aber die Ungleichmäßigkeit des Rohstoffes machte sich ohne weiteres in seinem Gußstahl bemerkbar, die Stempel wurden brüchig, die Walzen sprangen, die Werkzeuge erreichten den Härtegrad nicht mehr. Die Kundschaft wurde mürrisch und schickte Klagebriefe statt Bestellungen.

Ein paarmal schon hatte Friedrich Stoltenkamp seine Arbeiter feiern lassen müssen. Das drückte ihn am schwersten. Er ging im Spätherbst über Land und besuchte jeden einzelnen. Er fand Former, Gießer und Schmiede im Bauernkittel bei der Feldarbeit. Sie hackten auf den Äckern, die um ihre Häuschen lagen, die Kartoffeln aus, und die Frauen buddelten sie zusammen, füllten sie in Säcke und trugen sie auf dem Nacken heim.

»Kein gut Jahr, Poensgen,« grüßte der Herr. »Das Wetterglas will mir nicht mehr gefallen.«

»Dat geht umschichtig, Herr Stoltenkamp,« meinte der Angerufene, schlug seine Hacke in den Erdboden und stützte sich auf den Stiel. »Ja, wat ich sagen wollte, Herr Stoltenkamp, haben Sie schon mal so wat von Kartoffeln gesehen? Dick wie Mannsfäuste un immer zwanzig in einem Nest. Wenn Sie nich so gut sind un mir en paar Sack abnehmen, weiß ich bei Gott nich, wohin damit. Et Schwein muß doch zu Weihnachten dran glauben.«

»Wenn Ihr mir die Kartoffeln bringen wollt, Poensgen – die Kinder schlagen eine Klinge – na, Gott sei Dank.«

»Mein ich auch: Gott sei Dank, Herr Stoltenkamp. Un die Kartoffeln bring ich morgen.«

Friedrich Stoltenkamp ging weiter. Er hatte ganz vergessen, dem Poensgen ein aufmunterndes Wort in der Hoffnung auf eine baldige Arbeitsbesserung zu sagen, und er nahm sich vor, es beim nächsten zu tun.

»Fleißig, Haniel? Beim Schweinefüttern? Ja, die haben gute Zeit bei dem gesegneten Kartoffeljahr.«

Der Hammerschmied zog den Kopf von den dampfenden Trögen. Er strich sich das Schweinefutter von den Händen und schüttelte den Kopf.

»Gesegnetes Kartoffeljahr? Nee, Herr Stoltenkamp, dat is nur streckenweise. Mich müssen sie gerad einen neuen Stollen unter den Acker vorgetrieben haben, dat meine Erdäpfel verschrumpelt sind wie die alten Weiber, wenn sie sich giften. Na, Herr Stoltenkamp, un davon halten wir doch alle beide nix.«

Friedrich Stoltenkamp lächelte in die Ferne. Und der Mann vor ihm gewahrte es aus den Augenwinkeln und setzte seine Rede hastig fort: »En Glück, dat ich die gute Rübenernte hatt un überhaupt die Frau so fix die Schweinemast versteht mit Mehl un Kleie un allem Deubel, sons wären mich die Biester nich so fett geworden. Kucken Sie sich doch vor Spaß mal die Schinken an, Herr Stoltenkamp, un denn sagen Sie offen und ehrlich, ob Sie so wat drüben im Münsterland auch nur einmal haben wachsen sehen. Die ganzen Biesters sin sozusagen Schinken, un davon muß ich Ihnen einen schicken dürfen, damit sich die Frau Stoltenkamp auch überzeugt.«

Friedrich Stoltenkamp horchte auf. Das war ein Ton – ein Ton, den er schon beim Poensgen zu hören geglaubt hatte. Oder spielten ihm die empfindlich gewordenen Nerven einen Streich? Immerhin – er wollte Gewißheit haben.

