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Wenn Fritz Stoltenkamp nach Feierabend aus dem Werke kam und die Abendmahlzeit verzehrt war, die die Köchin lustlos kochte und das Hausmädchen scheu dem schweigsamen Herrn auftrug, wußte er mit den Stunden nichts mehr zu beginnen. Und je mehr die Herbstabende sich längten, die auf diesem schwarzen Erdstrich besonders traurig waren, desto schwerer empfand er das Fehlen der Mutter, die Wärme eines Wesens, die nur für ihn erstrahlte, das Echo seiner Sorgen und Hoffnungen, das nun stumm blieb. Ein paarmal hatte er versucht, durch ermüdende Abendmärsche das Suchen und Fragen Zu ertöten, ein paarmal war er in die Stadt hineingegangen und hatte sich durch die wirtschaftlichen Tagesfragen zu einer größeren Lebhaftigkeit bringen lassen. Aber wenn er dann heimkehrte und unwillkürlich aufhorchte, ob er noch einen Ruf der Mutter vernehme, überfiel ihn das Gefühl der Einsamkeit nur mit verdoppelter Wucht. Da hatte er Spaziergänge und Herrengesellschaften wieder aufgegeben und sich blindlings der Arbeit überlassen. Und wie einst auf der Dachkammer im kleinen Arbeiterhaus brannte seine Lampe wieder bis spät in die Nacht, die Gedanken strömten ihm zu, und was er tagsüber am Zeichenbrett nicht zu lösen vermocht hatte, das stand in der Stille der Nachtstunden klar und durchleuchtet vor ihm und ließ sich mühelos aufs Papier bannen.
Auch ein Reitpferd war wieder im Stall. Die Stahlblöcke freilich, die er als junger Mensch an den Steigbügeln hatte befestigen müssen, um sie zum Hammerwerk in der alten Mühle zu schaffen, fehlten heute, aber jeden Morgen, wenn er sich vor Beginn seiner Arbeitszeit zu einem Erfrischungsritt in den Sattel schwang, gedachte er ihrer mit einem Lächeln der Erinnerung. Das Gewicht der Stahlblöcke fehlte, das Gewicht der Verantwortlichkeit hatte zugenommen. Es blieb alles eins.
Als die ersten Nordostwinde kalt über die Felder fegten und die Luft mehr noch als sonst mit dem Kohlenstaub der Zechen schwängerten, fror es ihn in seinein leeren Hause, obwohl er mit dem Heizen nicht sparen ließ. Und an einem frühen Wintersonntag stieg er auf einer Reise nach Köln in Düsseldorf aus und saß in dem warmen, lauschigen Raum, den Frau Mathilde Stoltenkamp sich mit soviel Liebe für die Behaglichkeit wie Verständnis für die Schönheit des Rahmens hatte herrichten lassen.
»Du bist sehr mager geworden, Fritz. Wird nicht gut für dich gesorgt?«
»Es wird besser für mich gesorgt, als von mir anerkannt und gewünscht wird. Die Köchin schimpft heimlich, daß ich ihr keine größeren Aufgaben stelle, und das Hausmädchen macht ein beleidigtes Gesicht, wenn es die vollen Schüsseln wieder hinaustragen muß. Es ist nicht übermäßig lustig bei mir.«
»Und weshalb hältst du nicht mehr auf dich?«
»Für was, Mathilde? Es ist keine Liebe bei allem. Ohne Liebe, die herüber und hinüber spielt, wird man zum Zigeuner.«
»Ich möchte dir helfen,« sagte Frau Mathilde und forschte in seinen Augen. »Ich habe sehr schöne und fröhliche Freundinnen, echtes Rheinlandsblut, die sehr wohl verstehen, aus einem kranken Füllen ein durchgehendes Vollblut zu machen. Fritz, wie wäre das? Dir fehlt die Frau, die dich mit auf die Reise ins Leben nimmt.«
»Und was weiter?« fragte Fritz Stoltenkamp. »Wenn ich ›im Leben‹ angelangt bin?«
»Dann wirst du mehr von den Menschen haben und die Menschen mehr von dir. Zu den letzteren zähle ich mich zu allererst. Wofür habe ich denn sonst einen so ganz besonderen und eigenartigen Schwager, von dem das ganze Land zu reden beginnt, wenn ich mich nicht einmal an seinem Arme zeigen kann?«
Fritz Stoltenkamp blickte auf seine Hände und erwiderte nichts.
»Zuweilen möchte ich gern wissen, was in dir vorgeht,« fuhr Frau Mathilde fort. »Willst du mir nicht einen Einblick gestatten? Oder hast du das, was ich dir bei deinem ersten Besuche sagte – entsinnst du dich? Wir hatten einen Ausritt gemacht, und der Glücksringschwinger auf dem Karussell sang sein Kirmesliedchen hinter uns her? – hast du das wirklich gar zu wörtlich genommen? Ach du, Eberhard ist nicht eifersüchtig, und ich meinte dir doch gerade an ihm und seinem Werdegang gezeigt zu haben, daß man schon ein wenig Vertrauen zu mir haben darf.«
Fritz Stoltenkamp hob den Kopf. Er blickte ohne ein Wimperzucken in die forschenden Augen hinein.
