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Wie neugebacken und in etwas fragwürdiger Uniform, aber dafür breitbeinig und äußerst forsch im Bewußtsein, ein Knöchel in des Vaterlandes harter Faust zu sein, stand Fähnrich Brobeck auf der Treppe des Stabsquartiers in Vasa. Er rauchte und mühte sich mit einem Gedanken ab. Soeben hatte er die Unterbringung der letzten russischen Gefangenen geregelt, aber diese Frage hier war inmitten des höllischen Radaus der Diensträume nicht zu lösen. Ein verzwickter Auftrag war das: wie sollte er bloß die Mitteilung an die Angehörigen abfassen, deren Söhne und Väter in Uleaborg gefallen waren. Natürlich wußten sie es alle längst, aber nun galt es eben von Amts wegen die richtigen Worte schriftlicher Bestätigung zu finden.
Wie er noch überlegte, dröhnten Hufschläge vom Tor her und auf den Hofplatz sprengte schnaubend ein großer brauner Gaul. Auf seinem Rücken thronte ein kleiner Junge, dessen hervorstechendste Eigenschaft ein Paar gewaltige gelbe Schaftstiefel waren, die ihm bis zum Bauch reichten.
»He, du Knirps«, rief Fähnrich Brobeck, »wohin des Wegs?«
Der Kleine hielt das Pferd an und starrte mit runden Augen auf ihn herab, als ob er meinte: Ich komme hierher, das siehst du doch wohl.
»Was bist du denn für einer?«
»Ich bin Onni Kokko.«
Das klang ungefähr so, als ob der Zwerg da oben nun der Ansicht sei, die Sache sei klar. Fähnrich Brobeck jedoch wurde ärgerlich. »Onni Kokko! – Ja so, du meinst wohl, daß ich mich umhören soll, was das für ein Herr ist! Onni Kokko – glaubst du, davon werd ich klüger, du Hosenkacker! Bist du einer von den Schwedischsprechenden oder von den Finnischen?«
»Ich spreche beides gleich gut.«
»Woher kommst du denn?«
»Ich komme mit dem Zug von Uleaborg, genau wie alle anderen.«
»Ach so, du warst dort auch dabei?«
»Natürlich war ich dabei.«
»Aber woher hast du die Schaftstiefel, die dir bis unters Kinn reichen? Geklaut, was?«
»Die hab' ich von der Stadt Tornio bekommen«, erklärte der Kleine und richtete sich selbstbewußt im Sattel hoch.
»Was, zum Teufel, bist du auch mit bis Tornio gewesen?«
»Gewiß.«
»Aber das Pferd, auf dem du da thronst, verdammter Rotzjunge, wo hast du das Pferd gestohlen?«
Jetzt schien der Knirps sich ernstlich beleidigt zu fühlen. Seine Stimme war voller Verachtung: »Gestohlen! – Ich habe nichts gestohlen. Das Pferd gehört mir. Und die Büchse auch.«
»Was sagst du, dir?«
»Jawohl, denn beide habe ich den Roten abgenommen, und mit beiden bin ich von der anderen Seite herüber gekommen. Mein Pferd hatte ich hier in der Stadt in einem Stall eingestellt, während ich den Sturm auf Uleaborg und Tornio mitmachte.«
Fähnrich Brobeck lachte. Das war bei Gott ein Aufschneider. »Nun aber Schluß, du Knirps, alle Kriegsbeute gehört dem Staat. Führ das Pferd in den Stall, da kann es einstweilen stehen, und du selbst meldest dich im Büro. Deine Räubergeschichten kannst du einem anderen aufbinden. Ich habe keine Zeit dafür. Marsch!«
Onni Kokko gehorchte widerstrebend. Langsam kletterte er aus dem Sattel und steuerte in seinen gewaltigen Schaftstiefeln auf die Stalltür zu. Fähnrich Brobeck drehte sich auf dem Absatz um und verschwand wieder im Lärm und Telefongebimmel. Gewiß mußten jetzt auch die Toten von Uleaborg kommen. Er bemerkte infolgedessen nicht, wie soeben ein Trupp Freiwilliger auf dem Hof einmarschierte. Kaum entdeckten diese die Schaftstiefel drüben am Stall, als auch schon einer von ihnen rief: »Seht dort, da ist ja der kleine Satanskerl! Der überall mit Leutnant Peltokangas im dichtesten Kugelregen stand! He, kleiner Kokko, Hurra!«
Später in der Nacht saß Fähnrich Brobeck als wachthabender Offizier am Telefon und gähnte. Nach dem Hetztempo der ersten Tage war nun plötzlich eine Pause in der Arbeit des örtlichen Stabes eingetreten. Bloß noch langweiliger Etappenkram! Der Schwerpunkt hatte sich von der Stadt zur Front hin verschoben, und der Krieg wurde vom Oberstab geführt. Nach den unerhörten Anspannungen begannen die Nerven zu erschlaffen.
