Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XV.
Das jüngste Gericht in der Villa Seefried

1.

Der Mann auf dem Fensterbrett stieg herein und schloß das Fenster sorgsam wieder zu. Er war bedeutend kleiner und, wie es schien, jünger als sein Kamerad in der Vorzimmertür. Er winkte grüßend mit einem Revolver, wahrend er das Fenster zuriegelte.

»Man muß sich vor dem Zug in acht nehmen,« sagte er, »kühle Nächte, trotzdem es Sommer ist.«

Von den Anwesenden hatte einer sofort die Aufforderung des maskierten Mannes, die Hände zu heben, befolgt – das war der Adjunkt Schorn. Er saß mit erhobenen Händen da wie ein betender Patriarch und sah den maskierten Mann aus verwirrten Froschaugen an. Hoff-Jensen war der einzige, der sich zum Widerstand erhoben hatte; da kam ein Brüllen von der Vorzimmertür.

»Still, dicke Teixel! 'ände 'och! 'öre, was ik sage: Alle 'ände 'och! Ik zähle bis fünf, ik sieße mit Revolvér. Ernst! Eins – zwei …«

»Sie sehen, daß die Versicherung, die Sie aufgenommen haben, nicht unbegründet war,« sagte Hoff-Jensen lächelnd zu Quillander. »Aber sie ist zu spät gekommen. Na, zum Teufel, ich hebe ja die Hände hoch, was krakeelen Sie denn noch?«

Quillander starrte noch den Mann mit der Maske mit verständnislosen Punschaugen an.

»Drei – vier!« zählte dieser. »Geswind! Ik zähle bis fünf, ik sieße! Alle 'ände 'och!«

Quillanders dicke Arme hoben sich langsam wie die Schlagbäume bei einem Eisenbahnübergang. Plötzlich glomm ein Funken von Interesse in seinen Augen auf. Es sah aus, als sollte der Revolver des Maskierten zu Worte kommen. Fräulein Lundén machte keine Miene, die Order, die ihr geworden war, zu befolgen. Sie hatte sich sprungbereit erhoben.

»Fünf!« zählte der Mann in der Maske und biß die Zähne zusammen. »Ick sieße.«

Fräulein Lundéns Fuß war erhoben, um zu springen, und der Revolverhahn war erhoben, um zu fallen. Meinte der Mann in der Maske es ernst, dann fehlte noch eine halbe Sekunde zu einem Drama. Die halbe Sekunde ging vorbei, ohne daß das Drama sich ereignete. Der blaugekleidete Herr Wessén warf das »Svenska Dagbladet« fort und erreichte im letzten Augenblick seine Arbeitgeberin. Er packte ihre knochigen Handgelenke und preßte sie in die Höhe. Sie standen beide da und starrten einander in die Augen wie ein Paar in einem modernen Tanz. Der Effekt war seltsam, und nur der erhobene Revolver der schwarzen Maske rettete ihn davor, ins Komische umzuschlagen.

»Was unterstehen Sie sich?« keuchte sie.

»Seien Sie doch vernünftig, Fräulein! Sie haben zwei Revolver, und niemand außer Ihnen – außer uns denkt daran, Widerstand zu leisten!«

Fräulein Lundén warf einen vernichtenden Blick um sich.

»Das sehe ich. Denen ist es ganz recht. Nun, wenn man von fremdem Geld lebt, kann es ja auch egal sein, wenn ein paar Banditen kommen und …«

»'allo!« schrie der Mann in der schwarzen Maske seinem Kameraden am Fenster zu. »Sikere die alte Frau!«

»Die alte Frau!« Fräulein Lundén zwang Herrn Wessén zu ein paar unfreiwilligen Tanzschritten. »Infamer, elender …«

»Still! Sie sagen mehr, sie maken Spampenaden, ik sieße! 'allo! Sikere sie geswind!«

Der Spießgeselle kam mit kleinen wippenden Schritten heran, zog ein seidenes Taschentuch aus dem Sack und verbeugte sich vor Fräulein Lundén.

»Die Dame gestattet?«

Ohne eine Erlaubnis abzuwarten, schlang er einen eleganten, aber soliden Knoten um Fräulein Lundéns Handgelenke. Fräulein Lundén zitterte in Herrn Wesséns Umarmung wie eine Epileptikerin.