»Vertrauen? Wohin geht das Vertrauen? Zu Vertraulichkeiten vielleicht? Das ist doch wohl immer der kürzeste Weg, auch wenn man noch soviel von Seelenfreundschaften redet. Mathilde, dazu wollen wir Stoltenkamps uns doch zu gut sein. Ich denke, wir haben wichtigere Dinge auf der Welt zu erfüllen, und ich habe zu lange mit der Mutter gelebt, um jetzt noch zu anderen Anschauungen bekehrt werden zu können.«
»Du eilst den Dingen etwas überweit voraus,« entgegnete die Schwägerin langsam. »Ich habe nur von Vertrauen gesprochen, auf das ich vielleicht ein kleines Anrecht habe, wenn – nun, wenn wir uns damals auf dem Ausritt nicht nur verspätete Höflichkeiten gesagt haben sollten.«
»Ich schätze und verehre dich, Mathilde,« sagte Fritz Stoltenkamp und erhob sich von seinem Stuhl. »Wie sehr, das weißt du, und es bedarf keiner weiteren Worte darüber. Aber um eins bitte ich dich herzlich: forsche nicht soviel in mir herum. Ich bin vielleicht eine zu männliche Natur. Vielleicht auch nur ein zu grober Klotz. Aber es sträubt sich etwas in mir und nimmt Abwehrstellung ein, wenn man ohne mein Zutun in mich hineingreifen und meine Seelenwindungen unter die Lupe nehmen will. Sei mir nicht bös, Mathilde. Ich bin dir herzlich dankbar und werde von deiner Güte gewiß oft noch Gebrauch machen. Aber laß mich von selber kommen.«
»Du willst schon fort? Ohne Eberhard zu begrüßen? Er ist trotz des Sonntagmorgens natürlich bei seinen Dampfkesseln.«
»Und ich sitze natürlich bei einer schönen Frau und verplaudere die Eisenbahn. Ich muß nach Köln. Es soll ein Riesenauftrag von fünfzehntausend Radreifen vergeben werden. Die muß ich haben, widerspruchslos. Aus Radreifen mache ich Kanonen. Wie das möglich ist? Nun, ich verkaufe zuerst die Radreifen.«
Er nahm seinen Hut und schüttelte ihr lachend die Hand. »Da sitzest du schon mitten drin in meinem Vertrauen.« –
Die Kölner Herren schreckten auch Sonntags vor der Abwicklung von Geschäften nicht zurück. Aber als die Geschäfte erledigt waren, verlangten sie um so nachdrücklicher nach einer gründlichen Erholung. »Wie wär's mit der Oper, Herr Stoltenkamp? Da könnten wir gleichzeitig ruhen und genießen. Es steht ›Figaros Hochzeit‹ auf dem Zettel. Das wäre doch gerad der richtige Stoff für einen Einspänner, wie Sie es sind.«
Fritz Stoltenkamp war bereit. Und so saßen sie in einer Loge des Theaters und ließen sich von den Perlenketten Wolfgang Amadeus Mozarts umschmeicheln und sich leise hinüberleiten in die sonnigen Heiterkeiten einer lebensfreudigeren Welt.
Wie diese Welt streichelte und schmeichelte und mit Sonne übergoß, wenn man aus den dunklen Schächten der Arbeit kam. Ganz ineinandergesunken saß Fritz Stoltenkamp und ließ sich von dem seltenen Genuß mitnehmen, wohin der Meister es wollte, und dann sank der Zwischenvorhang, und der Zuschauerraum lag im Licht der Lampen, und Fritz Stoltenkamp wandte den noch immer nach innen gerichteten Blick auf die Nachbarloge, und dann gab es ihm einen jähen Ruck durch den ganzen Körper.
Es war nichts Besonderes zu sehen. Ein Mädchen von zwanzig Jahren beugte sich über eine alte Dame und legte ihr das Schaltuch um die Schultern.
Und es schoß dem Manne durch den Kopf: Mit derselben Bewegung müßte es die Mutter getan haben. Mit diesen ganz leichten und zärtlichen Händen. Und doch war die alte Dame dem Mädchen sicherlich eine Fremde, eine Dienstgeberin vielleicht, denn die alte Dame nickte nur einen flüchtigen Dank.
Wie die Mutter ... Doch die Mutter war kleiner und zierlicher gewesen als das schlanke blonde Mädchen ... Trotzdem. Ihm war, als hätte er ein Jugendbild der Mutter gesehen.
Seine Begleiter hatten die Damen begrüßt, wie man Bekannte derselben Gesellschaftsschicht begrüßt. Fritz Stoltenkamp wartete die nächste Pause ab und ließ sich vorstellen. Die alte Dame war eine verwitwete Gerichtspräsidentin, die jüngere, die sie mit einer leichten Handbewegung vorstellte, ihre Gesellschafterin, Fräulein Gildemeister.
»Dem Namen nach aus der Hansagegend,« meinte Fritz Stoltenkamp freundlich.
»Meine Großeltern kamen dorther, Herr Stoltenkamp. Ich bin in Köln geboren.«
»Freut Sie die Musik heute abend, Fräulein Gildemeister?«
»Ach, die Musik freut mich an jedem Abend. Sie trägt uns nach der Tagesarbeit dorthin, wohin wir möchten, und wohin wir doch nur durch die Musik gelangen können.«
»Nur durch die Musik?« verwunderte er sich.
»Oder durch die Dichtkunst oder sonst einen schönen Traum. Dann weiß man, daß man viel glücklicher ist, als man es selbst hat glauben wollen.«
Sie nickte ihm zu, denn der Vorhang ging hoch, und die alte Dame blickte sich verwundert nach ihrer Begleiterin um. Und mit seinen leisen Händen nahm ihr das blonde Mädchen den Schal von den Schultern.
Straff saß Fritz Stoltenkamp auf seinem Platz. Mit lauschenden Sinnen. Aber sie lauschten nicht auf die köstlichen Frauenstimmen der Gräfin Almaviva, ihrer lustigen Zofe Susanne und ihres selig kecken Pagen Cherubim, sie lauschten immer noch auf den Klang der Mädchenstimme, die vorhin zu ihm gesprochen hatte.
Es war keine Stimme wie die der Sängerinnen vor ihm auf der Bühne, es war eine stillschwingende, warm und seltsam beruhigende Mädchenstimme. Nicht mehr. Und doch fand diese Stimme wie ein geheimer Schlüssel den Weg zu seinem Innersten, paßte sich ein in das Schloß und tat es auf.
Mehr wußte Fritz Stoltenkamp nicht. Aber es schien ihm die größte Offenbarung seines Lebens. –
Die Erfrischungspause war gekommen. Auf den Gängen drängten sich die Theaterbesucher, um vor den anderen zu einem Plätzchen an den gedeckten Tischen des Vorsaales zu gelangen. Auch die Frau Gerichtspräsidentin ließ sich von den Herren hingeleiten. Fräulein Gildemeister folgte hinterher. Da blieb Fritz Stoltenkamp an ihrer Seite.
»Müssen Sie auch dort hinein? Endlich ist man aus der Enge erlöst, und schon sammelt sich die erlöste Menge zu einer neuen Herdenbildung. Können wir nicht noch ein paar Atemzüge draußen bleiben, Fräulein Gildemeister?«
Sie schaute erst nach der alten Dame aus, die aber zwischen den Herren schon ihren Teeplatz gefunden hatte.