Dem Fähnrich gegenüber, an der anderen Seite des Tisches, saß ein Freiwilliger aus den Kämpfen im Norden. Ein hünenhafter Schutzkorpsführer. Einer von den vielen, die überall mit dabei waren und zu allem taugten, in dieser gewaltigen ersten Kraftprobe zwischen mutigem Bauernvolk und verloddertem Militär. »Wenn Finnland jetzt frei wird«, sagte der, »dann sind es in erster Linie die halbwüchsigen Burschen, die die Sache geschmissen haben. Das ist meine Meinung.«
»So, glaubst du?«
»Ja, zum Beispiel dieser Onni Kokko. Wie ein Blutegel war der Bengel. Den hättest du mal sehen sollen da oben vor Uleaborg. Wahrscheinlich hat er geglaubt, daß ihn die Kugeln nicht treffen könnten, weil er so klein ist. Während des Angriffs rannte er dicht hinter Peltokangas her und tobte und schrie wie ein Indianer. In einem Gehöft soll er dabei in eine Sackgasse geraten sein, aber er wand sich doch wieder raus. Und nicht eine Schramme hat er abgekriegt.«
»Onni Kokko, sagst du? Ich glaube, so ähnlich hieß der kleine Teufel, der heute hier auf den Hof geritten kam. Einen großen Gaul hatte er und ein paar schietgelbe Schaftstiefel, und frech wie Rotz war er außerdem.«
»Ja, dann war er es sicher.«
»Was ist das eigentlich für ein Früchtchen? Er behauptete, er komme mit seinem eigenen Pferd von der roten Seite herüber.«
»Hast du von der Geschichte nicht gehört? Gerade als der Zug nach Uleaborg abgehen soll, klettert da so'n kleiner Bengel rauf, der unbedingt mit will, um auch zu kämpfen. Eine weiße Armbinde trug er, ein Gewehr hatte er überm Rücken baumeln, und schießen konnte er auch. Im übrigen sah er aus, als hätte man ihn gerade aus einem Haufen Lumpen rausgeklaubt. Niemand weiß so richtig, wieso und woher er plötzlich hier auf der weißen Seite aufgetaucht ist. Er soll mit einer roten Truppe von Helsingfors bis irgendwo an die Front gekommen sein, dort hat er sich ein Pferd und allerlei Kriegsgerät gegriffen und ist dann einfach drauflos geritten, was das Zeug hielt, bis hier herauf zu uns. Auf eigene Faust, den ganzen langen Weg. Außerdem behauptet er, daß er anderthalb Russen umgelegt habe, als er sich davonmachte. Der Halbe war bloß ein gewöhnlicher einheimischer Roter, erklärte er. Er rechnet nämlich alles in Russen um ...«
Onni Kokko selbst lag unterdessen zwischen den schlafenden Bauernfreiwilligen im großen Festsaal des Rathauses, dessen glatter Parkettfußboden in ein Meer von raschelndem Stroh verwandelt war, und in dessen Wogen sich die grauen Männer gebettet hatten. Dicht bei dicht lagen sie da in regellosen Reihen, und aus zerwühlten Garbenbündeln sahen eisenbeschlagene Stiefel und breite Schultern hervor. Geschnarch und Gestöhn von schweren Träumen erfüllte den Raum, von dessen Wänden steif die goldenen französischen Lilien auf diese unbegreifliche Verwüstung herabschauten. Von oben herab hingen halberleuchtete und staubblinde Kristallkronen, und müde Kriegeraugen suchten den Schlaf zwischen Malereien und Rankengebilden an der Decke.
Ooh–haah, ooh–haah ... klang es in schwerfälligem Rhythmus von den Atemzügen der schlafenden Männer. Aber in diesem Marsch gab es keinen gleichen Takt; der fiel bald in Gruppen auseinander, die um die Führung stritten, einige Augenblicke verhielten, einander wieder überholten und bekämpften, bis alles in ein einziges Durcheinander zusammenfloß.
Onni lag im Stroh auf dem Rücken und dachte nach. Warum soll ich eigentlich hier herumliegen, während doch der Leutnant sicher vorn an der Front ist und irgendwo kämpft? Außerdem hat er doch gesagt, daß ich ein ganzer Kerl bin und in jedem Kampf, ganz gleich wo, meinen Mann stehe. Schließlich muß er es ja wissen, wo er in Deutschland mit Luftschiffen und sechzigzölligen Kanonen Krieg geführt hat und alles das aus dem Effeff versteht. Aber »Befehl ist Befehl« hat er gesagt, da muß man gehorchen. Und nun ist eben befohlen, daß ich hierbleiben und mindestens eine Woche exerzieren soll. »Damit der Junge ein bißchen Zeit hat, zu wachsen«, sagten die Herren, die mich in die Stammrolle einschrieben. Zum Teufel! ... und dabei habe ich doch drei und einen halben Russen ins Jenseits befördert. Allerdings, mit dem einen ist es etwas unsicher – das kann auch ne andere Kugel gewesen sein, die kamen ja aus allen Ecken. Aber zweieinhalb sind es mindestens ...