Der Helfershelfer steckte galant seinen linken Arm unter ihren unschädlich gemachten und sagte:

»Die Dame ist nervös. Bitte, einen Sessel, damit sich die Dame ein bißchen ausruhen kann. Mein Herr!«

Er verbeugte sich zeremoniös vor dem Blaugekleideten, löste Fräulein Lundén aus seinem Griff und führte sie mit unerschütterlicher Höflichkeit zu einem tiefen Korbsessel. Da sie keine Miene machte, Platz zu nehmen, gab er ihr einen Puff in die Rippen; sie fiel in den Sessel, und ehe sie sich noch besinnen konnte, war ihr ein grobes Segelgarn um den Leib gelegt und auf der Rückseite des Stuhles zugebunden.

»Das Aergste ist erledigt,« sagte Fräulein Lundéns Kavalier mit einer galanten, anerkennenden Verbeugung. Er hatte recht. Sein und seines Kameraden entschlossenes Auftreten schien Quillander, Schorn, Hoff-Jensen und Herrn Wessén gelähmt zu haben. Sie folgten seinen Bewegungen mit offenem Munde, ohne eine Miene zu verziehen. Fräulein Lundén hingegen erinnerte sich plötzlich, daß sie im Besitz noch einer Waffe war, sie atmete tief und stieß einen so durchdringenden Schrei aus, daß die Engel des jüngsten Gerichtes sie darum hätten beneiden können. Bevor zehn Sekunden um waren, war ihr Kavalier wieder bei ihr, mit einem neuen Seidentaschentuch, das er aus dem Rockärmel nahm; Fräulein Lundéns Zähne schnappten wie die einer Tigerin nach seinen Fingern, aber er war achtsam und binnen kurzem war Fräulein Lundén ihres letzten Kampfmittels beraubt.

»Endlich,« sagte ihr Kavalier mit einem Seufzer. »Darf ich nun die Herren bitten, die Arme ein bißchen höher zu halten? Danke. Und, pardon, wenn ich etwas zudringlich erscheinen sollte!«

Er trippelte durch das Zimmer, blieb stehen und schien nachzudenken, mit wem er anfangen sollte.

»Hören Sie mal,« sagte Hoff-Jensen langsam, »wissen Sie vielleicht zufällig, wer ich bin? Ich bin Direktor der Wachgesellschaft Vigilia. Leute wie Sie müssen wissen, was das heißt. Binnen achtundvierzig Stunden werde ich mein Geld zurück haben und …«

»Still, dicke Teixel, still! Keine Reden 'alten! Spreken, wenn wir uns ein anderes Mal treffen, nikt jetzt!« Der Revolver knackte unheilverkündend, Hoff-Jensen verstummte. Der Helfershelfer hatte seinen Entschluß gefaßt. Gleich dem Gastfreunde bei der Hochzeit zu Kana, begann er mit den schlechteren Marken und stattete einen Besuch bei Adjunkt Schorn ab. Adjunkt Schorn bebte unter seinen Fingern wie Espenlaub. Eine Uhr und ein Zigarrenetui mit Inschrift waren die einzige Beute für den Banditen; die Brieftasche des Adjunkten Schorn war unendlich leer. Der Verbrecher sah es mit Unwillen, und Direktor Hoff-Jensen, der seine Bewegungen verfolgt hatte, mit offenkundigem Mißtrauen. Der Verbrecher buchstabierte interessiert die Inschrift auf dem Etui durch:

»Sozialist!« rief er. »Das kannst du jemand anderm einreden! Haha, nein, ich bin Sozialist!«

Zur Bekräftigung seiner Behauptung ließ er die Besitztümer des Adjunkten Schorn in seine Tasche verschwinden. Wie der Räuber am Kreuze, konnte Adjunkt Quillander eine Bemerkung nicht unterdrücken. »Das hast du für dein Kokettieren mit den untern Klassen! Pfui Teufel!«

Adjunkt Schorn gebrach die Kraft zu einem Seufzer. Der Bandit musterte die Gesellschaft und erkor sich Direktor Hoff-Jensen zu seinem nächsten Opfer.

Eine dicke Brieftasche, mit Banknoten gespickt, verließ Hoff-Jensens Besitz und verschwand in der bereitwilligen Tasche des Banditen. Eine goldene Uhr und ein Zigarrenetui aus Silber gingen denselben Weg. Hoff-Jensen knirschte in ohnmächtiger Erbitterung mit den Zähnen.

