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15

Die Schritte der Träger und das Knarren der Bahre hatten sich fern im Schnee verloren; kein Schuß fiel mehr, alles war still. Nur der verschüttete Wein tropfte langsam und in gleichmäßigen Abständen von der Tischkante nieder: ti–ta, ti–ta. Zwei verschiedene Laute, der eine hell, der andere dumpf.

Onni Kokko stand und horchte auf die Tropfen, die ins Dunkel fielen. »Bei jedem solchem Tropfen«, dachte er, »stirbt einer da draußen in der Nacht. Ich kann nichts sehen, weil es so dunkel ist, ich weiß aber, wie es zugeht. Der Tropfen rinnt zur Kante und hängt da eine Weile. Dann wird er immer voller und schwerer, bis er den Halt verliert und fällt. Wenn er fertig ist, fällt er ... Ich möchte wissen, ob alle Menschen, die fallen, auch so fertig sein müssen? Der Kapitän war es. Die anderen aber – ja, wer weiß es, da niemand sie gefragt hat? Und wenn man nun genau fühlt, daß man selbst zu den Fertigen gehört – muß man dann unbedingt auch fallen?«

Er trat ans Fenster und spann seinen Gedanken weiter. »Hier stehe nun ich, Onni Kokko, und fühle, daß ich so fertig bin, wie ein Mensch es nur werden kann. Der Kapitän sagte das gleiche und kriegte seine Kugel. Bekomme ich meine auch, wenn ich ein Weilchen warte?«

Er reckte die Brust gegen das Fenster und die Nacht, die dahinter stand, schloß die Augen und lauschte. Aber nichts geschah. Die Tropfen fielen langsam und eintönig wie zuvor vom Tisch, und aus dem runden Schußloch in der Scheibe strich ihm ein leiser Luftzug entgegen. Das war alles.

Jetzt hörte man ein Trampeln draußen auf dem schneegefrorenen Boden. Einige Mann marschierten zur Ablösung der Wache nah an der Hausecke vorbei. Nur eine glimmende Zigarette wurde sichtbar, die zwischen den Bäumen dahinzog und mit den stampfenden Schritten verschwand. Aber es schien, als hätten die Männer den Wald aufgeweckt. Hinter ihnen begann es zu sausen und zu rauschen, und aus dem Loch in der Scheibe kam ein Pfeifton, der mit den Windstößen stieg und fiel.

Onni schauerte zusammen und trat ins Zimmer zurück. Die dunkelste Zeit der Nacht mußte vorüber sein, denn die Flaschen auf dem Tisch begannen schon ihre schwarzen Hälse aufzurecken. Auf dem leeren Stuhl daneben hatte der Kapitän gesessen, der nun tot in irgendeinem Keller lag. So hatte er die Ellbogen auf den Tisch gestützt, während er sprach; und traurig hatte er ausgesehen. Onni glaubte ihn noch immer da sitzen zu sehen, obschon sein großer Körper in graue Dämmerung zerflossen war ... Und er sagte zu ihm: du warst wohl ein guter Mensch, aber du hast Onkel Isak getötet.

Das eben war so unbegreiflich: der Kapitän hatte Onkel Isak ermordet, und doch war er ein guter Mensch. Warum hatte er es dann getan?

Durch Onnis Kopf zog eine Reihe unklarer Gedanken über Krieg und Schicksal, und alle mündeten in seinem Gewissen und erfüllten es mit bohrendem Schmerz. – Wenn der Kapitän doch ein guter Mensch war, und ich hätte mit ihm gesprochen, bevor das geschah ... wenn ich mit ihm geredet hätte ...

Eine Stimme in ihm rief und trieb ihn in der Stube herum: »Zu spät!« Er stolperte in die Kammer und warf sich aufs Stroh. Eine Betäubung überkam ihn, wie alle, die keinen Gedanken mehr zu fassen vermögen.

Die Treppe knarrte unter Tritten, die Tür wurde geöffnet. Es war der Leutnant, der von den Posten zurückkehrte. Er trat ein, tastete sich zum Herd und hielt die Hände über die Asche, die noch einen Hauch von Wärme ausstrahlte; vielleicht war das auch nur Einbildung. Seine Augen waren auf das Fenster gerichtet, wo der verlassene Tisch in der ersten Morgendämmerung immer deutlicher das Bild der Verwüstung zeigte. Tropfen fielen nicht mehr herab. Drinnen in der Kammer aber rührte sich etwas, und es raschelte im Stroh, als ob ein Schlafender sich umwende.

»Wer ist da?« fragte der Leutnant.