»Einmal den Wandelgang auf und ab – dazu wird es wohl reichen.«
»Einmal den Wandelgang auf und ab,« wiederholte sich Fritz Stoltenkamp, horchte auf ihren leichten Schritt und blieb, als sie die breite leere Ausgangstreppe erreicht hatten, plötzlich stehen.
»Fräulein Gildemeister.«
»Herr Stoltenkamp?« fragte sie verwundert, hielt den Schritt an und blickte zu ihm auf.
Zum erstenmal sah er ihr voll ins Gesicht. Und er sah, daß ihr Wuchs schlank und ebenmäßig war und ihr Gesicht fein und schmal, und daß unter einer klaren Stirn ernste Augen standen von der Farbe eines blauen Abendhimmels. Und als diese Augen ihn jetzt erwartungsvoll ansahen, wußte er, daß Blick und Stimme zusammengehörten wie zwei Hände, die sich ineinanderlegen.
»Fräulein Gildemeister, würden Sie mir zuliebe einmal eine Ausnahme von der gesellschaftlichen Regel machen? Vor einer Stunde kannten wir noch nicht den Namen von einander, und jetzt komme ich schon mit einer Bitte. Ich spreche sie unumwunden aus. Sie hat nichts Verletzendes. Sie ist nur der Ausfluß eines mir selbst merkwürdigen unbegrenzten Vertrauens auf den ersten Blick. Würden Sie mir morgen ein Wiedersehen gestatten? Ein Wiedersehen ohne die vielen und lauten Menschen?«
Und ganz ruhig und schlicht antwortete das junge Mädchen: »Sie irren sich in einem, Herr Stoltenkamp. Ich kenne Ihren Namen schon seit langem. Nicht nur, weil ihn wohl sehr viele Menschen im Lande kennen, sondern weil er auch im Hause meiner verstorbenen Eltern oft genannt wurde. Mein Vater hatte als Regierungsrat die Bearbeitung industrieller Fragen. Da ist es also gar nicht so schwer für mich, Ihren Wunsch zu erfüllen. Ich habe auch zu Ihnen Vertrauen.«
»Ich danke Ihnen,« sagte Fritz Stoltenkamp mit einer Erleichterung, die sie verwundert lächelnd bemerkte. »Ich bin in dieser Angelegenheit gewiß recht ungeschickt. Aber da ich Sie so gütig um die alte Dame besorgt sah, dachte ich: wag es und bitte sie um eine Stunde, in der du ihr ein paar Fragen vorlegen könntest.«
»Wollen Sie zu uns ins Haus kommen?« meinte sie, und sie schritten weiter.
»Ich möchte es nicht gern, weil sich die Frau Gerichtspräsidentin durch meine Fragen vielleicht geschädigt fühlen könnte. Darf ich Sie zu einer Stunde, die Ihnen passend erscheint, irgendwo in der Stadt sehen?«
»Ich habe die Stunden nach Tisch von zwei bis vier Uhr zu meiner Verfügung. Soll ich kurz nach Zwei Uhr an der Schiffbrücke sein?«
»Nochmals: herzlichsten Dank.«
Den Fortgang des Opernspiels erlebte Fritz Stoltenkamp trotz des göttlichen Mozart nur noch als ein entferntes Geräusch. Er sah sich noch beifallspendend in der Loge stehen, sich vor den Damen der Nachbarloge verbeugen, und dann sah er mit seinen Begleitern in einem Weinhaus in der Komödienstraße und war aufgeräumter, als die Herren ihn bisher gekannt hatten.
»Sie sind doch längst nicht so blind, Herr Stoltenkamp, wie Sie sich stellen. Lassen uns die alte Dame und spazieren inzwischen kreuzvergnügt mit der anmutigen Gildemeister herum. Gerad so machen Sie es im Geschäft. Zum Schluß kommen Sie immer auf Ihre Kosten.«
»Jedenfalls war es sehr freundlich von Ihnen,« sagte Fritz Stoltenkamp in froher Laune.
»Und der kleinen Gildemeister war es zu gönnen. Sie hat keine leichte Stellung bei der alten Präsidentin und muß hinten und vorn sein. Wenn sie nicht von ihrem Vater den pflichtgetreuen Charakter hätte, wär's wohl auch nicht zu machen.«
Dann wandte sich das Gespräch den Fragen des Tages zu. –
Fritz Stoltenkamp hatte den Vormittag schreibend in seinem Gasthauszimmer zugebracht. Er wußte nicht, wie lange sich sein Aufenthalt in Köln hinziehen könnte, obschon geschäftlich nichts mehr für ihn zu tun war. Auf jeden Fall hatte er seine Verhandlungen und Abschlüsse mit der Eisenbahngesellschaft zu Papier gebracht und sandte den Brief mit der nächsten abgehenden Post an seinen Ingenieur Ungemach, der mit der Vertretung beauftragt war. Nach Tisch schritt er langsam durch die Rheinstraße der Schiffbrücke zu, sah nach der Uhr und stellte fest, daß er noch eine halbe Stunde zu warten haben würde. In der Luft tanzte dicht und flockig der erste Schnee. Der Winter war schon mit der zweiten Novemberwoche ins Land gekommen.
Fritz Stoltenkamp ging das Rheinufer entlang. Er blickte auf den starken Strom, der die weißen Flocken trank, und auf die Millionen Flocken, die immer wieder kamen und sich nicht erschöpfen konnten. Und plötzlich kam eine Knabenunruhe über ihn, eine Beklommenheit und Erwartungsfreudigkeit, und dann wieder die Beklommenheit: Wie kann man das nur so tun, wie ich es vorhabe ...
Er nahm den Hut ab und spürte, wie ihm der kalte Schnee durchs Haar wirbelte, und er setzte den Hut wieder auf und war nicht klarer und klüger geworden. Und dann sah er eine schlanke Gestalt eilig durch das Schneegestöber kommen, eine Pelzmütze auf dem Haar und einen schmalen Pelzstreifen um den Hals gelegt, die Hände tief in den Taschen des Mantels. Da war Unruhe und Beklommenheit verflogen und nur die Freudigkeit geblieben, und er erreichte sie mit wenigen Schritten und begrüßte sie.