»Sie wissen, wer ich bin, junger Freund,« knurrte er, »und Sie wissen, was ich Ihnen gesagt habe: in achtundvierzig Stunden werde ich meine Sachen wieder haben, ihr verdammten …«

Der Revolver ließ ihn verstummen. Nun kam Quillander an die Reihe. Es machte den Eindruck, als ob der Verbrecher an diese Aufgabe mit mehr Interesse herantrete, als an die vorhergehenden. Quillander wurde mit Sorgfalt durchsucht, Tasche für Tasche, aber seine insgesamt elf Taschen in Rock, Weste und Hosen enthielten nur ein Portefeuille und eine Silberuhr. Das war alles; der Verbrecher ging die elf Taschen einmal ums andre durch, ohne mehr zu finden. Hoff-Jensen beobachtete die Szene gespannt. Seine Augen zeigten ein Erstaunen, das dem des Verbrechers nichts nachgab. Beide hatten offenbar von einem Manne von Quillanders Aussehen mehr erwartet. Der Verbrecher überzählte den Inhalt der Brieftasche.

»Achthundertundzwanzig,« konstatierte er, »das ist nicht viel. Und ein Heft mit langen Blanketten. Das dürften Schecks sein. Auf welche Bank?«

Quillander antwortete nicht. Seine Augen schienen dem Banknotenpäckchen in die Tasche des Verbrechers hinab folgen zu wollen. Inzwischen gelang es zwei andern Augen, die Aufmerksamkeit des Verbrechers auf sich zu lenken, nämlich denen Fräuleins Lundéns. Mit allen mimischen Ausdrucksmitteln, über die Fräulein Lundén verfügte, deutete sie an, daß sie von dem Knebel befreit sein wollte. Als es schließlich den Anschein hatte, daß sie im entgegengesetzten Falle ersticken würde, lockerte ihn der Verbrecher.

»Wenn Sie schreien …« sagte er.

»Ich werde nicht schreien,« sagte Fräulein Lundén. »Ich will gar nicht schreien. Ich will mich nur bedanken. Danke, daß Sie diesem Lumpen dort das Geld abgenommen haben. Danke! Danke! Danke!«

Sie begann zu lachen, ein Lachen, um das Sara sie beneiden konnte. Der Verbrecher machte Miene, den Knebel wieder einzulegen. Sie hielt sofort inne.

»Ich bin nicht verrückt,« sagte sie. »Aber hundertmal eher gönne ich Ihnen das Geld als ihm.«

Der Verbrecher verbeugte sich befriedigt.

»Ja, Sie geben sich doch wenigstens für nichts andres aus als einen Dieb!« rief Fräulein Lundén. »Aber der dort, ein Beamter – haha – ein Beamter, lebt davon, harmlosen Leuten, wie Peter Ludwig, Geld zu entlocken.«

Quillander erwachte aus seiner Betäubung.

»Still!« sagte er befehlend. »Ich will nichts mehr hören. Ich habe Möbius kein Geld entlockt. Möbius hat aus eigenem freiem Willen unterschrieben, und er ist ja Spezialist für die Willensfreiheit.«

Der Verbrecher, der Quillander geplündert hatte, zuckte zusammen und sah durch die Maske von ihm zu Fräulein Lundén hinüber.

»Wer ist das, dem er Geld entlockt hat?« fragte er schließlich.

»Peter Ludwig Möbius,« sagte Fräulein Lundén, »mein leiblicher Neffe. Warum fragen Sie danach? Kennen Sie ihn?«

»Wie sollte ich ihn kennen?«

»Der dort,« – Fräulein Lundén schleuderte ein Wurfgeschoß gegen Quillander – »der dort hat Peter Ludwig nach Kopenhagen gelockt, um ihn Banditen und schlechten Frauenzimmern vorzustellen. Warum sollten Sie ihn nicht kennen?«

Quillander war in Gedanken dagesessen, den Blick auf Fräulein Lundéns Täschchen geheftet.

»Jetzt habe ich aber genug davon gehört,« rief er plötzlich. »Sie dort, der Sie mein Geld gestohlen haben, gedenken Sie nicht nachzusehen, was sie in dem Täschchen hat?«

Fräulein Lundén war gut eingeschnürt, und das war nötig. Denn fast hätte sie die Vertauungen gesprengt, mit denen sie an den Korbsessel gebunden war.

