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4

Onkel Isak stützte die Arme auf den gedeckten Weihnachtstisch, sah zu Boden und räusperte sich. Unsicher und fast wie beschwörend klang es, als er jetzt sagte: »Ich finde doch, man hätte wenigstens am heutigen Abend vor dem schmutzigen Russen Ruhe haben sollen. Und das sage ich dir, wenn Anna ihn angeschleppt bringt, wenn Anna vom Tanzboden mit ihm hierher kommt, dann verzieh ich mich in die Kammer und riegele mich ein, bis er wieder weg ist.«

»Das hättest du etwas früher sagen sollen. Jetzt, wo die Sache abgemacht ist, läßt sich nichts mehr dran ändern, und sie können jede Minute hier sein. Einmal muß ja schließlich der Anfang gemacht werden, und daß man ihn nicht hinauswerfen kann, ist dir wohl klar. Aber das möcht ich dir noch sagen: Du hast dich in letzter Zeit ganz schön an der guten Soldatenkost gemästet, doch auf Dankbarkeit scheint sich dein Magen nicht zu verstehen. So was ist nicht anständig, das würde sogar ein Bourgeois begreifen. Und wie ich dich kenne, wirst du jedenfalls heute abend nach dem Essen Bauchschmerzen haben. Jaa, die Gaben sind schon recht, nur den Geber willst du vor die Tür setzen! Schließlich weißt du genau so gut wie ich, woher das alles hier stammt.«

Die Mutter wies auf den Tisch, der mit Eßwaren vollbepackt dastand. In der Mitte erhob sich ein ganzer Stapel von russischen Konservenbüchsen.

»Das wird keine Hungerleider-Weihnacht hier im Hause«, fügte sie dann hinzu.

Onni Kokko begriff, daß hier nur eins zu tun blieb. Er langte verstohlen nach Mütze und Jacke und schlich sich in die Dunkelheit hinaus.

So ging es mit diesem Weihnachtsfest ...

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Ein paar lichte Flocken schwebten vom sternlosen Himmel nieder. War es warm oder kalt? Er empfand es nicht. Sein Herz klopfte laut, und das erregte Blut summte ihm in den Ohren. Bis in die Fingerspitzen hinein spürte er die innere Hitze. Hätte er nur etwas, was er haßte, irgendeinen Feind unter den Fingern gehabt! Heute abend hätte er ihn erwürgen können. Gerade heute. Im Namen der Heiligen Weihnacht und des Erlösers! Amen.

Er machte einen Schneeball und zerdrückte ihn zwischen den Händen, daß der Schnee ihm ins Gesicht spritzte.

Auf dem Wege war es menschenleer. Nur zwei betrunkene Soldaten taumelten johlend dem Vereinshause zu, von wo der Wind ein paar dumpfe Blechmusiktöne herübertrug. Es klang so, als ob irgendwo ganz fern im Dunkel ein Untier einen Walzer brummte. Der eine von den Russen war barhäuptig und fuchtelte wild mit einem Revolver in der Luft herum. Beide fielen sie abwechselnd hin und halfen einander wieder auf die Beine.

Onni Kokko hastete vorwärts. Ihm war, als ob die Hornstöße ihn in den Rücken träfen. Er hatte plötzlich ein grauenhaftes Ungeheuer hinter sich im Dunkel, das ihn mit grollenden Tönen verfolgte und vorwärtsjagte. Im Laufen fühlte er, wie er in Schweiß geriet. – Da kam ein Lokomotivpfiff von der Bahn her und zerriß den unheimlichen Spuk. Nie zuvor hatte ein Laut so gut und traulich geklungen. Dort gab es irgendeinen zuverlässigen und wachsamen Menschen, der hinten auf der dahinfauchenden Maschine stand und Signal gab: hier kommt der Zug durch den Weihnachtsabend! Und in den erleuchteten Wagen saßen viele Menschen, gute Menschen ...

Er blieb stehen. Das Brausen des Zuges verklang nach und nach, aber auch die Horntöne hörte man nicht mehr. Langsam wanderte er der Stadt zu. Vielleicht würde er dort einen kleinen Schimmer vom Weihnachtsfest erhaschen. Zumindest war es nach der Seite klarer und heller. In der nebligen Luft droben stand der Lichtschein wie eine weiße Glocke und beleuchtete die niedrigen Wolken. Wie der Widerschein von einem unermeßlich großen Weihnachtstisch.

Er ging schneller.

Der Weihnachtstisch ... Früher stand immer die Tanne mit ihren vier Lichtern in der Mitte, aber nun stand da ein Stapel Blechbüchsen von dem Russen. Und vor dem Tannenbaum hatte immer Vaters große Bibel gelegen, aus der er ein Stück vorlas, bevor man die Lichter anzündete und sich zu Tisch setzte. Das muß so sein, pflegte er zu sagen, auf diese Weise muß Heiligabend beginnen. Stattdessen lag jetzt ein Russenbrot vor dem Baum. Nicht etwa, daß solches Vorlesen besonders unterhaltsam gewesen wäre. Aber heute abend hätte er gern den ganzen Russenfraß hinausgeschmissen, wenn der Tannenbaum und die Bibel dafür an der alten Stelle gewesen wären ...

Er blieb stehen und sah sich um. Mitten in der Stadt war er schon, aber auch hier sah es nicht so aus, wie er geglaubt hatte. Die Häuser wirkten düster und trostlos; fast überall verdunkelte Fenster. Die großen Schaufenster lagen tot und schwarz da. Keine Menschen. Nur hier und da ein einsamer Passant, der vornübergebeugt mit hochgeschlagenem Mantelkragen dahineilte. Noch nie hatte er die Stadt so dunkel gesehen, und noch nie hatten die Laternen so trüb und verlassen geleuchtet. Der Schein oben am Himmel kam wohl bloß von diesen armseligen Straßenlaternen – das war es, was auf weite Entfernung so festlich aussah.