»Ein prachtvolles Wetter, das ich für Sie ausgesucht habe, Fräulein Gildemeister. Können Sie mich denn bei dem Schneegestöber überhaupt sehen?«
»Das ist ein Wetter, wie ich es liebe,« sagte sie atemlos. »Das ist eine Weihnachtsvorfreude.«
»Also Sie wollen wirklich? Trotz des tollen Schnees? Das ist tapfer von Ihnen.«
»Ach nein, das ist eine Erfrischung. Ich habe meine Zeugnisse gleich mitgebracht, aber Sie werden sie wohl erst im Gasthaus lesen können.«
»Ihre Zeugnisse?« staunte Fritz Stoltenkamp. »Weshalb denn – Ihre Zeugnisse?«
Sie schritten die Rheinwerft entlang, in der Richtung auf Bayental, und Fritz Stoltenkamp mußte seine Frage wiederholen, die sie unbeantwortet gelassen hatte.
»Es ist mir überaus peinlich,« sagte das junge Mädchen.
»Was denn nur, Fräulein Gildemeister? Weshalb verstummen Sie?«
»Ich habe angenommen – und besonders, weil Sie gestern erwähnten, die Frau Gerichtspräsidentin möchte sich durch Ihre Fragen geschädigt fühlen – daß es sich um eine Stellung für mich handelte.«
»Um eine Stellung? Und nun sind Sie enttäuscht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Enttäuscht – nicht. Es war nur – so eine, ja so eine Freude gewesen, in einen größeren und helleren Wirkungskreis zu kommen. Ich bin nicht sehr verwöhnt. Aber nun muß es auch so gehen.«
»Wollen Sie mir von sich erzählen, Fräulein Gildemeister? Es ist nicht Neugier.«
»Ich habe wirklich nichts zu erzählen, Herr Stoltenkamp,« sagte sie und suchte sein Gesicht durch den Schnee, »wirklich nichts Absonderliches, was auf Ihren Anteil Anspruch hätte. Ich bin mit achtzehn Jahren Waise geworden und seitdem im Hause der Frau Gerichtspräsidentin Vorleserin, Vorspielerin, Begleiterin, Pflegerin, wie es sich trifft und der Tag es mit sich bringt. Der Verdienst ist nicht groß, aber ich habe doch wenigstens ein Heim gefunden.« Sie blieb zögernd stehen. »Darf ich vielleicht hören, was Sie mich zu fragen wünschten?«
»Wollen wir dabei weiter gehen?« bat Fritz Stoltenkamp. »Sie sollen um vier Uhr bestimmt zu Hause sein. Was ich Sie fragen wollte?« sagte er im Weiterschreiten. »Ich wollte Ihnen – eigentlich – von meiner Mutter erzählen.«
»Von Ihrer Frau Mutter?«
»Sie ist tot. Mit den letzten Sommertagen ist sie gestorben. Als sie von mir ging, blieb mein ganzes Leben leer, denn es war nur für diese eine Frau eingerichtet gewesen. Darf ich Ihnen von ihr erzählen?«
»Ja,« sagte sie leise, und er erzählte. Und seine Sohnesliebe wurde wach und heiß, und er malte das Bild der heiteren, hingebungsvollen Frau, hingebungsvoll an das Werden des Sohnes und das Werden und Wachsen des Werkes, mit den tiefsten und den hellsten Farben und war glücklich, diesem Mädchen das alles sagen zu können.
»Das ist eine unersetzliche Frau,« und ihre Stimme hatte den tiefen Klang des Mitleidens, als sie endlich sprach.
»Und doch muß ich sie ersetzen, Fräulein Gildemeister, nachdem ich Zweiundvierzig Jahre alt geworden bin und kaum eine andere außer ihr kennen lernte. Ich halt es nicht mehr aus in der Einsamkeit der Abende. Und wenn es nicht darum wäre – das Haus und das immer größer werdende Werk muß eine Herrin haben. Wen, Fräulein Gildemeister? Ich bin allem jungen Tun und Treiben so fremd geworden in dem beständigen Ringkampf mit der Arbeit, und ich fürchte fast, ich werde es auch bleiben. Es wird viel Mut und Entsagung dazu gehören, mich zu heiraten. Und zu einer Ehe, zu der ich nur den Rahmen liefere, bin ich nicht geschaffen. Da hörte ich gestern abend Ihre Stimme. Da sah ich die Bewegung Ihrer Hände, als Sie der alten Dame das Tuch um die Schultern legten. Und dann sah ich Sie ganz und gar. Fräulein Gildemeister, es kommt Ihnen vielleicht wie ein Irrsinn vor, daß ich nur daraufhin und in derselben Sekunde ein ganzes Gebäude von Hoffnungen aufbaute. Ich weiß aber felsenfest, ich täusche mich nicht. Ich überrumpele Sie. Sie haben mich ja auch überrumpelt. Ich frage Sie, ob Sie meine Frau werden möchten, Fräulein Gildemeister?«
»Ihre – Frau? – – Ihre – Frau?«
Er ließ ihr Zeit, sich in ihrer Erregung zu sammeln. »Ich habe Sie erschreckt. In Ihren Mädchenträumen sahen Sie den Geliebten anders. Ich will mich in dieser ernsten Stunde nicht in den feurigen Liebhaber verkleiden, den Sie gewiß erwarten durften. Ich weiß, was mir alles fehlt. Aber Sie würden mir viel geben können.«
Der dichte Schnee tanzte um ihre Gesichter. Aber trotz der alles verschleiernden Flocken fühlte er, daß sie in sich hineinweinte.
»Fräulein Gildemeister, ich bin doch wohl nur ein ungefüger Gußstahlmensch. Verzeihen Sie mir.«
Da kam ihm ihre Hand entgegen, eine schlanke, weiße Mädchenhand. Und die Mädchenhand stahl sich scheu wie eine Kinderhand in seine starke, von der Arbeit hart gewordene Rechte und blieb darin, und er hielt sie fest.
»Willst du wirklich?« fragte er, und mit einem Mal kam ein großes Staunen über ihn.
»Ja,« sagte sie ganz leise, »ja, ich will.«
Und er ging neben ihr und hielt ihre Hand in der seinen und beugte sich vor.
»Laß dich einmal anschauen dabei. Ich möchte doch wissen, was du für ein Gesicht dabei machst.«
Sie hob ihm den Kopf entgegen. Durch das Schneetreiben sah er ihre stilleuchtenden Augen. »Ich weiß gar nicht, wie mir ist? Ich bin noch gar nicht zu mir gekommen. Ich gehe wie durch ein Wintermärchen.«
»Ich möchte auch gar nicht, daß du so schnell zu dir kommst. In Märchenbeleuchtung kann ich nur gewinnen. Nachher bin ich der Stahlwerksbesitzer Fritz Stoltenkamp und kein anderer.«
»Fritz Stoltenkamp ...« sprach sie vor sich hin, und ihre Finger schlossen sich fester um seine Hand.