»Nein, das ist doch das Niedrigste, das Gemeinste! Dieser Lump bittet den Kerl, mein Täschchen zu nehmen! Er fordert ihn auf, mich zu bestehlen. Ja, nehmen Sie das Täschchen, aber lassen Sie mir die Wechsel, die darin liegen! Lassen Sie sie mir, dann wandert einer ins Gefängnis, wenn schon Sie nicht hinkommen. Warum will er, daß Sie das Täschchen nehmen, wenn nicht, weil der Wechsel falsch ist!«

»Still! Sweigen! Mund 'alten!« knatterte es wie Revolverschüsse von dem Manne an der Vorzimmertür. »Bring die alte Frau zum Sweigen! Sweigen, oder ik sieße! Mund 'alten, oder ik sieße!«

Sein Spießgeselle hatte das Täschchen von Fräulein Lundéns Arm genommen, indem er den Riemen durchschnitt, und durchsuchte es. Hundert Kronen in Papier war alles, was es außer den vier länglichen Papieren enthielt, die schon früher am Abend Gegenstand der Debatte gewesen waren. Der Verbrecher buchstabierte sie erstaunt durch und schien unentschlossen, was er damit anfangen sollte. Fräulein Lundén verfolgte seine Bewegungen mit brennenden Blicken. Von seinem Sessel aus tat Quillander das gleiche.

In diesem Augenblick hörte man Schritte im Vorzimmer. Ehe noch der maskierte Mann es verhindern konnte, öffnete sich die Tür. Ein junges Paar stand auf der Schwelle. Der Schrei einer Frau in Kindesnöten entrang sich Fräulein Lundén.

2.

»Peter Ludwig! Ich hab' es ja gewußt! Haha, Herr Quillander! Wo bist du denn um diese Zeit gewesen, Peter Ludwig? Und wen hast du denn da mit?«

Fräulein Lundén sprach ausnahmsweise vor einem Auditorium, das sie nicht unterbrach.

Wenn man den Speisesaal der Villa Seefried futuristisch abbilden wollte, hätte man die Blicke der verschiedenen Personen als Scheinwerferbündel zeichnen können. Der Strahlengürtel aus den Froschaugen des Adjunkten Schorn traf das junge Mädchen, das Möbius am Arm hielt. Sie war schlank, blauäugig und hatte eine Sportmütze über ihr braunes Haar gezogen. Eine Locke davon fiel über ihre Wange. Das war alles, was die Froschaugen des Adjunkten Schorn sahen.

Das Strahlenbündel aus den blauen Augen des jungen Mädchens traf den Banditen, der alle im Speisesaal geplündert hatte. Sie starrte ihn unverwandt an und er sie. Ihre Augen drückten Entsetzen und Erstaunen aus; was seine ausdrückten, war durch die Ritzen der Maske unmöglich zu sehen. Das Strahlenbündel des einen Auges des Adjunkten Quillander ging zum Adjunkten Möbius, das des andern zu den Händen des jüngeren Banditen, die die vier länglichen Papiere hielten. Direktor Hoff-Jensen hatte den Kopf zurückgebogen und betrachtete unverwandt einen Fleck am Plafond. Fräulein Lundén und der Mann an der Tür hatten als gemeinsames Ziel für ihre Blicke den Adjunkten Möbius. Hingegen war überhaupt niemand da, der Herrn Wessén ansah. Dies bemerkte Herr Wessén selbst und beschloß, die Gelegenheit zu benützen. Er machte einige verstohlene Schritte zum elektrischen Kontakt hin. Die Absicht war klar. Er hatte den Kontakt fast erreicht, als ein Geräusch die intensive Stille im Zimmer unterbrach. Es war nicht eine Stecknadel, die fiel, es war ein Revolverhahn, der gespannt wurde. Er wurde, ungewiß zum wievielten Male an diesem Abend, gespannt, aber trotzdem war die Wirkung eine augenblickliche. Herrn Wesséns ausgestreckte Hand flog auf ein Heulen des Mannes an der Vorzimmertür in die Höhe.

»'ände 'och! Rücken nach außen! 'ören Sie! Sie rühren einen Finger, ik make Tunnel durk Ihren Kopf! Alles still! Was tut Ihr 'ier? Was zum Teufel tut Ihr 'ier?«

Die Frage traf Möbius und das junge Mädchen mit Kraft und reichlichem Speichel mitten ins Gesicht. Das schien nicht zu genügen, um ihnen die Situation begreiflich zu machen. Auch nicht eine neue klagende Frage von Fräulein Lundén machte ihnen die Lage klar.

»Peter Ludwig, wo warst du denn um diese Zeit? Wen hast du denn da mit?«

Möbius fuhr sich über die Stirne, ohne sich auf diese Weise selbst zu größerem Verständnis zu hypnotisieren. Fräulein Lundén war plötzlich etwas eingefallen.

»Peter Ludwig, hast du Wechsel für den Lumpen dort unterschrieben? Sag', hast du das? Sag', daß du es nicht getan hast, mein Junge!«

Möbius fuhr sich durch das Haar, bis es einem Helmbusch glich, beispielsweise dem Gustav II. Adolfs.