»Ich komme wegen der Arbeit, Haniel. Ihr wißt schon. Die Engländer haben mir mal wieder in die Suppe gespuckt, gerad als sie gar war, und die Regierung singt Gesellschaftslieder und spielt Blindekuh. Da heißt es nun für uns im Ruhrgebiet, sich in Geduld fassen. Denn auch der dümmste Minister ist nicht unsterblich, wenn auch Dummheit unsterblich macht. Ja, Haniel, deshalb bin ich hergekommen.«

»Herr Stoltenkamp,« erwiderte der Mann, »so gewiß un wahrhaftig Ihr Besuch für mich eine Ehre is, aber wegen der Engelländer un ihrer Freunde in Berlin brauchten Sie sich den Weg nich zu machen.«

»Das weiß ich, Haniel. Aber ich kann doch nicht einfach die Feuer unter den Ofen ausblasen und euch nach Hause schicken, bis ich euch wieder brauche, um die Feuer anzublasen. Habt ihr mich für einen so gemeinen Kerl gehalten, Haniel? Für so einen, der nur an den eigenen Nutzen denkt? Ich wollt euch nur sagen, daß keiner von euch glauben soll, hungern zu müssen, weil wir mal für ein paar Wochen Schicht gemacht haben. Der Lohn geht weiter und wird nachgezahlt. Und wer jetzt nix hat, kann zu mir kommen. Solang ich einen Groschen hab, habt ihr die Hälfte.«

»Herr Stoltenkamp,« sagte der Mann und kratzte sich unter der Mütze. »Sie können dat bloß schöner ausdrücken als wir. Aber im Grunde meinen wir doch ganz datselbe.«

»Was meinen wir?« rief Friedrich Stoltenkamp erregt und wunderte sich selber, weshalb er so laut wurde.

»Ich meine, Herr Stoltenkamp,« sagte der Mann ruhig und wandte den Blick nicht ab, »dat wir gerade so gemeine Kerls wären, wie Sie et nich sein wollen un nich sind un nie gewesen sind, wenn wir auch nur an den eigenen Nutzen dächten un nich an et Werk un den Gußstahl. Sie haben uns doch auch in schlechten Zeit mit durchgeschleppt. Wenn dat all keine Zusammengehörigkeit verursacht, dann könnten wir uns ja gegenseitig gerad so gut die Buxen vom Leibe stehlen.«

Friedrich Stoltenkamp sah dem Mann gerade ins Gesicht. Mit den Augen, die immer wieder aufzublitzen vermochten und in jedem Sonnenstrahlchen die Sonne sahen. »Ihr hattet recht, Haniel, den Weg hätt ich mir sparen können. Gebt mal Eure Hand her.«

»Geht nich, Herr Stoltenkamp, is dick voll Schweinsfutter.«

Da haute ihm Stoltenkamp eins über die breite Schulter, und der Schmied lachte und sagte: »Faust haben Sie immer noch.«

»Nu brauch ich zu den anderen wohl gar nicht erst zu gehen, Haniel?«

»Nur wenn Sie spazierengehen wollen un die Zeit totschlagen.«

»Der Tag könnt achtundvierzig Stunden für mich haben. Na denn: Glückauf, Haniel.«

»Glückauf, Herr Stoltenkamp. Un den Schinken, zum Ausprobieren gegen die Münsterländer, den vergeß ich nich.«

»Wollt ich Euch auch nicht geraten haben!« rief Stoltenkamp zurück und sprang über den Straßengraben.

Es war ein anderes Wandern heimwärts, als wie er gekommen war. Sein Stock köpfte die Disteln am Wege, und er pfiff einen friderizianischen Marsch, zu dem die Füße von selber federten. Heimwärts. Die Sonne, die da fern im Ruhrtal unterging, ging morgen wieder auf. Nur der Mensch steht nicht wieder auf, der sich selber für tot erklärt. Und er spürte den Drang des Lebens wie nie in dem müde gewordenen Körper.