»Sprich mehr,« bat er, »deine Stimme tut mir so gut. Ich bin hungrig und durstig danach und habe alles nur mit der Arbeit erstickt. Wie soll ich dich nennen? Fräulein Gildemeister genügt jetzt nicht mehr.«
»Franziska,« sagte sie, und der Name schwang ihm wie fernes, stilles Glockenläuten im Ohr. »Aber sprechen kann ich jetzt nicht.«
Da wandte er um und führte sie den Weg zurück, wie sie gekommen waren. Nur ihre Hand behielt er in der seinen.
»Kannst du mir den Abend schenken, Franziska? Wird es dir möglich werden?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es wird mir nicht möglich sein. Die alte Dame ist so gewöhnt an mich. Ich muß sie vorbereiten.«
»Soll ich nicht lieber selbst zu ihr gehen? Die zukünftige Frau Stoltenkamp soll sich nicht eine Minute verstecken müssen. Ja, so muß es sein. Ich gehe gleich mit dir und lasse mich melden. Ich möchte dich – ich möchte dich zum Weihnachtsabend in meinem – in unserem Heim haben.«
Sie blieb jäh stehen. Ihre Finger dehnten sich in seiner Hand. Wie in einem Mädchenkrampf. Und dann umschlossen sie seine Hand aufs neue.
»Wie ist das schön ... Fast zu schön ...«
»Mädchen,« sagte er, »es ist für mich so schön, für mich. Denn du wirst mir mehr geben als ich dir.«
Sie kamen in die Stadt und ließen ihre Hände los. Und sie betraten ruhig und ernst das Haus der Gerichtspräsidentin, und Fritz Stoltenkamp ließ sich bei der alten Dame anmelden.
Er konnte seinen Besuch abkürzen. Der Name Stoltenkamp hatte wieder Klang genug erhalten, um keinerlei Einwände aufkommen zu lassen. »Sie bieten meiner jungen Hausgenossin ein so großes Glück, daß ich Ihnen überhaupt dankbar sein muß, daß Sie sie mir noch ein paar Wochen lassen,« schloß die alte Dame. »Ich bitte Sie, bei Ihrer Anwesenheit in Köln Fräulein Gildemeister in meinem Hause zu besuchen.«
Im Vorzimmer fand er Franziska. Ihre Augen waren gerötet, aber um ihren Mund bebte immer noch die Freude.
»Nun bist du meine Braut,« sagte Fritz Stoltenkamp, legte den Arm um ihre Schulter und küßte sie still auf den Mund.
»Fritz,« erwiderte sie, legte den Kopf zurück und sah ihm groß in die Augen.
»Nun mußt auch du mich küssen, Franziska. Ich fahre jetzt heim und komme zum Sonntag wieder.«
Da schloß sie die Augen und küßte ihn mit ihrem weichen Mädchenmund. –
Am späten Abend langte Fritz Stoltenkamp daheim an. Er lobte die Mädchen, daß sie den Tisch so hübsch bereitgehalten hätten, setzte sich in den Sessel der Mutter und träumte ins leere Zimmer hinein.
An diesem Abend bekam die Einsamkeit keine Gewalt über ihn. – –
Am 24. Dezember in der Frühe erfolgte zu Köln die kirchliche Einsegnung des Bundes von Fritz Stoltenkamp und Franziska Gildemeister. Es waren Eberhard Stoltenkamp und Frau Mathilde, Walter und Amalie Grote erschienen, wenn auch Amalie Grote es für eine Laune erklärte, die nur ein alter Junggeselle aushecken könnte, am Weihnachtsabend die Eltern von den Kindern fortzuholen. »Ihr seid ja am Nachmittag wieder zu Haus,« hatte der Bruder erwidert. »Wir nehmen nur ein Frühstück im Gasthof, und jeder feiert Weihnachten für sich daheim.« Und obwohl Amalie auch hiergegen Verwahrung einlegte und sich ereiferte, eine Hochzeit müsse auch als Hochzeit gründlich begangen werden, schon der Leute wegen, blieb es dabei.
Sie alle waren durch die Anzeige von Fritz Stoltenkamps Verlobung, die ihnen gleichzeitig mit der Einladung zur Trauungsfeier zugegangen war, aufs höchste überrascht worden. Mathilde Stoltenkamp vor allen anderen. Nach dem kurzen Frühstück in Köln saß sie mit der Jungvermählten, die ohne Familienangehörige war, ein Weilchen beisammen. Sie ist hübsch und dankbar, lautete ihr Urteil, nur ein wenig farblos gegenüber der ausgeprägten Persönlichkeit ihres Mannes.
»Ich kenne ihn ja seit unserer Kindheit,« sagte sie der jungen Schwägerin, »und kenne seine Neigungen und Abneigungen. Frage mich nur rückhaltlos, wenn du im Zweifel bist. Ich werde dir, als Frau zur Frau, immer gern behilflich sein.«
Und die junge Frau hatte mit ihrem eigenartigen, freundlich stillen Gesichtsausdruck geantwortet: »Sollte es nicht besser sein, wenn ich meinen Mann selber befrage? Ich meine – unhörbar, Schwägerin.«
Da war Frau Mathilde Stoltenkamp doch genötigt gewesen, eine kleine Änderung an ihrem ersten Urteil vorzunehmen. –
Schnee lag auf den schwarzen Feldern, Schnee auf dem weitschichtigen Block der Stahlwerksgebäude, als die Vermählten durch die tannenbekränzte Pforte einfuhren und in das tannengeschmückte Wohnhaus traten. Die schwarz-weißen Fahnen knatterten von den Masten und schwangen sich über die Dächer der Gebäude.
Nun stand Franziska im Wohnzimmer, das ihr aus seinen Erzählungen von der Mutter Wirken so bekannt geworden war, und stand verschüchtert und wartete.
Fritz Stoltenkamp trat auf sie zu. »Glückauf, Franziska,« sagte er mit tiefer Wärme und nahm sie in die Arme.
Sie faltete die Hände um seinen Nacken und verlor sich in seinen Augen.