Eine ganze Weile mußte er an den Häuserwänden entlang wandern, ehe er in einem der Fenster einen Weihnachtsbaum erblickte, der seine glitzernde Spitze zeigte. Da begann er auch die Kälte plötzlich zu spüren. Wohin sollte er nun gehen?

Er ging und ging. Immerzu schien ihm der Wind ins Gesicht zu blasen, um welche Ecke er auch biegen mochte. Und der Wind wurde heftiger und wurde zum Schneegestöber. Jetzt merkte er, daß er vor seinem Geschäft stand. Schwarz und hohläugig starrten ihm die Schaufensterlöcher entgegen. Was wollte er hier – alles war ja geschlossen?

An der nächsten Straßenecke saß halb eingeschneit auf seinem Bock ein Droschkenkutscher und schlief. Der magere Klepper stand mit gespreizten Vorderbeinen wie versteinert da, und sein Maul hing fast bis in den Schnee herab. Jetzt zauste der Wind in dem Pferdeschwanz, und der Gaul rührte ein wenig ein Hinterbein.

Onni rüttelte den Kutscher zaghaft am Arm. »Darf ich wohl ein Weilchen unter das Schlittenfell kriechen? Wenn jemand kommt, der fahren will, gehe ich gleich. Zwei Mark kann ich bezahlen.«

Der Kutscher griff mit verschlafener Bewegung nach der Peitsche. »Scher dich zum Teufel, Rotzbengel«, murmelte er.

Onni bog wieder um eine Straßenecke. Ein Windstoß drückte ihn gegen die Hauswand und wirbelte ihm Schnee unter das Halstuch. Er schauerte zusammen. Hier half nichts anderes, man mußte irgendwo hineinkommen. Er ging die Straße entlang und rüttelte an den Türklinken. Endlich, etwa in der Mitte der Straße, gab eine nach. Er stand in einem Treppenflur.

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Ohne sich zu besinnen, drückte er auf den Lichtknopf und stieg die vier Treppen hinauf. Je höher, desto besser – desto mehr Aussicht, endlich Frieden zu haben. Das war sein einziger Gedanke. Aber oben gab es noch einen fünften Stock, mit einer schweren Eisentür, die zum Boden führte. Hier war er geborgen, hier würde niemand hinkommen. Er setzte sich, mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt, auf den Steinboden. Gleichzeitig erlosch im Treppenhaus das Licht mit einem hörbaren Knacken unten im elektrischen Automaten. Nun war alles dunkel und still. Nur die Eisenplatte hinter seinem Rücken gab einen dumpfen Laut, wenn er die Schultern dagegen lehnte.

So ging es mit diesem Weihnachtsfest ...

Er kramte aus seiner Hosentasche eine Streichholzschachtel hervor und begann das Pistolenspiel. Irgendwas mußte man ja tun. Ein Streichholz nach dem anderen stellte er mit dem Kopf auf die Reibfläche, drückte mit dem linken Zeigefinger auf das andere Ende und schnippte es dann mit der rechten Hand weg. Streichholz auf Streichholz flog in zischendem Bogen durch die Luft, fiel auf dem Steinboden nieder, zuckte ein paarmal mit bläulichem Flämmchen auf und verlosch. Wenn es noch glühte, spuckte er zielgeübt auf den roten Punkt im Dunkeln. Es war keine leichte Sache, genau zu treffen. Aber bald war die Streichholzschachtel leer.

Nun wurden Laute im Treppenhaus hörbar, und je länger er lauschte, um so deutlicher wurden sie. Aus einer der unteren Wohnungen drang wildes Tosen, ein Lärm aus Gejohle, Gelächter, klingendem und zerklirrendem Glas, ein Durcheinander von betrunkenen Herrenstimmen, die alle gleichzeitig schrien. Einen Augenblick kamen Onni die Worte des Hetzapostels vom Luderleben des Herrschaftspacks in den feinen Wohnungen, von Punsch und gefüllten Vorratskammern wieder in den Sinn ... Sollte er am Ende doch recht haben?

Jetzt wurde lärmend und ungestüm die Flurtür aufgerissen, und die ganze angetrunkene Gesellschaft tobte die Treppen hinunter. Die Haustür fiel hinter ihnen ins Schloß, und wieder war es eine Weile still. Dann klang im Stockwerk unter ihm ein Klavier auf, und einige Kinderstimmen fielen in die Melodie mit ein. Ein stilles, getragenes Lied war es, fast wie ein Psalm.

Er tastete sich halbwegs bis zur Wohnung hinunter, aus der der Gesang kam, beugte sich über das Geländer und horchte. Es waren nur Kinderstimmen; sie klangen so froh, aber doch lag etwas Zitterndes und Ernsthaftes darin:

»Stille Nacht, heilige Nacht!
Alles schläft, einsam wacht
Nur das traute, hochheilige Paar.
Holder Knabe im lockigen Haar,
Schlaf in himmlischer Ruh ...
Schlaf in himmlischer Ruh!«

Er schlich sich wieder hinauf und setzte sich an die Eisentür, die einen leisen dumpfen Laut gab. Nach einer langen Weile merkte er, daß ihm die Tränen herabrannen.

Als aber die Kinder unten den Björneborger Marsch sangen, war er schon eingeschlafen.

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