Da war das Tor der Stadt, in der er im Rate saß. Hei, flogen die Mützen auf den Gassen. Und da war das Haus, in dem er im Glücke saß. Hei, flogen die Arme von Gretelein, Margaretelein. »Erdrück mich nicht! Wo sind die Kinder?«

»Bei Tisch, bei Tisch und warten auf den Rabenvater.«

»Ich komme als der Rabe des Elias. Wie er in der Bibel steht. Was gibt's zu essen, Kinder? Mehlsuppe mit geröstetem Brot? O Eberhard, der du ein Schnäuzlein ziehst, was würdest du sagen, wenn ich dir von Schinken spräche, von Schinken, rosiger und fetter als selbst der gefeierte Münsterländer, und von faustdicken Kartoffeln, in der Schale gekocht und mit einer Speckbrühe übergossen, darin man die Kartoffeln darin reinweg verankern muß. Ach, da läuft selbst dem Jüngferlein Amalie das Wasser im Mäulchen zusammen.«

»Hast du wieder Arbeit gekriegt, Vater?« fragte das Mädchen. »Lohnende Arbeit?«

»Arbeit?« rief der Vater lustig. »Einen Schinken hab ich gekriegt und die Kartoffeln säckeweis. Saul aber zog aus, um eine Eselin zu suchen, und fand ein Königreich! Himmel, die ganze biblische Geschichte fällt mir ein.« Fritz Stoltenkamp sah den Vater verwundert an. Doch er freute sich, weil sich der Vater freute. Frau Margarete aber hielt dem Ehegatten die Hände vors Gesicht und rief: »Still! Nicht mehr! Das wird nachher eine lustige Beichte, und der Abend wird so schön, wie wir ihn gerade gebrauchen können.«

Und als die Kinder zu Bette waren bis auf den Fritz, der in des Vaters Arbeitszimmer über einem Zeichenbrett hockte, schwang sich Frau Margarete auf des Gatten Schoß, drückte ihre Wange gegen die seine und fragte: »Was sagt dir mein Kopf?«

Er wußte es nicht und suchte ihren Mund.

»Er sagt dir, daß ich einen Mann habe, der besser ist als alle Männer und tausendmal gescheiter. Und daß ein so gescheiter Mann sich keine Sorgen um den Haushalt machen soll. Und was sagt dir mein Herz?«

Er suchte mit der Hand ihr Herz, und die Hand lag ganz still.

»Es sagt dir, daß es dich über alle Maßen liebhat, Friedrich, und daß selbst der Gußstahl daran nichts ändert.«

»Du –!« sagte er. »Du – du – –«

Und sie zog seinen zergrübelten Kopf an ihre Brust und hielt ihn ganz fest, bis der letzte Sorgengedanke daraus verschwunden war. »Wenn wir uns nur liebhaben,« murmelte sie mit dem Mund in seinem Haar. Und dann waren sie beide wie in einem Märchen.– –

Der Winter kam mit krachendem Frost und mit schüttendem Schnee, und die weiten Felder lagen wie unter einem einzigen dicken weißen Wollenflausch, aus dem sich die vereinsamten Essen der Gruben und Zechen wie gespensterhafte Schneemänner hoben. Friedrich Stoltenkamp hatte im Schmelzbau die Öfen anzünden lassen. In dieser harten Zeit sollten seine Arbeiter nicht frieren und daheim die erworbene Geschicklichkeit verlieren. Er ließ den Gußstahl auf Vorrat gießen, bis sein Lager an Roheisen geräumt war und er in dem leeren Schuppen stand.

Die Arbeiter hielten sich zurück. Sie taten, als ob sie bald hier, bald dort zu schaffen hätten, um dem Herrn das Gefühl der Leere und Stille zu nehmen, und einer unterrichtete den anderen in der Handhabung der eigenen Werkzeuge. Fritz aber saß und studierte die Geschäftsbücher, die ihm der Vater übergeben hatte.

Friedrich Stoltenkamp hob den Kopf. Er hob ihn wie spähend. Und er übersah mit einem Blick die künstliche Geschäftigkeit seiner Leute und das zwecklose Studium des Sohnes. Und plötzlich fiel eine Mutlosigkeit über ihn her, die alle zähen Hoffnungskeime ertöten wollte. Leisen Schrittes, wie ein tief Beschämter, verließ er das Haus und ging mit fröstelnden Schultern zur Stadt und durch die Gassen und spähte doch wiederum, ob die Mützen flögen wie sonst, und die Mützen flogen nicht oder wurden nur mürrisch gerückt. Das aber beugte ihn am meisten.