»Ich will alles, alles tun, was dir Glück bringen kann. Frohe Weihnachten, Fritz.«
»Ich halte mein Weihnachtsgeschenk an meiner Brust. Du wirst mir immer ein Weihnachtsgeschenk bleiben, Franziska. Eins, das ich mir aus dem Schnee holte wie eine Christrose, die alle Blumen überdauert und überholt.«
Draußen sank rasch die Dämmerung. Sie dachten nicht daran, ein Licht anzuzünden. »Setz dich auf Mutters Sessel,« bat Fritz Stoltenkamp, »und tu noch einen Blick hinaus, wie sie es so gern vor dem Abend tat. Sie nannte es: den Tag mit hinübernehmen.«
Es war der jungen Frau seltsam feierlich, als sie auf dem Platz der Mutter saß. Fritz Stoltenkamp hatte den Arm um sie gelegt. Und dann horchten sie beide mit einer jähen Kopfbewegung auf. Ein Männerchor erscholl. Ungeschulte Stimmen. Aber die rauhen Stimmen klangen heute weihnachtsweich und andachtsvoll, als gälte es ein Lied in der Kirche zum frohesten Christenfest.
»Es ist ein Ros entsprungen – aus einer Wurzel zart ...«
Das Lied erhob sich, schwoll an und verklang. Der ganze Hof war voll von Lichtern. Und tausend Männer, in Gruppen von ihren Meistern und Vorarbeitern geführt, zogen an dem geöffneten Fenster vorüber, an dem Franziska Stoltenkamp sah, vom Arme ihres Mannes umschlungen, und jeder der Männer trug einen kräftigen Tannenzweig, der mit einer brennenden Kerze besteckt war, und nahm die Mütze vom Kopf, sobald er im Vorbeimarsch Frau Franziska Stoltenkamp gewahrte. Mitten im Hofe aber stand eine mächtige Weihnachtstanne, deren Lichter entzündet wurden und noch lange in die Nacht hineinleuchteten, nachdem die letzte Gruppe am Fenster vorbeimarschiert war und die tausend Männer mit ihren Lichterzweigen in strammem Schritt den Hof verlassen hatten.
Das war Franziska Stoltenkamps Hochzeitsabend. –
Nach den Feiertagen weckte sie das Brausen der Maschinen, das Donnern der Hämmer, das schneidige Klingen des Stahls. Fritz Stoltenkamp war schon draußen bei der Arbeit. Sie kleidete sich eilends an, lief in die Küche, kehrte im Wohnzimmer ein und ordnete den Frühstückstisch um. Da kam auch schon der Gatte, gerötet von der Glut der Schmelzöfen und dem Frost des Fabrikhofes, und lachte, als er alles bereit sah. »Das geschieht mir nicht wieder,« sagte Franziska eifrig, »daß ich dein Aufstehen verschlafe. Ohne einen heißen Trunk darfst du nicht mehr hinaus.«
Von Stund an war sie vor ihm auf, er mochte sich noch so leise erheben wollen, und erwartete ihn in ihrem warmen weißen Kleid am Frühstückstisch. »Wenn man dich als ersten Morgengruß sieht, vergißt man die Kälte, Franziska.«
Es gab kein Rasten in diesem Haus, kein Rasten in dem stampfenden und dröhnenden Werke. Und Haus und Werk waren eins, das empfand Franziska bald, und es gab keine Schwingung, die nicht hüben und drüben verspürt wurde. Sie sah ihrem Mann an, ob ihm ein Wurf geglückt war, ob im Stahlwerk die Arbeit nach Wunsch vorrückte, ob Hemmungen entstanden oder ein Zweifel auftauchte, der bewältigt werden mußte. Und so benommen sie von all dem Neuen war, das sich täglich aufs neue erneuerte, ohne daß sie des Wesens Grund und Bedeutung zu erkennen vermochte, so sehr mühte sie sich, die Benommenheit von sich abzustreifen, sich nicht von den tausend fremden und ihr unverständlichen Eindrücken zersplittern zu lassen und nur eins zu sein: Fritz Stoltenkamps Frau.
Da war keine Stunde bei Tage und am Abend, wo sie nicht für ihn bereitstand, wo sie nicht alles für ihn bereitgehalten hätte, die Häuslichkeit und ihr ganzes Sein mit seiner Fülle von Liebe und Mitempfinden. Und das Mitempfinden wuchs am stärksten. Ihre ganz auf das Frauenhafte gestellte Natur fühlte unmerklich tastend heraus, wie diesem Manne, der im Kampf um ein Ziel groß geworden und darin untergetaucht war wie ein starker Schwimmer, alles gefehlt hatte, was einen Ausgleich schuf, alle die unzählbaren und unnennbaren Dinge, die keine Mutter, die nur die Frau zu geben vermag. Sie fehlten ihm auch heute, ihr Dasein oder Nichtdasein empfand er nicht, weil er sich in dem einzigen Arbeitsdrange nie mit ihnen beschäftigt hatte, und nur langsam und vorsichtig, Schritt für Schritt, durften sie ihm näher gebracht werden, sollte er nicht stutzen oder verlegen ins Weite sehen.
Mit allem wurde er fertig; mit dem aufdämmernden Gefühl, trotz all seiner Erfolge und Errungenschaften einseitig geblieben und dem verfeinerten und veredelten Innenleben seiner Frau gegenüber verständnislos zu sein, nicht. Da galt es für Franziska, mit den zartesten Händen vorzutasten und jedes der vielen, kleinen Hindernisse aus dem Wege zu räumen, und sie wurde nicht müde.
Oft überraschte er sie bei einem Buch. »Laß dich nicht stören,« bat er, »ich setze mich in eine Ecke und ruhe aus.« Und sie las scheinbar weiter. »Nein,« sagte sie dann und wies auf irgendeine Stelle, »das muß ich dir vorlesen, darüber muß ich dein Urteil wissen, das meine reicht nicht aus.« Und sie las ihm vor und freute sich, wie er mit seinem klaren Kopf Partei ergriff und sich in den Stoff hineinarbeitete und mehr zu hören verlangte.