Keine Antwort. Er trat an die Schwelle und rief nochmals in die dunkle Kammer: »Wer ist da?«

Es raschelte stärker in den Halmen; eine kleine dunkle Gestalt erhob sich und kam auf die Tür zu. »Ich bin es bloß«, sagte eine Stimme, die kaum einem menschlichen Laut glich.

Aber der Leutnant erkannte sie wieder. »Du bist es! Warum liegst du hier mutterseelenallein?«

.

Onni antwortete nicht. Er griff mit beiden Händen nach dem Türpfosten und stand einen Augenblick reglos. Dann brach er in ein Schluchzen aus, das seinen ganzen Körper erschütterte; und mit jedem Aufschluchzen sank er tiefer am Türpfosten nieder, bis er auf der Schwelle dem Leutnant zu Füßen lag. Der nahm ihn wie ein Kind auf seine Arme, trug ihn in die Stube und setzte sich mit ihm auf die Ofenbank. Der Junge weinte so heftig in seinen Rockärmel hinein, daß er es bis auf die Haut feucht werden fühlte. Eine Zeitlang saß er ganz still so und ließ das Schwerste vorübergehen, dann sagte er: »Du wirst schon wieder der ganze Kerl werden, der du warst, Kokko-Junge. Aber nun erzähl mir mal, was es denn ist.«

Und Onni beichtete alles. Stoßweise und verzweifelt brachte er es heraus, doch schließlich wurde aus all den Bruchstücken ein Ganzes. Er erzählte von daheim und von seinem Vater, den der Russe mit den Tatarenaugen umgebracht hatte, und von dem Haß, den er in sich trug, bis es ihn in den Krieg trieb. Er bekannte seine Rachegelüste und seine heimliche Rechnung; auch seine Suche in den großen Wäldern verschwieg er nicht. – »Sehen Sie, das war auch der Grund, weshalb ich damals von der Kompanie weglief«, sagte er. Zum Schluß kam Onkel Isaks Tod, und da fiel es ihm wieder schwer, zu sprechen. »Und nun muß ich Ihnen sagen, Herr Leutnant, daß ich seit dem Tage nichts mehr verstehe und überhaupt nicht mehr weiß, was recht und was unrecht ist. Ich weiß auch nicht, ob es recht war, daß ich das alles meines Vaters wegen tat ... und nun kann Herr Leutnant wohl verstehen, daß es gar nicht gut mit mir steht; gar nicht.«

 

Wenn Onni sich an die Hoffnung auf einen Wundertäter geklammert hatte, der das Unheilbare heilen sollte, so wurde er nicht enttäuscht. Der Leutnant opferte in dieser Nacht seinen kurzen Schlaf, um einen weinenden Jungen auf seinen Knien zu betreuen. Eigentlich half er ja auch einem von Seinesgleichen. Selbst war er ein armer junger Buchdrucker gewesen, und zum Volkshelden seiner Heimatgegend hatte ihn lediglich die Stärke seines Herzens erhoben.

»Kleiner Kokko«, sagte er, »ich versteh ja gut, daß du es schwerer als die meisten anderen gehabt hast. In diesem Krieg geschehen furchtbare Dinge, und ich will dich auch gar nicht bitten, deinen Onkel Isak zu vergessen. Bitten will ich dich nur, daß du wieder fest und mannhaft werden sollst, Junge. Und wenn wir beide uns gegenseitig helfen, wirst du schon sehen, daß es gelingt.«

»Ich habe keine Lust weiter zu kämpfen«, stieß Onni hervor.

»Du sollst es auch nicht auf die gleiche Art tun, wie bisher. Deine Rechnungen und all das kannst du ruhig beiseite lassen. Nicht für deine Rechnung, sondern für das Vaterland sollst du dich schlagen. Denn sieh mal, durch all dies Elend hier marschieren wir doch mit einer mächtigen Idee vorwärts. Vaterlandsbefreiung! heißt sie. Und was, meinst du, bedeuten unsere Leiden und alles Leben, das nun geopfert wird, im Vergleich zu dieser Sache? Das ist ein gewaltiges Werk, mein Junge. Ein Werk, an dem du helfen sollst.«

Er schwieg eine Weile und blickte nachdenklich zum Fenster, das noch kein Licht in den Raum zu senden vermochte. »Warst du einmal bei Nacht draußen auf dem Meer, und hast da ein Feuer gesehen?« fragte er dann.