Er schloß die Augen. Uleaborg ... wieder lag er platt auf dem Bauch dicht hinter dem Leutnant und preßte sich gegen das kalte Straßenpflaster, während es durch die Luft pfiff und zischte und die Einschläge an den Mauern aufspritzten. Mit einer größeren Schar waren sie in die Straße vorgedrungen, aber da brach gerade vorn von der Straßenecke her das Wetter über sie los. Wie die Heringe lagen sie nun beieinander, dicht an den Boden gedrückt, und konnten weder vorwärts noch rückwärts. Ein bleierner Hagelschlag fegte über sie hin, und daß nicht alle Schüsse zu hoch gingen, hörte man deutlich genug an den Aufschreien hinten in der Schar. »Vorwärts! Marsch Marsch!« schrie der Leutnant. Aber keiner folgte dem Kommando. Sollte man geradeswegs in die Hölle rennen? Und da geschah es: der Leutnant sprang mutterseelenallein auf und stürmte im Zickzack quer über die Straße vor. Er hob die Fäuste, es pfiff um ihn herum, und Zeugfetzen flogen aus seinem Uniformrock. – »Seht ihr nicht!« brüllte er, »seht ihr nicht, Jungens! Die tun uns nichts – Vorwärts! Hurra ...!« Da sprangen sie alle auf. Unter Berserkergebrüll stürmte die Schar vor und stieß durch. Außer denen, die liegen blieben. Aber die konnten nicht mehr springen und nicht mehr Hurra rufen.
Vorwärts ging es. An der Ecke überrannten sie zwei Maschinengewehre, die auf der Flucht waren. Und dabei geschah es, daß er einem schlaksigen Russen, der davonhopste wie ein Kaninchen, das Bajonett in den Rücken rannte. Scheußlich war das ... als der Körper so vornüber sackte, und das Gewehr wie ein Mast aus dem Rücken ragte; scheußlich, die blutige Klinge wieder herauszuziehen. Aber so ging's eben, wenn man sich mit Waldemar Kokkos Sohn einließ.
Weiter stürmten sie, der Leutnant an der Spitze. Aus brennenden Gehöften schlug ihnen Rauch entgegen und brachte sie mitten im Angriff zum Husten. Russen und Rote flüchteten in kopflosem Durcheinander die Straßen entlang. Mitunter hielten sie wieder, machten kehrt und schossen; dann tauchten sie in den Toreingängen unter. Trotzdem erwischte die lange Pistole des Leutnants eine ganze Anzahl von ihnen.
Weiter ging der Angriff. Onni setzte einem baumlangen Russen in flatterndem Mantel nach; jetzt verschwand der Russe in einem Tor, und er folgte ihm auf den Fersen. Der Russe hatte bereits die gegenüberliegende Hofseite erreicht, und sein Mantel flatterte auf einen neuen Toreingang zu. Onni stürzte wie besessen hinter ihm her. Plötzlich merkte er, daß er weit aus der Stadt herausgekommen war und auf einer offenen Landstraße lief, die zu beiden Seiten mit weißen Bäumen bestanden war. Was zum Henker – er hatte ja die Richtung auf den Kreuzweg eingeschlagen!
»Jetzt träume ich«, sagte er laut zu sich selbst.
Der Russe mit seinem wehenden Mantel flüchtete weiter. Onni rannte mit eingelegtem Bajonett hinterher, aber der Abstand verringerte sich nicht. Er schien überhaupt nicht vom Fleck zu kommen, so sehr er sich auch anstrengte. So geht es nicht, dachte er: ich muß schießen. Er blieb stehen und kniete hin, um ruhiger zu visieren. Da blieb auch der Russe stehen und drehte sich um. Aber das war überhaupt kein Russe, sondern es war Kalle Mäkinen, der ihm jetzt die Zunge herausstreckte und nach ihm spuckte. Dann zündete er sich eine Zigarette an und steckte die Hände gemächlich in die Hosentaschen.
»Siehst du nicht, daß ich es bin!« brüllte Onni. »Und ich knall dich nieder, ich schieße! Denk an den Scheunenhügel und an das Bajonett ...«
Als der Schuß knallte, sah er, daß er ins Leere geschossen hatte. Stattdessen war wieder der Russe da, und der verschwand in dem roten Ziegelhaus, wo sie früher gewohnt hatten, gerade in ihrem Flur. Er raste hinterher. Von oben reckte der Russe seinen Kopf über das Geländer und nickte ihm zu. Da sah er, daß es der mit den Tatarenaugen war, der Mörder.