»Wo kommst du her, Tante?« murmelte er. »Wie bist du hierhergekommen?«

»Ich komme aus Brostad, mein Junge, um dich zu retten. Ich und Herr Wessén, wir haben deine Spur bis hierher verfolgt. Herr Quillander behauptete, du wärest nicht hier, aber ich wußte es besser. Diese zwei mit den Masken waren nicht da, als ich kam. Sie haben mir mein ganzes Geld abgenommen. Ich will nicht gerade behaupten, daß jemand in der Gesellschaft dahintersteckt, aber – wer ist die Dame, die du mit hast, Peter Ludwig? Warum hast du dir den Bart abrasiert?«

Möbius blinzelte und strich sich in umgekehrter Richtung durch das Haar.

»Von was für Wechseln sprichst du, Tante?« murmelte er.

»Ha, ha, ha!« Das Gehege von Fräulein Lundéns Lippen öffnete sich wieder. »Gott sei dank, daß du mich daran erinnert hast. Die Sache ist die, daß Herr Quillander vier Wechsel fabri– …«

Quillanders beide Augenstrahlenbündel verschmolzen zu einem einzigen, das Möbius majestätisch umschloß.

»Die Sache ist die, lieber Freund,« begann er peremptorisch, und seine Worte entwickelten sich wie eine aufbrechende Zwiebel, »daß wir gerade heute abend dasaßen und von dir sprachen, Schorn und ich.

Wir haben dich tagelang gesucht, trauernd wie Josef und Maria. Wir sprachen gerade davon, was aus dir geworden sein mag, als deine – hm – deine geschätzte Tante in die Gesellschaft einbrach und die ganze Stimmung störte. Nach ihr kam noch eine Anzahl Personen, von denen ich nicht direkt sagen kann, daß sie zu ihrer Gesellschaft gehören. Auf jeden Fall hat mich der Besuch dieser Personen achthundertundzwanzig Kronen gekostet. Aber darüber können wir noch ein andermal sprechen. Abgesehen von diesem Betrag haben sie meinem Freunde, Direktor Hoff-Jensen, der dort auf dem Stuhle sitzt, eine größere Summe abgenommen. Ja, richtig, ich habe vergessen, ihn dir vorzustellen.«

Möbius strich sich über das Kinn und sagte:

»Danke. Du brauchst mich nicht vorzustellen. Ich kenne Herrn Direktor Hoff-Jensen.«

»Du kennst Herrn Direktor Hoff-Jensen?«

»Ich habe das Vergnügen. Nur eine Sache verstehe ich nicht.«

»Was denn?«

»Du behauptest, daß man Herrn Hoff-Jensen bestohlen hat!«

»Ja, gewiß. Um sein ganzes Geld. Mich auch, aber darüber wollen wir später sprechen. Warum verstehst du das nicht?«

»Weil Herr Hoff-Jensen selbst der Chef der zwei maskierten Diebe ist, die dich ausgeplündert haben!«

Quillander starrte seinen Indossenten wie einen Tollhäusler an. Fräulein Lundén lauschte den Worten ihres Neffen, als wären sie das Evangelium. Direktor Hoff-Jensen verschränkte die Arme hinter dem Nacken und lächelte Möbius freundlich zu.

»Bin ich der Chef von zwei Dieben? Warum nicht ebensogut von dreien? Hat die Bande nicht bei gewissen Anlässen das Vergnügen gehabt, die Hilfe eines dritten zu genießen – eines Adjunkten, der an die Willensfreiheit glaubt? Mit andern Worten: wenn ich der Chef bin, sind Sie dann nicht mein Untergebener? Verzeihen Sie, daß ich dies berühre. Aber Sie haben selbst angefangen.«

Fräulein Lundén war die erste, die den Sinn der langsam ausgesprochenen Worte des schwarzen Direktors erfaßte. Sie schöpfte Atem, aber ihre Stimmbänder weigerten sich, die Luftmassen durchzulassen, mit denen sie ihre Gefühle auszudrücken beabsichtigte. Schließlich stöhnte sie:

»Peter Ludwig, er ist wahnsinnig! Er ist verrückt!«

Der Direktor lächelte ihr zu, das entschuldigende Lächeln des Bankdirektors, wenn er es zu seinem großen Bedauern ablehnen muß, einen Wechsel anzuerkennen.