Eine Zeit der heftigsten seelischen Schwankungen kam über ihn. Jedes gute Wort, das ihm ein Geschäftsfreund spendete, griff er begierig auf, jeder schräge Blick, den er auf der Straße gewahrte, warf ihn zurück. Oft erhob er sich des Nachts, von neuen Plänen und Entwürfen berauscht, und saß bis in den dämmernden Morgen am Zeichenbrett. Dann eilte sein scharfer Geist der Zeit wie so oft um ein Stück voraus, und er erfand auf dem Papier Werkzeugmaschinen und Hammervorrichtungen von verblüffender Eigenart und Einfachheit, daß ihm die Brust vor Jubel wogte. Und wenn er am nächsten Tag die Berechnungen aufstellte und fand, daß ihm selbst zur Verwirklichung nur einer einzigen der Erfindungen jedes Geld und jeder Kredit fehlte, stürzte er aufs neue in den Schacht dumpfer Gefühllosigkeit.

Nur Frau Margarete durfte in diesen Stunden bei ihm sein. Ihre mädchenhafte Liebe, ihr bräutlicher Stolz auf den erwählten und auserwählten Mann gab ihm den letzten Halt. »Friedrich, dummer Friedrich,« sagte sie an seinem Hals, »die Welt hat den Schaden davon, nicht du.«

Die Kinder spürten den Druck am wenigsten. Dafür sorgte die Mutter durch eine gründliche Einteilung des Tagewerks. Nie wurden die Schulaufgaben gewissenhafter gemacht. Die Mutter huschte in ihrem Rauscheröckchen durch die Stuben, aber ihr lächelnder Blick sah alles. Und wenn die alten Klassenkameraden zu ihrem ernsten Jungen, dem Fritz, kamen, um mit dem Frühgereiften ihre Ansichten zu tauschen über Lebensberuf und große Laufbahnen, fand sich immer noch ein Gebäck oder ein Butterbrot, um es den ewig Hungrigen hinaufzusenden und sie ans Haus zu fesseln.

Frau Jodokus Stoltenkamp saß indes in ihrem kleinen Geschäftskontor hinter dem Kolonialwarenladen und rechnete. Und jedesmal, wenn sie einen Kunden bedient und die Ladentür sich geschlossen hatte, kehrte sie zu ihrer Rechenarbeit zurück. An dem schrägen Schreibpult saß die einsame Frau und zog aus Büchern und Schriftstücken Zahlen um Zahlen aus, bis sie einen Strich unter die Reihen setzte und langsam zusammenzählte. Ihr weißer Kopf hob sich. Ihr Blick suchte ein Bildchen an der Wand, den Schattenriß ihres längst Verstorbenen, des Mannes, der ihr in Sorgen allzufrüh ergrautes Haar bemerkt und es als eine Beleidigung betrachtet hatte. Sie sah auf das Bild, und ihr Mund war hart wie eine Linie.

»Abrechnung, Jodokus,« sagte sie. »Du hast sie nie gemacht. Es war dir zu krämerhaft. Aber ich habe sie heute gemacht. Im Namen der Stoltenkamps, die da kommen, und an die du nie gedacht hast. Da liegt sie, die Abrechnung. Und wenn ich zu den Stoltenkampmännern gehörte und nicht zu den Stoltenkampfrauen, würde ich denken wie du, und für den Friedrich gäb's noch eine Herrenstunde und für den Fritz und die anderen den Bettelsack.«

Noch einmal glitt ihr Blick über die Zahlenreihen und die Summe unter dem Strich. Dann erhob sie sich und strich ihr Kleid glatt.