»Ja so, du bist das!« schrie er hinauf. »Die Treppe hier bist du schon mal heruntergeflogen, und nun passiert dir's gleich noch mal, aber als Leiche. Du glaubst wohl, ich weiß das mit der Dynamitpatrone nicht ...«
Als er jedoch oben angelangt war, merkte er, daß es gar nicht ihr Treppenflur war. Das war ja die Treppe in der Stadt, auf der er am Heiligen Abend gesessen hatte. Die schwere Eisentür versperrte ihm den Weg. »Aha, der Russe ist bestimmt in den Schornstein gekrochen, um sich zu verstecken. Dem werd ich schon auf die Spur kommen ...« Er drückte die Bajonettspitze in eine Spalte unter der Blechplatte und hob an. Aber das Bajonett brach ab, und nur die blutige Spitze blieb wie ein Keil in der Tür stecken. Nun rannte er den Kolben dagegen, daß es durchs ganze Haus dröhnte. Es nützte nichts, die Tür hielt.
Im gleichen Augenblick hörte er den Russen dahinter. Jetzt war es Annas Bräutigam, das hörte man an seinem groben, breiten Lachen. »Adjee«, rief er, »adjee weiße Deibel! Kommunismus, urrah!« Man muß durch die Tür schießen, dachte Onni. Er zielte mitten drauf und drückte ab. Es gab einen gellenden Krach.
… Kerzengerade fuhr er auf seinem Strohlager hoch. Hatte er den Knall wirklich nur geträumt, der gellte ihm ja jetzt noch in den Ohren? Da merkte er im Halbdunkel, daß viele von den schlafenden Männern ebenso hochgefahren waren und sich verwirrt umschauten. Ein Gemurmel erhob sich im Saal: was war das nun schon wieder?
Für einen Augenblick öffnete sich eine der großen Türen und man sah im Lichtstreifen auf dem Flur Kalkstaub wirbeln. – Nichts war los; nur ein ungeschickter Posten hatte wieder mal solange am Gewehrschloß herumgefingert, bis der Schuß in die Decke gegangen war. Die Männer fluchten und wühlten sich von neuem ins Stroh. Dann wurde es wieder still.
Onni konnte nicht einschlafen. Als sich nach einer Weile seine Augen ans Halbdunkel gewöhnt hatten, merkte er, daß sein Nachbar auch nicht schlief. Es war ein großer blonder und krausköpfiger Bursche, der ihn unverwandt anstarrte. Als Onni seinem Blick begegnete, sagte er: »Potz Teufel, bist du jung!«
»Wie alt bist du denn?« fragte Onni zurück.
»Ich komm jetzt ins Neunzehnte. Aber du kannst doch kaum mehr als zwölf sein?«
»Na, – älter bin ich nun doch. Wie heißt du?«
»Ich bin Österbacks Edvin von Jungsund. Du solltst aber jetzt lieber schlafen, wo du noch so ein Knirps bist.«
Onni wollte auffahren, aber er empfand, daß es nicht böse gemeint war; und so lag er eine Weile still und schwieg. Dann fragte er: »Edvin, schläfst du?«
»Ne, noch nicht.«
»Sag mir mal, Edvin, haben diese Russenbestien auch deinen Vater umgebracht ... ist dein Vater ebenso von ihnen ermordet worden ... und wieviel Stück von ihnen meinst du, muß man zur Vergeltung umbringen?«
»Haben die Russen deinen Vater umgebracht?«
»Ja.«
»Nun, vielleicht so an fünf Stück, das dürfte das Richtige sein.«
»Wenn aber dein Vater ein ganz besonders fabelhafter Mann war, findest du nicht, daß dann fünf reichlich wenig sind? Von diesem Satanspack!«
»Du sollst nicht so fluchen, wo du noch nicht mal erwachsen bist. Wenn dein Vater aber, wie du sagst, ein Mann von solcher prima Sorte war, dann magst du recht haben, daß fünf zu wenig sind. Ich meine, da wären zehn Stück in der Ordnung. Wenn du's man schaffst, wo du doch so klein bist. Und, siehst du, was mich betrifft, so mach ich's ihnen auch nicht billiger. Mir haben die Schweinehunde mein Mädel genommen ...«
Österbacks Edvin drehte sich auf die andere Seite und sagte weiter kein Wort mehr. Onni Kokko aber lag noch lange wach und wog Leben und Tod auf der Waage des Rechts, wie er es in sich fühlte. Bevor er einschlief, entschied er: Zehn müssen es werden, mindestens zehn!