»Bin ich verrückt, Herr Möbius?«

»Kennt er dich, Peter Ludwig?«

Möbius strich das Haar zu einem Helmbusch auf und strich es wieder glatt.

»Tante,« sagte er, »er kennt mich.«

»Was sagst du?«

»Ja, und er spricht die Wahrheit.«

»Er spricht die Wahrheit? – Solltest du – solltest du –«

»Es ist so, wie er gesagt hat. Ich bin ein Dieb.«

»Du, Peter Ludwig, der makelloseste, der beste Mensch – du, Peter Ludwig, der du Lehrer der Religion bist, du, der du nie ins Gasthaus gegangen bist – du wärest – du bist – nein, du bist närrisch, du bist ebenso verrückt wie er!«

»Sind Sie ebenso verrückt wie ich, Herr Möbius?« fragte Hoff-Jensen, noch immer lächelnd.

Möbius strich sich wieder einmal über die Stirn. Diesmal sah es aus, als wollte er sich die Augen zuhalten.

»Tante,« sagte er, »ich bin nicht verrückt. Ich weiß, was ich sage. Ich bin ein Dieb. Den drei Herren, die du hier siehst, ist es gelungen, mich dazu zu machen. Nein, ich lüge.«

»Nicht wahr, mein Junge, du führst mich an? Du machst dir mit mir einen Spaß? Warum tust du das? Warum quälst du mich?«

»Tante, ich lüge, aber nur in gewissem Sinne. Nicht die drei Herren haben mich zum Dieb gemacht. Sondern mein eigener schlechter Charakter.«

»Was sagst du? Dein schlechter Charakter! Du, der makelloseste Mensch, den ich kenne, der nie in ein Wirtshaus gegangen ist, nie Weiber angesehen hat, mir sein ganzes Geld für den Haushalt gegeben hat! Peter Ludwig, du scherzest mit mir, oder du mußt rein verrückt sein!«

»Tante, ich scherze nicht mit dir, ich bin das, was ich dir sagte. Ich habe Herrn Hoff-Jensen stehlen geholfen, ganz so, wie er selbst sagt. Ich bin ein Dieb. Mein schlechter Charakter, kein anderer hat mich dazu gemacht.«

Fräulein Lundén schien einer Ohnmacht nahe. Plötzlich retteten sich ihre Gedanken in bekannte Bahnen.

»Dein Charakter war ausgezeichnet,« rief sie, »bis zu diesem Sommer. Wenn ihn jemand verdorben hat, so weiß ich, wer. Der Lump dort! Der Wechsel auf Namen zieht, die er selbst …«

Quillander nahm den Faden auf.

»Lieber Freund,« sagte er, »gestatte mir, deine Tante zu unterbrechen: Ich kann unmöglich glauben, daß du das, was du von Herrn Hoff-Jensen gesagt hast, wirklich meinst. Herr Hoff-Jensen und ich haben unsre Ansichten ausgetauscht, und ich habe gefunden, daß Herr Hoff-Jensen ebenso gesund in seinem Gedankengang ist wie ich selbst, so gesund man überhaupt sein kann. Aber laß uns darüber später sprechen. Es scheint, daß du diese zwei maskierten Herren kennst. Glaubst du, daß du sie dazu bringen kannst, das Geld zurückzugeben oder sich wenigstens zu entfernen?«

Fräulein Lundén hatte rasch weitergedacht.

»Peter Ludwig!« rief sie, »wer ist die Dame, die du da mit hast? Ich habe dich noch nie mit einer Dame gesehen. Ist dein Charakter verdorben, so ist der Lump dort und schlechte Frauenzimmer daran schuld. Der Lump hat ja noch damit geprahlt, daß er dich mit den Versuchungen bekanntgemacht hat. Warum hast du dir den Bart abrasiert, Peter Ludwig? Wer ist die Dame, die du mit hast, Peter Ludwig?«

Möbius fuhr sich über die Stirn. Diesmal wie jemand, der aus einem bösen Traum erwacht und das klare Tageslicht sieht.

»Tante,« sagte er, »das ist meine Braut.«

Er drückte das junge Mädchen an sich und sah sie mit Augen an, die Fräulein Lundén ihres Wissens noch nie an ihm gesehen hatte. Einige Sekunden vergingen. Dann machte der Bandit, dessen Tasche vom Geld aller Anwesenden geschwellt war, einen Sprung auf Möbius zu.

»Was, du Pfaff. Dein Schatz! Seit wann ist mein Schatz dein Schatz geworden!«

Fräulein Lundén lauschte mit weitaufgerissenen Ohren.