»Dem Friedrich ist nicht mehr zu helfen. Und wenn ich alles ausschüttete. An den Kindern aber wär's ein Verbrechen, und den Kindern gehört die Zukunft.«

Einen Augenblick lehnte sie noch an dem schrägen Schreibpult. Es arbeitete in dem faltigen Gesicht. Dann schrillte die Ladenklingel, und sie nahm ihre aufrechte Haltung an und schritt ruhig in den Laden, um den Kunden zu bedienen.– –

Auch in diesem Jahre zeigte der Kalender den Frühling an, und die Natur folgte ihm, wenn auch ein wenig widerstrebend. Tag für Tag ritt der junge Fritz Stoltenkamp mit den Stahlblöcken an den Steigbügeln durch die verschlammten Feldwege nach der Mühle, und was im Winter an Gußstahl im Vorrat gegossen war, wurde im Frühling an Stempeln, Walzen und Werkzeugen aller Art im Vorrat verarbeitet. Friedrich Stoltenkamp aber zeigte sich weder im Schmelzbau noch im Hammer mehr. Er wartete auf das Ungewisse. In dumpfer Gefühllosigkeit wartete er, bis es Gewißheit wurde.

Sein Stadthaus wurde der öffentlichen Versteigerung ausgesetzt. Die Gläubiger hielten sich für einen Bruchteil Ihres Guthabens schadlos daran, da der Verkauf der Fabrikanlagen ohne den dazugehörigen Grund und Boden zwecklos gewesen wäre und nur der Anfang endloser Prozesse. Die alte Frau im kleinen Kontorstübchen hatte richtig gerechnet.

»Nun geht's aufs Land,« sagte Frau Margarete zu ihrem teilnahmlos gewordenen Mann. »Die Landluft hat dir gefehlt. Nun wirst du wieder rote Backen und das rasche, rote Stoltenkampblut bekommen.« Und sie packte zusammen, was sie an Ausrüstungsgegenständen mit in die Ehe gebracht hatte. Ein paar Pferdekarren genügten, um es aufzunehmen. Und an einem Abend spät, als die Bürger in den Betten lagen und der Nachtwächterspitz längst den Laternenlöscher gemeldet hatte, machten auch sie sich auf den Weg. So hatte es Friedrich Stoltenkamp gewollt. Er fürchtete sich vor dem Licht. Man sollte nicht sehen, daß er krank sei. Er ertrug kein Mitleid.

Denn noch wähnte seine vornehme Seele, daß es für einen Niedergebrochenen Mitleid gäbe.

In dem kleinen einstöckigen Haus mit den luftigen Dachkammern, das einst so stolz als Aufseherhaus neben dem Schmelzbau errichtet worden war, wurde das neue Heim notdürftig hergerichtet. Ein Arbeitszimmer für den Vater, die Wohnküche für die Familie, das Schlafzimmer für die Eltern und je eine Dachstube für jedes der Kinder. Friedrich Stoltenkamp ging hindurch. Er gewahrte die Blumen, mit denen Frau Margarete die Tische geschmückt hatte, und seine Hände krampften sich zusammen.

»Glückauf, Friedrich.«

»Daran glaubst du noch, Margarete?« Er wandte sich errötend ab.

»Du hast es mich so gelehrt. Darauf leb ich und sterb ich. Und nun sag ich erst recht: »Glückauf.«

Aber das Glück für Friedrich Stoltenkamp ließ sich nicht mehr berufen. Es war der erste Morgen im neuen Heim, die Kinder waren frühzeitig zur Schule, denn der Weg war weiter, und der junge Fritz war längst zum Hammer hinausgeritten. Friedrich Stoltenkamp stand unbeweglich hinter dem kleinen Fenster seines Arbeitszimmers und starrte auf den Schmelzbau. Stunde um Stunde.