Oder sie saß am Klavier, das er ihr geschenkt hatte, und spielte die Volkslieder, die er gern hatte, und andere Weisen, deren er sich entsann, und ganz allmählich ging sie zu den Großen über, zu Mozart, zu Beethoven, den sie meisterlich spielte, und wandte den Kopf und fragte: »Kennst du es?« Wenn er verneinte, spielte sie es zum zweitenmal, und wenn er nun ein paar Tonbilder wiedererkannte, sagte sie: »Siehst du, wie gut du es kennst?« Dann wartete er schon, bis sie aus »Figaros Hochzeit« spielen würde, denn dann gab es Fröhlichkeit und lustige Meinungsverschiedenheiten.
»Du hast ein so musikalisches Ohr,« tadelte sie, »und das Schwerste, was ich mir angeeignet habe, ist dir gleich geläufig. Diese Oper aber hast du sogar im Kölner Theater selber gehört, und auch nicht einer der köstlichen Töne ist in deinem Ohr hängen geblieben.«
»Man kann immer nur einen Sinn ganz anspannen,« verteidigte er sich. »In Köln war das Herz an der Reihe.«
»O Fritz, das Herz ist doch kein Sinn!«
»Das verstehst du nun einmal nicht. Dein Herz zum Beispiel ist für mich der Inbegriff aller meiner Sinne.«
Er war nicht schüchtern. Aber in seinen Liebesbezeigungen war er scheu und fast ehrfürchtig.
»Weshalb behandelst du mich so vorsichtig? Ich zerbreche dir nicht, Fritz.«
Dann hielt er ihr die Augen zu und legte seinen Kopf auf ihr weiches Blondhaar.
»Ich bin an Kostbarkeiten nicht gewöhnt, Franziska. Das ist alles so fein und künstlerisch zart an dir und in dir. Ich trau mich mit meinen schweren Händen und schweren Gedanken nicht an so viel erlesene Schönheit heran.«
»Fritz,« stieß sie hervor, umschlang ihn fest und küßte ihn auf den Mund, »ich bin deine Frau – –«
Aber die Scheuheit blieb ihm und hing wie ein feiner Schleier zwischen ihnen. Und wenn eine heiße Stunde ihn hob, fiel er leise und schnell wieder nieder. Sie war seine Kostbarkeit, sein Köstlichstes, von der er die Dinge des Alltags fernhalten mußte, wie sie den Alltag und den Werktag von seiner Stirn scheuchte, wenn er sein Heim betrat. Von geschäftlichen Angelegenheiten redete er nie zu ihr. Hier erkannte er die Grenzen ihres Wissens und schonte sie gern.
Einmal bat sie ihn: »Erzähl mir doch von deinen Arbeiten. Ich muß auch hierin mit dir eins sein.«
Er antwortete: »Das läßt sich nicht erzählen. Das will miterlebt sein, Franziska.«
»Mit der Mutter hast du doch alles besprochen, Fritz. Bin ich so unklug?«
»Nein, du hast mehr gelernt als die Mutter und ich. Ich möchte sagen: was wir auf dem Acker gelernt haben, hast du im Blumengarten gelernt. Die Mutter ist von Anbeginn dabei gewesen und hat jede Entwicklungsstufe des Werkes mit durchgemacht. Das war leichter. Heute ist das Werk für mehr als eine Übersicht zu groß geworden.«
»So hilf mir, Fritz, daß ich die Übersicht gewinne. Frau Fritz Stoltenkamp muß doch wenigstens Stahl von Eisen unterscheiden können.«
Er strich ihr über die heißgewordenen Wangen. Und in den nächsten Tagen führte er sie einige Male durch das Werk. »Das ist wie in der Schmiede Vulkans,« sagte sie vor den glühenden und spritzenden Stahlmassen in den Ofen und unter den Hämmern und bändigte ihre Erregung, um seinen Erklärungen folgen zu können. Den Werdegang erfaßte sie bald vor den lebendigen Bildern, aber in die Seele des Stahls vermochte sie nicht einzudringen. Vor den großen Zeichenplänen und Entwürfen, zumal aber nur den Berechnungen der Zähigkeit, Dichtigkeit und Härte, die die Unterlagen bildeten für die Inangriffnahme eines jeden neuen Gegenstandes, blieb sie ratlos. Und da der Gatte eine bloße Laienunterhaltung über die ernsten Arbeitsfragen nicht liebte, so rührte sie nicht daran, so wenig, wie er selbst daran zu rühren wünschte, und es war ein kaum merkbarer leerer Raum um einen jeden von ihnen beiden.
»Das darf nicht sein,« sagte sich Franziska täglich, »er wenigstens soll ihn nicht empfinden,« und sie verdoppelte ihre Anstrengungen, ihr Heim immer lichter und gastlicher zu machen, und ihre Sorgen, in denen sie dem kleinsten seiner Bedürfnisse einen Platz zuwies. Wie eine liebe, kühle Hand verspürte er all ihr Tun auf seiner heißen Stirn.
»Daß die eigene Frau noch mehr vermag als die eigene Mutter,« sprach seine Dankbarkeit bewundernd.
»Ich möchte mehr, viel mehr noch tun.«
»Du mußt es so betrachten, Franziska: Dies ist ein Staat. Ich leite die Ministerien des Äußern und des Krieges, du das Ministerium des Innern und das Kultusministerium. Ich fürchte, das letztere hat sehr brach gelegen.«
Sie griff seine Worte auf und stellte sich ihre Aufgabe danach, die sie langsam erhöhte und erweiterte. Die Räume blitzten wie die Schmuckkästchen. Kein Ding war am falschen Platz, und was seinen Platz erhalten hatte, war ein schönes und seltenes Stück, das den Platz verdiente. Nur die Stühle und Sessel blieben leer. Sie legte ihm nahe, hin und wieder die Ingenieure und die anderen Beamten des Werkes zu sich in sein Haus zu bitten, denn wer mit seiner ganzen Arbeitskraft zum Werke gehöre, der müsse auch im Hause ein Plätzchen zur Erholung wissen. Gerade stand der große Betrieb unter einem Hochdruck wie kaum zuvor. Eine umfangreiche Kanonenwerkstatt wurde errichtet, neue Dampfmaschinen den alten zugesellt, die Aufstellung eines Riesenhammers für Stahlblöcke jeden Umfangs geplant, und die Zahl der Arbeiter wuchs wöchentlich. Trotzdem willfahrte Fritz Stoltenkamp Franziska gern. Er verstand, daß gerade in den Zeiten der stärksten Anspannungen und Leistungen ein Ausgleich geschaffen werden mußte. Seine feinfühlige Frau hatte das Richtige getroffen: sein Mitarbeiterstab hatte nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte.