» Sie ist seine Braut? Peter Ludwig, willst du ein Mädel anrühren, die so einer gehabt hat?«

Der Bandit packte das Mädchen am Arm:

»Was sagst du? Willst du mit so einem – so einem, wie dem dort, was zu tun haben?«

Möbius schlang den Arm um das Mädchen und bot ruhig der Brandung die Stirn.

»Sie ist mein und keines andern! Was sie gewesen ist, geht niemand etwas an. Jetzt ist sie mein, denn ich liebe sie. Aber am größesten von allen ist die Liebe. An dem Tage, da ihr ihre Stimme höret, verstocket eure Herzen nicht!«

Er drückte sie eng an sich. Der abgewiesene Prätendent schürzte die Lippen auf wie eine Wildkatze. Dann griff er nach der Tasche. Der Revolver, den er bei seinem Entree getragen, zeigte sich wieder in der Arena. Er wies auf Möbius' Kopf, als eine scharfe Stimme ertönte:

»Stopp! Herunter mit dem Ding! Augenblicklich! Einen Revolver verwendet man in Geschäften, nicht in der Liebe. Steck ihn ein und schäme dich!«

Die Stimme kam aus dem Fauteuil des Direktors Hoff-Jensen. Der Maskierte hielt inne wie ein Rekrut beim Kommando, senkte den Revolver und starrte den schwarzäugigen Direktor zornig an.

»Was zum Teufel soll das heißen?« keuchte er.

»Schämst du dich nicht, mit einem geladenen Revolver auf einen Mann zu zielen, der in der Liebe mit dir konkurriert?«

Der Maskierte senkte den Revolver noch tiefer und zischte noch zorniger:

»Ich kann hier keinen Unterschied zwischen Geschäften und Liebe sehen.«

»So?«

»Nein. Der dort hat mir meinen Schatz weggeschnappt. Außerdem steht er da und weiß, wer wir alle miteinander sind. Hat es einen Sinn, ihn hier zu lassen, damit er es der ganzen Welt erzählen kann? Ich frage: Hat das einen Sinn?«

Der ältere der beiden Einbruchsdiebe hatte längere Zeit ein Schweigen beobachtet, das nicht recht zu seiner Natur paßte. Jetzt machte er sich Luft:

»Nein, das 'at keine Sinn! Nein, das ist alles, was es dümmstes gibt! Acht'undert und ein Uhr! Und ihn nok dalassen, daß er das ganze der Polisei erzählen kann! Nie! Ik sieße!«

Er hob den Arm, und sein Kamerad war nicht faul, seinem Beispiel zu folgen.

Zwei Schüsse knallten, während gleichzeitig Schreie ertönten und der Speisesaal der Villa Seefried plötzlich in pechschwarzer Dunkelheit dalag.

3.

Als es wieder hell wurde, beschien das Licht eine wunderliche Szene.

Mitten auf dem Boden lag der Adjunkt Schorn zusammengesunken, ein Stuhlbein umarmend, und weinend wie ein Verzweifelter.

»Ach nein! Ach nein!«

Auf dem Sessel, dessen Bein er umarmte, saß Quillander, steif wie eine Memnonsäule. Seine Hände waren herabgesunken und hielten die Sessellehne umklammert. Seine Lippen waren geschlossen, sein Gesicht war ein Gemisch von Schrecken, Staunen und Ratlosigkeit. Obgleich seine Augen weit geöffnet waren, ist es fraglich, ob sie etwas sahen. Sahen sie etwas, dann mußte es, rein physikalisch berechnet, der Erzfeind, Fräulein Lundén sein.

Fräulein Lundén hatte das Segelgarn gesprengt und sich erhoben, zitternd wie ein in die Erde gerammter Speer. Ihre gefesselten Hände waren erhoben. Ihre Lippen regten sich, ohne einen Laut hervorzubringen; hätten ihre blinden Augen gesehen, so müßten sie ihre akustische Rivalin Sara erblickt haben.

In der Tür, die in die Küche führte, stand Sara. Ihr schwarzes Haar fiel in ungeordneten Ringeln auf eine halbgeöffnete Bluse. Durch diese Bluse schimmerte eine Gestalt, die reif war, von Zorn radiert zu werden. Das hagebuttenrote Gebiß leuchtete hinter zwei vor Entsetzen geöffneten Lippen. Nicht ein Lachen, nicht ein Lächeln zitterte um diese Lippen.