Ein Bote kam vom Rathaus und überbrachte ein Schreiben. Friedrich Stoltenkamp öffnete es gleichgültig und las, daß er aus der Liste der steuerpflichtigen Gewerbetreibenden gestrichen sei. Er nickte nur dazu. Wozu sollte man noch miteinander Verstecken spielen. Und am späten Abend kam ein zweiter Bote vom Rathaus und überbrachte ein neues Schreiben. Ein wenig verwundert war Friedrich Stoltenkamp, als er es entgegennahm. Nun gab es doch nichts mehr zu erledigen. Oder hatten sie doch noch Ansprüche zu stellen in der Stadt? Seine Neugier wurde rege. Eine leise Hoffnung glomm in ihm auf. Man entbehrte ihn im Rat. Man rief ihn. Mit einer hastigen Bewegung öffnete er und las. Das Bürgerratsmitglied Friedrich Stoltenkamp wurde infolge seiner zerrütteten Vermögensverhältnisse aufgefordert, seine städtischen Ehrenämter niederzulegen und auszuscheiden. Lautlos sank er in sich zusammen und rollte neben seinem Arbeitstisch auf den Fußboden ...

Frau Margarete fand den Ohnmächtigen auf. Sie tat keinen Schrei. Ganz sacht nahm sie das Papier aus der erschlafften Hand, las es und zerriß es in winzige Fetzen. Dann holte sie ihr Fläschchen Melissengeist aus dem Busen, kniete nieder und rieb dem Daliegenden mit den lebenweckenden Tropfen Stirn und Schläfen. Ein paarmal horchte sie hinaus. Es kam doch keiner? Keins von den Kindern? Aus der Dachstube tönte der gleichmäßige Schritt des Ältesten, der die englische Sprache erlernte. Die Jüngeren schliefen. Da war Frau Margarete beruhigt, beugte sich in der Einsamkeit aufs neue mit ihrem Fläschchen über den geliebten Mann und brachte ihn endlich wieder zu sich.

»Bist du bei mir, Margarete?«

Sie beugte sich so tief über sein Gesicht, als müßte sie ihm jedes Wort auf den Mund küssen.

»Ich bin bei dir, Friedrich, und werde jede Stunde bei dir sein.«

»Dann ist es gut,« seufzte der Mann und wollte das Gesicht schlaftrunken zur Seite wenden.

Sie schob ihm die flachen Hände unter den Kopf und richtete ihn auf. Wie blaß er war, und die Stirn wie verheert von den heißen Streifzügen der Gedanken.

»Nun hast du mich so oft zu Bett gebracht in all den Jahren,« sagte sie und fand ein Lächeln für seine verwunderten Augen, »daß du es dir auch einmal von mir gefallen lassen mußt. Leg nur den Arm um meinen Hals. Du bist wohl vor Müdigkeit vom Stuhl geglitten, Mann. Siehst du, ich habe Kraft. Ich kriege dich hoch. Und nun wollen wir gehen und ausschlafen.«

»Ausschlafen,« lallte er ihr nach, die Arme um ihren Hals. Und sie straffte in ihrem feingliedrigen Körper alle Kräfte zusammen und schlang den Arm fest um seinen Leib und brachte ihn, Schritt für Schritt, in die Schlafkammer hinüber und zu Bett.

»Bist du bei mir?« seufzte er noch einmal und tastete auf der Decke nach ihrer Hand.

Da schmiegte sie ihren warmen Körper ganz dicht an den seinen und breitete die Arme um ihn wie um ein krankes Kind. Friedrich Stoltenkamp schlief ein. Seit Jahren hatte er nicht so ruhig geschlafen.

Frau Margarete aber wachte die ganze Nacht hindurch. Kein Atemzug entging ihr, den sie nicht prüfte. Sie wollte keinen Arzt an seinem Bette, wenn es nicht die Notwendigkeit erforderte. Keiner sollte ihren stolzen, heiteren Friedrich Stoltenkamp als Kind sehen. Keiner! Erst sollte er wieder Herr seiner selbst sein, Herr seiner armen, gemarterten Sinne.

