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Wir fügen hier noch einige Erörterungen bei, welche im Texte nicht wohl angebracht werden konnten, ohne den Zusammenhang desselben zu stören. Sie beziehen sich auf den S. 62 ff. erwähnten Probabilismus, und wir verdanken sie meist dem Werke von Döllinger und Reusch, Geschichte der Moralstreitigkeiten in der röm.-kathol. Kirche seit dem 16. Jahrhundert (Nördlingen 1889).
Das Gefährliche und Bedenkliche des Probabilismus liegt darin, daß er sich nicht in erster Linie vom Gewissen leiten läßt, sondern von Ansichten und Meinungen, die naturgemäß auseinandergehen. Er hat daher mehrere Abstufungen, und ihm schließen sich Übergänge zu einem Standpunkte an, welcher nicht mehr der seinige ist. Auf die Frage nun, unter welchen Voraussetzungen man in seinem Verhalten irgend einer Ansicht folgen dürfe, antworten:
1. Der Probabilismus selbst, und zwar wieder
a. der laxe Probabilismus oder Laxismus:
»wenn nur irgend welche Gründe dafür sprechen oder wenn es nicht gewiß ist, daß keine Gründe dafür sprechen.«
b. Der Probabilismus im engern Sinne:
»wenn die Ansicht zwar weniger probabel, aber doch auf gute Gründe gestützt ist.«
c. Der strengere Probabilismus:
»wenn die Ansicht beinahe ebenso probabel ist, wie die entgegengesetzte.«
2. Der Äquiprobabilismus:
»wenn die sichere und die weniger sichere Meinung gleich probabel sind.«
3. Der Probabiliorismus:
»der minder sichern Ansicht darf man nur dann folgen, wenn sie die probablere, der sicherern aber auch, wenn sie die minder probable ist.«
4. Der Tutiorismus und zwar a, im engern Sinne:
»der minder sichern Ansicht darf man nur dann folgen, wenn sie die probabelste ist.«
b. Der Rigorismus:
»Der sicherern Meinung muß man folgen, auch wenn die minder sichere probabler oder sogar die probabelste ist.« (Vergl. Lehmkuhl Theol. moral. I. p. 59).
Wir möchten diesen Ansichten gegenüber unsern Standpunkt so formulieren: »Man muß unter allen Umständen der sichersten Meinung folgen und auf Probabilität keine Rücksicht nehmen. Die sicherste Meinung ist aber die, welche ein gebildetes Gewissen eingiebt.«
* * *
Der Probabilismus ist weder ursprünglich von den Jesuiten ausgegangen, noch ausschließlich von den Jesuiten, noch endlich von allen Jesuiten gelehrt worden. Aber er ist der Standpunkt von weit mehr Jesuiten als Nichtjesuiten, und seine Gegnerschaft ist unter den Jesuiten sehr spärlich vertreten, so daß man befugt ist, Probabilismus und Jesuitismus für nahezu gleichbedeutend zu halten. Wir sprechen hier natürlich nur von den Moralisten; daß im Privatleben der Probabilismus unter den Nichtjesuiten sehr stark vertreten ist, haben wir (S. 61) bereits angedeutet.
Der erste Probabilist, welcher als Morallehrer austrat (1577), war ein spanischer Dominikaner, Bartholomäus de Medina.
Unter den nichtjesuitischen Moralisten finden wir weiter nur 14 namhafte Probabilisten. Die Bekanntesten darunter sind: Der Weltgeistliche Juan Sanchez, der reguläre Kleriker Thomas Hurtado, der Cistercienser Joh. Caramuel, der Teatiner Antonio Diana, der Dominikaner Gregor Sayre und der Oblate Martin Bonacina.
Jesuiten, welche den Probabilismus bekämpften, aber allerdings nur bis zum Probabiliorismus vorschritten, nennt man nur sieben, meist wenig bekannte: Ferd. Rebello, Paul Comitoli, Andreas Bianchi, welchem letztern, dem entschiedensten von ihnen, bezeichnender Weise der General nicht gestattete, sein Werk unter seinem wahren Namen und im Namen des Ordens herauszugeben, später Ludwig de Scildere aus Brügge und Michael de Elizalde, ein Spanier, noch später der General Gonzalez und Camargo.
Die bei weitem zahlreicheren und bedeutenderen Gelehrten der »Gesellschaft Jesu« stehen aber auf Seite des Probabilismus. Ihr Verzeichnis enthält 50 bis 60 Namen, unter welchen Escobar (s. ob. S. 61), von dem man sagte, daß er den Himmel teuer kaufe und anderen billig ablasse, den ersten Rang einnimmt. Neben ihm sind die hervorragendsten: Gregor Vasquez (der älteste jesuitische Probabilist), Navarra, Suarez, Thomas Sanchez, Toletus, Henriquez, Peter und Kaspar Hurtado, Franz und Joh. de Lugo, Castro-Palao (alles Spanier), Emanuel Sa, Fagundez (Portugiesen), Figliuzzi, Baldello (Italiener), Bauny, Pirot (Franzosen), Lessius, Sylvius (Niederländer), Laymann, Busembaum (Deutsche). Molina, Valencia und Azor schwankten zwischen Probabilismus und Probabiliorismus.
Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts ging der Probabilismus (meist in Folge der ihn angreifenden Provinzialbriefe Pascals) entschieden zurück, erfuhr viele Verurteilungen und selbst (oben S. 74) päpstliche Verdammungen, und einige Jesuiten suchten die angefochtenen Ansichten von ihren Orden abzuwälzen. Ihr Ordensbruder Cardenas aber verteidigte die verworfenen Sätze geradezu und bestand darauf, daß es erlaubt sei, ein Verbrechen abzuleugnen, wenn man in Gedanken Zusätze mache ( Diss. 19, c. 2, N. 14). Die Dominikaner fielen vom Probabilismus ganz ab; die Jesuiten aber wandten sich ihm nur noch mehr zu, und Thomas Tamburini trieb dieses System 1654 geradezu auf die Spitze, ebenso Anton de Sarasa (1667), welcher lehrte, das Gewissen dürfe der Meinung eines einzigen gelehrten Mannes folgen, auch einer fremden Meinung, die der eigenen widerspreche, und einer probabeln mit Beseitigung der sicheren. Als der laxeste Moralprediger aber galt der Engländer Anton Terillus (1668). Dagegen verweigerten die Ordensoberen dem Jesuiten Elizalde die Erlaubnis zum Drucke seines antiprobabilistischen Werkes und der General Oliva bedrohte ihn mit den schwersten Strafen. Begreiflich; denn Elizalde sagt von den Schriften seiner Gegner im Orden: »Ich suchte Christus, er war nicht da. Ich suchte die Liebe Gottes und des Nächsten, sie war nicht da. Ich suchte das Evangelium es war nicht da. Ich suchte die Demut, sie war nicht da, ... Das Evangelium ist einfach und widerspricht aller Doppelzüngigkeit; es kennt nur Ja, Ja, Nein, Nein. Der moderne Moralismus aber ist nicht einfach, sondern gebraucht jenen doppelzüngigen Probabilismus und hat Ja und Nein zusammen, da seine Regel die Probabilität einander widersprechender Sätze ist.« Ja, der Jesuit Sanvitale sprach dem Elizalde die Gelehrsamkeit und Tugend ab und behauptete geradezu, ein Gegner des Probabilismus habe in der Gesellschaft Jesu keine Berechtigung!! Ebenso wies General Oliva den Ordensmann La Quintinye zurecht, der über die schlimmen Folgen der Morallehren Busembaums u. a. klagte, und die Jesuiten rühmten sich der leichten Absolution in ihren Beichtstühlen (Döllinger und Reusch a. a. O. S. 64). In der Lehre von der Beichte verfochten die meisten jesuitischen Kasuisten die Ansicht, daß zur Lossprechung die Attrition, d. h. die Reue aus Furcht vor der Hölle, genüge und daß die Contrition, d. h. die Reue aus Liebe zu Gott, nicht erforderlich sei, und der französische Jesuit Tresse ging so weit, zu behaupten: Der Mensch sei nicht verpflichtet, Gott zu lieben (was Alexander VIII. verdammte, Döllinger und Reusch S. 79). Gegen den in Spanien, dem Vaterlande des Ordens, fortwährend herrschenden Probabilismus wagte der Jesuit Thyrsus Gonzalez de Santalla seit 1670 in seinem Fundamentum theologiae moralis aufzutreten, indem er bis zum rigorosen Tutiorismus vorschritt; aber der General Oliva verweigerte die Erlaubnis zum Drucke dreimal. Innocenz XI. nahm sich seiner an und bewirkte sogar, daß er 1687 selbst General wurde. Als er nun ein neues Buch gegen den Probabilismus schrieb, suchten die Assistenten dessen Veröffentlichung zu hintertreiben; aber Innocenz XII. gestattete sie. Gonzalez starb 1706, geisteskrank in Folge der fortwährenden Angriffe seiner Gegner.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts machte der Probabilismus weitere Rückschritte, blieb aber unter den Jesuiten vorherrschend, welche darüber mit anderen Geistlichen, namentlich mit den Dominikanern, in beständigem Streite lagen. Das Parlament von Paris ließ (1762) 163 moraltheologische Werke von Jesuiten verbrennen.
Als der Jesuitenorden durch Clemens XIV. aufgehoben wurde, setzte Alfons von Liguori (geb. 1696 bei Neapel, gest. 1787, heiliggesprochen 1839, als Kirchenlehrer erklärt 1871), die Moraltheologie der jesuitischen Probabilisten fort (so sagt der von den Jesuiten selbst beauftragte Geschichtschreiber des Ordens, Crétineau-Joly, Original VI, 231); ja noch mehr, er bewirkte ihre offizielle Anerkennung in der Kirche, die so oft gegen sie gekämpft hatte! Denn der Äquiprobabilismus Liguori's unterscheidet sich von dem eigentlichen Probabilismus der Jesuiten nur in sehr geringem Maße, ja beinahe gar nicht, und die heutigen Jesuiten und Jesuitenfreunde feiern Liguori als echten Probabilisten. Er gestattet die Zweideutigkeit, die Leugnung von Thatsachen mit Gedankenvorbehalt und unter Umständen sogar den Meineid, die geheime Schadloshaltung und die Freiheit vom Schadenersätze (Döllinger und Reusch I. S. 443 ff.). Seine Lehre ist 1879 auch von Leo XIII. bestätigt worden und der in zahllosen Priesterseminarien eingeführte P. Gury steht ganz auf Liguori's Schultern. Damit ist der Probabilismus, d. h. der eigentliche Jesuitismus zur Kirchenlehre geworden. Die Kirche hat dazu unzweifelhaft das Recht, – ob es zu ihrem Heile dient, wird die Zukunft lehren. Der Staat aber hat ebenso das Recht, diejenigen, die eine vom Standpunkte strenger Moral so verwerfliche Lehre in die Kirche eingeschmuggelt haben, von sich fern zu halten und damit der Kirche zu verstehen zu geben, daß er ihre ältere und bewährte Sittenlehre der neu eingeführten vorziehe, die sich niemals bewähren kann und wird!