»Nein«, antwortete Onni etwas verwundert, »ich bin noch nie nachts auf einem Dampfer gefahren. Ich weiß aber, daß es Leuchtfeuer gibt, die den Schiffen den Weg weisen, und auch die russischen Scheinwerfer habe ich gesehen.«

»Nun gut, dann weißt du auch, wie stark sie leuchten. Solch ein Licht braucht man, wenn man draußen von Brandung und Klippen umgeben ist, die man nicht sehen kann. Dann kennt man den Kurs und braucht sich um nichts anderes als um dieses Licht zu kümmern, das man ansteuert; um nichts anderes. Dir geht es jetzt gewiß so wie einem Steuermann auf solcher Bark, der draußen auf dem dunkeln Meer das Licht nicht findet, nach dem er sucht. Aber ich sage dir, dies Licht ist da. Finnland soll frei werden! – Dies Ziel leuchtet für uns, mein Junge. Und damit haben wir alles, was wir brauchen, und unser Kurs ist klar.«

.

Wieder machte der Leutnant eine Pause und lauschte. Onni weinte immer noch mit kleinen Unterbrechungen, aber sein Schluchzen klang nun freier und nicht mehr so verzweifelt. Bald würde es in jenes Weinen übergehen, das wie Regen auf die Saat fällt.

»Man soll nicht so sehr hassen«, fuhr er fort. »Weder Russen noch andere Menschen, man soll statt dessen sein Vaterland mehr lieben. Bist du mal im Sommer auf dem Lande draußen zwischen Wäldern und Seen gewesen?«

»Ja, das war ich; als ich klein war, so ungefähr mit acht Jahren.«

»Und was triebst du in diesem Sommer?«

»Ich schnitt mir manchmal Pfeifen zurecht. So aus Weidenästen.«

»Nun, da will ich dir sagen: nicht einmal diese armseligen Holzpfeifen gehörten dir richtig. Die Äste, die du abschnittst, wuchsen auf einem Boden, der uns von den Russen geraubt war. Nichts in jener Zeit gehörte uns als Eigentum. Nicht der Boden unter unseren Füßen, nicht die Seen, auf denen wir ruderten; weder Bäume noch Acker ringsum, weder die Menschen, mit denen wir sprachen, noch das Brot, das wir aßen. Nicht einmal der Sonnenschein, wenn er strahlte. Denn das alles zusammen heißt Vaterland, und dieses Vaterland gehörte uns nicht. Jetzt aber sind wir dabei, es uns zurück zu erkämpfen!«

»Aber«, wendete Onni nachdenklich ein, »wenn das alles wieder unser Eigentum wird, so kann ich doch nicht recht glauben, daß es dann auch mein ist. Ich entsinne mich nämlich, daß ich einmal im Walde mit der Axt eine Birke fällte, da kam ein dicker Herr und schrie mich an, daß der Baum ihm gehöre, und hetzte den Hund auf mich. Darum kann ich nicht glauben, daß es später anders sein wird. Oder was meinen Sie, Herr Leutnant?«

»Das weiß ich nun nicht genau. Ich weiß nur, daß in einem befreiten Finnland wieder glückliche Menschen wohnen werden, und glückliche Menschen sind gut. Die brauchen einander nicht so zu peinigen, wie wir es jetzt tun. Ob jemand da viel oder wenig hat, bedeutet wenig, weil das Vaterland uns allen gehört. Und wenn du, nachdem all das überstanden ist, später durchs Land ziehst und irgendwo etwas Schönes erblickst, dann darfst du dich daran freuen und denken: das war auch mein Werk; ich war dabei. Wenn du aber nicht mehr am Leben bist, wird man dich trotzdem nicht vergessen. Die Menschen, die sich unser erinnern, werden sagen: Finnland hatte Heldensöhne, und einer davon war Onni Kokko. Und noch nach hundert Jahren, wenn eines schönen Morgens ein Bauer auf seiner Haustreppe steht und sein Blick im Sonnenlicht weithin über die Äcker geht, dann wird er sich jener alten Erzählung erinnern, wie zu Großvaters Zeiten die Saaten nicht so grünten, weil der Russe im Land herrschte. Dann wird er im Gedenken an Finnlands Söhne den Hut abnehmen ... Und obschon er unsere Namen nicht mehr kennt, bist auch du unter denen, mein Junge, denen er dankt.«

Der Leutnant verstummte. Onni Kokko war eingeschlafen; halb auf seinem Knie, halb auf der Bank. Bleich fiel das erste Tageslicht ins Zimmer und beleuchtete das magere, schmutzige Jungensantlitz, auf dem die Tränen weiße Streifen abgezeichnet hatten. Der Leutnant saß da und sah auf die verhärmten Züge nieder, und ein schöner Ausdruck trat in seine Augen.

Rom erbaute man nicht an einem Tag, das wußte er, und auch die Seele eines Vierzehnjährigen brauchte ihre Zeit. Aber über dem gequälten rundlichen Knabenkopf lag doch ein Schein von neuer Zuversicht. Das Vaterland würde einen verlorenen Sohn wiederfinden.


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