Als die erste Dämmerung kam, hörte sie Fritz sich erheben. Der Junge machte behutsam wie immer, um keinen im Hause zu stören. Wie wohl das tat, den Jungen in seiner Sorgsamkeit belauschen zu können. Jetzt kam er leise die Stiege herab. Jetzt holte er sich aus dem Küchenschrank einen Topf Milch und schnitt das Brot. Jetzt räumte er das gebrauchte Geschirr auf den Küchenstein und schritt unhörbar fast hinaus. Nun vernahm sie eine Weile nichts mehr von ihm. Bis ein vorsichtiger Aufschlag über den Fabrikhof klappte und sich draußen auf dem Feldweg verlor.

Wieder gingen zwei Stunden hin. Die Morgensonne strich breit und lustig an den Fenstervorhängen her. Da zeigte von den Dachstübchen her ein Trappen, Rücken und Schieben an, daß Amalie und Eberhard sich für den Schulgang rüsteten. Heute bekamen die Kinder keinen Morgenkaffee. Sie konnte den Schlafenden nicht aus den Armen lassen.

Amalie kam als erste die Stiege hinab und betrat die Wohnküche. Sie staunte, daß sie die Mutter nicht vorfand, und näherte sich horchend der Kammertür. »Amalie,« rief Frau Margarete leise. – »Ja, Mutter?« – »Vater schläft noch. Nehmt die Milch und das Brot. Auf Wiedersehen, Kinder.«

Dann waren auch die Kinder gegangen, und in dem kleinen Arbeiterhaus war Frau Margarete mit ihrem Kranken allein. Keiner, keiner hatte von dem Zusammenbruch erfahren. Auch die Kinder nicht. An ihn geschmiegt lag sie, wie sie die ganze Nacht gelegen hatte. Ihre Arme waren gelähmt. Ihre Sinne horchten und horchten.

Um die zehnte Morgenstunde erwachte Friedrich Stoltenkamp und sah die Augen seiner Frau über sich.

»Mein Gott,« sagte er staunend, »habe ich in deinen Armen gelegen? Du Ärmste, du. Aber es hat gut getan.«

Da lachte Frau Margarete aus tiefstem Herzen.

»Nun willst du wohl Morgenkaffee? Warte, ich koch ihn schnell!« Und sie schlüpfte aus dem Bett.

»Aufstehen will ich, aufstehen.« Er richtete sich auf und fiel in die Kissen zurück. »Was ist denn das, Margarete? Ich habe wohl schlapp gemacht? Ja, was war denn nur – gestern abend?« –

»Liegenbleiben. Gehorsam sein,« gebot Frau Margarete. »Du hattest einen Zettel in der Hand, den ich aus Zorn vernichtet habe. Es genügt, daß die Schreiber des Zettels allein an ihrer Torheit tragen. Du stehst turmhoch darüber. Hörst du: turmhoch. Und die Kinder wissen nichts. Nur du und ich. Wie es sich gehört.«

Sie stand im Mieder und weißen Rüschen, hob die schönen nackten Arme und kämmte und flocht hastig das Haar. Seine Augen folgten ruhig ihren Bewegungen. Dann sagte er leise: »Ich danke dir sehr.«

»Ich zieh mich später fertig an,« rief sie über die Schulter und huschte hinaus. Er hörte sie am Herd hantieren und wartete ganz ruhig. Er hatte plötzlich so viel Zeit, zu warten. ...

Friedrich Stoltenkamp stand nicht wieder auf. Es war, als ob seine überspannten Kräfte nur darauf gewartet hätten, durch Gewalt auf ein Lager hingestreckt zu werden, um langsam auszulöschen. Nichts anderes konnte auch der Arzt feststellen als eine völlige Erschöpfung. Schmelzbau und Hammerwerk lagen in einem fernen Nebel. Friedrich Stoltenkamp verwandte keinen Gedanken mehr darauf. Nur, was ihm dicht vor Augen stand, nahm sein Denken in Anspruch. Seine Frau – und ihre Liebe. Und ob er ihr genug getan. Auch er. –

Die Kinder gingen auf den Zehenspitzen, wenn sie zu Hause waren. Sie wußten aus ihren Kinderkrankheiten, wie gut es tat, wenn die Mutter sorgte. Nur Fritz sah mehr. Er sah, daß die Mutter nicht gestört sein durfte in ihrem Tun, weil sie dem Vater – den Abschied verschönen wollte. Und schweigend nahm er der Mutter jede Arbeit aus der Hand, denn eine Magd war nicht mehr im Hause, zündete in der Frühe das Herdfeuer an, holte Lebensmittel aus der Stadt herein, war zu jeder Minute, die ihm die Fabrik freiließ, zur Stelle. Nur zuweilen tauschten Mutter und Sohn einen langen Blick. Sie verstanden sich wortlos.

