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Der blutige Vormarsch nach Süden war nun in vollem Gang. Tage und Nächte dröhnte der Marschtritt der Kolonnen über die weiten Flächen, die im Frühjahrswind zu tauen begannen. Schwere Militärzüge rollten und ratterten hinterdrein, und Soldatenlieder mischten sich in den flatternden Rauch, der wie ein weißer Gruß über vorüberhuschende Dörfer flog. Selbst der fauchende Schornstein schien Hurrarufe ins Sonnenlicht hinaufzustoßen, und die Dampfpfeife schrillte ständig: Nach Süden! Nach Süden! – Unaufhaltsam gewann der Marsch an Breite und Stärke. Die zahlenmäßig geringen Truppen sogen aus den befreiten Gebieten neue Kräfte auf, verdichteten sich, ballten sich zusammen, und wie eine Lawine wälzten sich die grauen Massen von Norden herab. Zu Ende war das entnervende Stilliegen und der Kleinkrieg. Jetzt wird's endlich Ernst, sagte man und empfand wieder, daß ein Mannesherz links in der Brust sitzt. Man sah einander leuchtend in die Augen, hängte das Gewehr über die Schulter und marschierte drauflos.
An der Front vorne wurde unablässig gekämpft. Stoßweise schob sie sich wie ein brennender Gürtel vorwärts, der hinter sich rauchende Verödung zurückläßt. Lärm und Getümmel hallten tausendfach durch die lauklaren Märznächte und über die stille Landschaft, die noch so krank und schwarz in dumpfer Ahnung des kommenden Frühlings dalag. Hier und da in der Ferne flammte heller Feuerschein auf und beleuchtete ein Wirrwarr kämpfender Gestalten. Beißender Brandgeruch schlug den nachfolgenden Truppen entgegen, und den Wegrand säumten die geschwärzten Steingerippe zerstörter Gehöfte.
Dieser gewaltige Menschenstrom vom Norden her wurde lautlos und unsichtbar von einer ständigen Gegenströmung durchschnitten, die auf den verschiedensten Wegen von der Feuerlinie in die Krankenstuben und Lazarette zurückflutete und sie mit Verwundeten und Toten füllte. Unaufhörlich knirschten die Schlittenkufen über ausgefahrene Wege, unaufhörlich dampften kleine eilige Züge mit ihrer Last verbrauchter Menschenleiber fort. In den Stuben flochten die Mädchen Wacholderkränze, die Tischler hobelten wochenlang Kiefernsärge, und die Dorfmaler schrieben Namen um Namen auf schmale weiße Holzkreuze. An jedem Sonntag standen schwarzgekleidete Pfarrer mit dem Psalmenbuch an offenen Gräbern, und unter andächtigem Schweigen fielen die drei Schaufeln Erde herab, während die Frauen still vor sich hin weinten. Der Volksschullehrer, mager und verschlissen, trat vor, um mit erhebenden Worten sein trostreiches Licht leuchten zu lassen. Was man in diesen Tagen und an diesen Gräbern auch sprach – oft einfach und ergreifend, oftmals mit verschnörkelten Worten – immer klang das gleiche darin:
Nie wiegst du leichter, Heimaterde,
Als auf der Söhne Gräbern, die ihr Leben ließen
Dich zu befrein, du Heimaterde!
Über aller Angst und Unruhe aber schwamm ein lichter Lenzhimmel und sah blauäugig und verwundert auf das einst so stille Finnland herab. –
In der großen Ordnung der Dinge marschierte der kleine Onni Kokko mit. Mal fuhr er eine Strecke mit dem Zug, mal ging er einige Meilen mit in der Frontlinie vor, immer aber tat er das gleiche wie der Leutnant. Sie hielten zusammen, die beiden. Onni konnte sich überhaupt nicht mehr vorstellen, daß sie sich jemals trennen sollten.
Sein Gesicht war wieder sauberer und seine Haltung aufrechter geworden. Niemals lächelte er, und selten sagte er mehr als das Nötigste, aber der Leutnant merkte, wie es mit jedem Tage zuversichtlicher in ihm wurde. Es bereitete ihm eine besondere Freude, in dieser großen und doch so haßerfüllten Zeit all seine verhaltene und gerade jetzt scheinbar so überflüssige Herzenswärme an einen Kleinsten unter den Kleinen verschwenden zu können. Im übrigen jedoch war dies Geben und Nehmen keineswegs so einseitig, wie man hätte glauben können. Onni empfand wohl, daß von dem starken Mann an seiner Seite die heilende Kraft ausging, die er unsichtbar durch sein zerquältes Leben strömen fühlte, aber er ahnte kaum, daß er selbst in seiner Hilflosigkeit auch eine Quelle der Kraft für den Leutnant bedeutete. In dieser Zeit war dieser ebenso wie alle anderen einzig von dem Gedanken beseelt, zu töten, zu vernichten. Er wußte, es war das einzige Mittel, und er zauderte nie. Gerade deshalb aber war es gut, in seiner Nähe eine kleine, in sich ruhende Welt zu wissen, die vor kurzem noch niedergebrochen und verwüstet war und in der nun jeder neue Tag aufbaute und heilte. Jede kleinste Freundlichkeit, jedes gute Wort, das man in der Eile dorthin sprach – alles wurde aufgenommen und für einen neuen Bau verwendet. Es war tröstend, das vor Augen zu haben, und es befestigte seinen Glauben an die Zukunft weit stärker, als er selbst merkte. Denn wenn der Leutnant auf Onni Kokko blickte, so dachte er bei sich: Alles Zerstörte hier auf Erden kann aufgerichtet werden, wenn sich nur jemand findet, der es liebt. Dieser Gedanke marschierte mit ihm auf den blutigen Wegen nach Süden, schwebte durch die Lenzluft und weitete sich aus. So war es letzten Endes Onni Kokko, der ihn mit der frohen Zuversicht erfüllte, daß auch die Heimat wieder aufblühen würde, wenn einmal das Schlimmste vorüber wäre.