Die Herren kamen zuerst zögernd. Die junge, hochgebildete Frau war für sie aus einer anderen Welt. Aber Franziska Stoltenkamp lehrte sie schnell, daß sie alle von dieser anderen Welt insgeheim in sich trugen und nur danach verlangten, ihr Ausdruck geben zu dürfen. Die musikalisch Veranlagten fand sie an einem Wort, einer Bewegung heraus, die sie ihrem Klavierspiel spendeten, und sie gab nicht nach, bis sie gestanden, in ihren knappen Mußestunden den Geigenbogen zu handhaben oder das Cello zu streichen. Da war es nur ein Schritt zu den Übungsabenden, und der Rest der Herren hatte seine Freude an dem Eifer und mehr noch an den Zwischenfällen und wurde zu Hörern erzogen. Es war ein wunderhübsches Quartett, das sie zusammenbrachte, und Fritz Stoltenkamp horchte sichtbar ergriffen auf, als es zum erstenmal in seinem Haus ertönte. Ja, das war ein Ausgleich gegen die Hammermelodien des Tages. Weshalb hatte er so alt werden müssen, bis ein solcher Ausgleich in sein Leben hineingeklungen war. Er kommt ein wenig spät zu mir, dachte er, fast zu spät ...
Oft saß er still in einer Ecke, rauchte seine Zigarre, hörte zu und ließ den Blick über seine Gäste schweifen. Es war ihm wohl zumute, und er hatte das behagliche Gefühl des Hausherrn, das er nie gekannt hatte. Oft stand er im Nebenzimmer unter seinen Herren, trank Bier mit ihnen, plauderte und lachte. Und auch hier war ihm wohl.
»Nun, Frowein, Sie haben doch einen so herrlichen Pfiff am Leibe. Weshalb gesellen Sie sich nicht zu den Musikanten?«
Der kluge und unermüdliche Mann war und blieb eine seiner besten Stützen.
»Der Pfiff ist ein bißchen schrill geworden, Herr Stoltenkamp.«
»Was? Sie sind doch seit Jahr und Tag aufs neue verheiratet? Ich denk, im Lenz lernt jeder Fink das Singen?«
»Mancher gerät aus dem Singen leicht ins Kreischen, Herr Stoltenkamp.«
»Hören Sie, Frowein, nun erzählen Sie mir nicht, daß Sie wieder daneben gegriffen haben. Schimpft sie auch, dann liegt's an Ihnen.«
»Ich wollte, sie schimpfte, Herr Stoltenkamp. Aber die Reihe ist jetzt anders rum. Ich Hab zu schimpfen.«
»Frowein, Frowein,« sagte Stoltenkamp und schlug ihn auf die Schulter, »und Sie haben mir damals so viel Mut gemacht. In der Maiennacht. Auf dem Fabrikhof. Wo Sie das heimatliche Sprichwort zur Hand hatten.«
»Ich hab auch jetzt wieder eins,« meinte der Unverbesserliche, und der Humor lachte ihm aus den Augen. »Es handelt von denen, die am erstenmal nicht genug hatten und zum zweitenmal heiraten. Ja, Herr Stoltenkamp, ich hüte mich, so etwas zu sagen, aber das Sprichwort sagt's. ›Der Mann, der zum zweitenmal heiratet, ist nicht wert‹ –«
Er nahm sein Bierglas und trank einen tiefen Zug.
»Nun? Was ist der Mann nicht wert?«
»,Daß ihm die erste Frau gestorben ist, Herr Stoltenkamp Es ist hart und lieblos, und ich will mich nun auch still empfehlen und meine Eheliebste auf einem Kaffeekränzchen suchen gehen. Da töten sie ihre Mitmenschen noch ganz anders als wir mit unseren Kanonen. Vielen Dank für den schönen Abend, Herr Stoltenkamp.«
Fritz Stoltenkamp stand in der Verbindungstür und blickte auf seine Frau. Sie saß in ihrer zarten Schlankheit am Klavier, und die Töne perlten unter ihren weißen Händen.
Wie alles, was sie berührt, dachte der Horcher. So fein, so silbern. Weshalb bin ich nur so schwer?
In einem Sessel saß sein Ingenieur Ungemach, das Cello zwischen den Knien, das er liebkosend mit dem Bogen strich. Ein jüngerer Techniker spielte die Geige, ein kaufmännischer Beamter die Bratsche. Und alle waren sie hingenommen von der Wunderwelt der Kunst, als läge draußen vor der Tür nicht die nüchterne Welt des Stahlwerks.
Alles hervorragende Männer in ihrem Fach, dachte Fritz Stoltenkamp. Aber die Arbeit hat sie in ihrer Jugend wohl nicht so wütend angefallen wie mich. Nicht so auf Leben und Tod.
Und dann sammelte sich sein Blick auf dem blonden Scheitel seiner Frau.
Wenn sie wüßte, was sie mir ist. Ich habe eine zu schwere Zunge, um es zu sagen. Daher bleibt immer ein Zwischenraum.
Im Sommer wurden die Abende eingestellt. Die Arbeit wuchs und ließ den Werksherrn auch Sonntags nicht mehr los. Franziska Stoltenkamp saß mehr als sonst auf dem Sessel Frau Margaretens und blickte aus tiefliegenden, dunkelleuchtenden Augen ins Wesenlose.
Im Oktober gebar sie einen Knaben.
Ganz still und bleich lag sie, und ihre Augen wanderten von dem Kind zu ihrem Manne.
Fritz Stoltenkamps Hände zitterten zum erstenmal. Kaum wagte er, sie zu berühren. Da lag der Erbe und schaute ihn mit seines Weibes Augen an. Und da lag sie, die Feine, Erlesene, die er ohne langes Fragen auf seinen rauhen Stahlwerkshof verpflanzt hatte, in seine Einsamkeit. Und sie dankte es ihm mit einem Knaben, einem Erben.
Er versuchte, sich verständlich zu machen. Nur schwer lösten sich die Worte. Aber seine Augen hatten einen feuchten Glanz, so tobte die Freude in ihm.
Das sah die stille, bleiche Frau, und ein Schein seliger Erlösung lag um ihre Augen. – –
Sie nannten den Knaben Friedrich Franz. Friedrich nach seinem Vater und Großvater, Franz nach seiner Mutter Franziska. Er blieb der einzige in ihrer Ehe.
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