Friedrich Stoltenkamp wußte, daß er sterben würde. Der Gedanke machte ihn nicht bange. Oft, wenn er seiner Frau nachblickte, wie sie, nur für ihn, im Zimmer waltete, Blumen auf die Fensterbank trug und jedem lustigen Sonnenstrahl den Vorhang öffnete, lachte er heimlich in sich hinein. O du, dachte er, Liebe, Süße, du willst dich aufopfern, aber ich werde mich heimlich davonmachen. Blühen sollst du, blühen, blühen.

Einmal kam der alte Stadtpfarrer heraus, bei dem Amalie zur Konfirmationsstunde ging. Er hatte von seiner Schülerin über das seltsame Befinden des Vaters gehört und sich sein Teil gedacht. Er fand, was er vermutet hatte, und saß lange am Bett des immer noch geistig so Regsamen und sprach mit dem Erfreuten über irdische und himmlische Dinge.

»Religion,« sagte Friedrich Stoltenkamp, als ob er sich das Wort erst zurechtlegen müßte, »Religion ist bei der Mehrheit die Furcht vor der Todesstunde. Der Mensch kann nicht einsam sein. Sein Anlehnungsbedürfnis treibt ihn, sich seinen Gott zu schaffen mit den vielen Tausenden. Und doch wird Gott immer nur das Erleben des Einzelnen sein.«

»Wurde Ihnen dies Erleben?«

Friedrich Stoltenkamp schwieg. Seine Frau ging leise aus dem Zimmer, und er sah ihr mit großen Augen nach.

»Mir wurde es,« sagte er mit tiefem Atemzug. »Mir wurde es überreich.«

Der alte Stadtpfarrer drückte ihm die Hand. Er hatte den Blick bemerkt und war zufrieden. »Ich komme wieder,« versprach er, »und ich schicke auch einmal meinen Vikar.« Denn er dachte, es könne für seinen jungen, allzu eifrigen Gehilfen von Nutzen sein, einmal einen Sterbenden – fröhlich zu sehen.

Und der Vikar kam und saß am Bette Friedrich Stoltenkamps, der den Eifernden staunend betrachtete.

»Wie wir sündigen Menschen in Gottes Wald hineinrufen, so ruft er heraus. Gott läßt sich nicht spotten. Er will, daß wir ihn bei Lebzeiten suchen und in sein Haus kommen, damit er uns in unserer Sterbestunde sucht und in unser Haus kommt. Sie aber haben den Stein der Weisen gesucht, und es blieb Ihnen nichts. Gehen Sie in sich, Herr Stoltenkamp. Nicht das bißchen Geld zum letzten Gang blieb Ihnen. Wie wollen Sie in den Schoß der Erde kommen.«

Immer erstaunter hatte Friedrich Stoltenkamp zugehört. Jetzt spielte der alte Schalk um seine Lippen.

»Ich verlaß mich,« erwiderte er schmunzelnd, »ich verlaß mich auf die Vorschriften der städtischen Polizei. Ich habe sie – selbst mitentworfen, Herr Vikar, als ich noch – im Bürgerrate saß. Drei Tage darf ein Toter im Hause sein. Bei Strafe – nicht länger.«

»Zerr Stoltenkamp!« rief der Vikar und erhob sich drohend.

»Die Polizei – duldet's nicht.«

Und der Sterbende drehte sein fröhlich Gesicht zur Wand und kehrte dem Verdutzten den Rücken.

*

 


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