Onni an seiner Seite dachte gleichfalls an das Vaterland, während er in seinen Schaftstiefeln, die nun eher braun als gelb zu nennen waren, durch die nassen Märztage vorwärtsstrebte. Nicht, als ob er sich über Nacht in einen bewußten Patrioten verwandelt hätte – das ging über sein Vermögen. Die allgemeine Begeisterung riß ihn wohl mit und beschleunigte seine Schritte, aber er war nun allzulange mit dabei, als daß er von einer Stimmung berauscht worden wäre. Auch ihn mußte man zu den tödlich Verwundeten zählen, obschon er sich die ganze Zeit über auf den Beinen gehalten hatte. Er marschierte dahin und dachte wie die anderen an das Vaterland; aber auf seine eigene Weise.
Unbewußt hatte er die Wahrheit in den Worten des Leutnants erfahren, daß das Vaterland aus vielen verschiedenen Dingen bestehe und kaum für irgendeinen Menschen aus all diesen Dingen insgesamt.
Für Onni Kokko war das Vaterland ein Mensch. Und nicht nur das. Alles, was dieser Mensch sagte und tat, wofür er kämpfte und sorgte, das gehörte ebenso zum Vaterland. Onnis Streben wurde es, sich dies alles zu eigen zu machen, und so erfüllte sich allmählich seine innere Leere mit einem neuen ruhigen Ernst. Auf diese Weise wurde ihm das Vaterland alles. Er besaß nichts anderes mehr.
Seine alten Rechnungen hatte er aufgegeben. Im übrigen wurden die Kämpfe mit der Zeit so blutig und verworren, daß es unmöglich gewesen wäre, Klarheit darüber zu gewinnen. Statt dessen hatte er auf des Leutnants Anraten damit begonnen, alle eroberten Dörfer zusammenzurechnen, die sie durchquerten. Anfangs erfüllte er dies halb wie einen Befehl, halb als eine Art Zerstreuung. Nach einigen Tagen jedoch wurde es ihm zur Gewohnheit, und schließlich kam so etwas wie Herz und Empfinden in die neue Rechnung. Besonders dann, wenn er merkte, daß der Leutnant sich mit etwas Ähnlichem beschäftigte. Eines Morgens nämlich überquerte die Kompanie einen See, dessen Eis schon in der Frühjahrssonne zu schmelzen begann, und kaum hatten sie das andere Ufer erreicht, da nickte ihm der Leutnant zu und sagte, auf das Wasser deutend: »Dort werden im Sommer freie Menschen rudern.«
Und später am Tage, als sie in der Vorhut eingesetzt wurden und nach kurzem Kampf eine Höhe genommen hatten, blickte er sich wieder um: »Ein neues Stück gewonnen!« sagte er. – Allmählich wurde es zu einem heimlichen Brauch zwischen ihnen, sich bei jeder erdenklichen Grenzmarke ein kleines freudiges Zeichen zu geben, das so viel bedeutete wie: das Vaterland wächst. Gewöhnlich nickten sie einander nur zu: da haben wir wieder eine Höhe.
Bald kamen auch Tage, an denen man wirklich über jede neue Anhöhe, die erreicht wurde, froh sein konnte. Der Widerstand wurde immer heftiger. Schon kam es vor, daß man Gelände gewann, verlor und wieder erobern mußte. Einen Tag und eine Nacht lang arbeitete sich die Kompanie durch einen lichten Wald vor. Die Verluste waren größer als je zuvor, aber mitten in allem mußte der Leutnant plötzlich lächeln. Es kam ihm nämlich so vor, als ob Onni die Stämme zusammenzählte. So gründlich hatte er sich sein Vaterland bereits zu eigen gemacht.
Am folgenden Tage sah der Leutnant ihn selbst zum ersten Male lächeln. Sie durchquerten gerade in Schützenlinie einen Waldrand und überkletterten einen Zaun, von dem eine Krähe aufflog, jedoch nach einer Weile zurückkehrte und sich auf ihrem alten Platz niederließ. Onni hatte das beobachtet, zeigte auf den Zaun und sagte: »Jetzt sitzt dort eine freie Krähe.« Es war das erste Mal, daß er wieder lächelte.
Indessen wurden die Kämpfe immer blutiger; von den Kameraden fiel einer nach dem anderen. Das Heer war zu einer Riesenfaust gewachsen, die langsam ihren eisernen Griff um den großen Horst im Herzen des Landes schloß, in dem das Raubtier nun bald erwürgt sein würde. Aber noch war die Faust nicht geschlossen, der sehnige Ring nicht fertig. Die Männer in der Front wußten wenig davon. Sie merkten nur, daß Geschützdonner und Feuersbrünste ständig zunahmen, je weiter sie gegen die Stadt andrängten, und sie wußten auch, daß der Tag des Sturmes und mit ihm das große Sterben bevorstand. Dennoch stürmten sie unter diesem dunkel ahnenden Gefühl furchtlos gegen den Feind.
Onni Kokko ging Seite an Seite mit dem Leutnant vor. Je verworrener alles für die anderen wurde, je mehr ihnen die dunkle, verpestete Luft den Atem benahm, um so klarer wurde ihm der Märzhimmel und um so einfacher sein vierzehnjähriger Blick über Leben und Tod hin.
So trat er zum zweiten Male unter die »Fertigen«; still und stark.