Wenn Adjunkt Quillander eine sitzende Memnonsäule war, so war Direktor Hoff-Jensen eine stehende. Regungslos, mit vorgestrecktem Stierhals, lauschte er dem Echo der zwei Schüsse. Das plötzliche Licht machte seine Tintenfischaugen unter den Vergrößerungsgläsern noch größer und starrer. Sahen sie etwas? Sie waren wenigstens auf einen bestimmten Punkt gerichtet – den, wo Möbius gestanden hatte, bevor das Licht erloschen war.

Die beiden Maskierten standen noch immer da mit gesenkten Revolvern. Zu ihren Füßen lagen zwei zusammengesunkene Gestalten – Möbius und das Mädchen.

Das Licht, das all dies beschien, kam nicht von der Deckenbeleuchtung. Es kam von einem der Fenster nach dem Garten. Dieses Fenster war geöffnet, und durch dasselbe fiel ein schmaler weißer Lichtkegel in den Speisesaal der Villa Seefried.

Der Lichtkegel glitt sachte über die Anwesenden hin und beleuchtete ihre Gesichter, Sekunde für Sekunde. Das Fräulein Lundéns war weißgelb und runzelig wie Pergament, das Direktor Hoff-Jensens grauweiß wie Staub; Quillanders Antlitz war dunkel wie der Bodensatz von Burgunder. Als Adjunkt Schorn das seine vom Boden in den Lichtkegel erhob, war es fleckig wie das eines Leoparden. Er legte die Hände vor die Augen und schluchzte:

»Ach nein, ach nein!«

Die Spannung wurde rasch gelöst. Der Lichtkegel erlosch; man hörte ein Aufplumpsen und noch eines. Irgend jemand hantierte an der Tür. Ein Brüllen durchschnitt die mit Mißtönen verwöhnte Villa. Ein Revolverschuß knallte. Es fiel Gips vom Plafond, eine Serie der entsetzlichsten Flüche begann, setzte sich fort und schien nie ein Ende nehmen zu wollen. Der Boden war ein Gewühl von kämpfenden Personen. So allmählich ermattete der Kampf, plötzlich flammte das Licht der Laterne wieder auf, und Adjunkt Quillander und seine Gäste hatten endlich die Möglichkeit, zu sehen, was vorgefallen war.

Die Villa Seefried hatte vier neue Gäste bekommen. Sie waren sämtlich blaugekleidete, kräftige Männer mit schwarzen Schnurrbärten, breiten Wangen und scharfen Augen. Einer von ihnen stand, mit der Hand auf Direktor Hoff-Jensens Schulter, da. Zwei andre hielten den wahnsinnig brüllenden größeren Räuber am Fußboden festgenagelt; sein kleinerer Kamerad schlängelte sich in dem Griff des Vierten wie ein Aal an der Angel. Der Mann an Direktor Hoff-Jensens Seite hielt die Laterne, aus der das Licht kam. Ein Kontakt knipste. Der Speisesaal der Villa Seefried lag wieder in seinem ursprünglichen Lichtreichtum gebadet da.

»Ich sehe, ich kann ebensogut anzünden.«

Es war der blaugekleidete Herr Wessén, der dies sagte. Sara stieß einen Schrei aus und zog züchtig die Bluse über ihrem entblößten Busen zusammen. Der Mann an Direktor Hoff-Jensens Seite löschte seine Laterne aus und wandte sich an Herrn Wessén.

»Haben Sie vorhin ausgelöscht?«

»Ja, gerade im Augenblick, als die beiden Schurken schossen, um zu versuchen, ihre Opfer zu retten.«

»Wer sind Sie?«

»Wessén, Advokat und Privatdetektiv aus Schweden, zu Ihrer Verfügung.«

»Wie kommt es, daß Sie hier sind?«

»Ich kam in Gesellschaft der Dame dort, Fräulein Lundén, in ihrem Auftrage.«

»Kennen Sie den Herrn dort?«

»Nein.«

»Es ist gut. Wollen Sie mir behilflich sein, ihn zu halten?«

Herr Wessén packte bereitwillig Direktor Hoff-Jensens Schulter. Direktor Hoff-Jensen ließ es ohne Protest geschehen. Es sah nicht einmal aus, als ob er es bemerkt hätte. Er starrte noch immer gespannt auf denselben Punkt des Bodens. Plötzlich ging ein Zucken über sein großes Gesicht; er sank mit einem befriedigten Seufzer zusammen und reagierte gleichzeitig auf Herrn Wéssen und den Mann mit der Laterne.

»Kneifen Sie mich doch nicht, Sie dort! Wer sind Sie? Was machen Sie hier?«

»Das, glaube ich, werden Sie sich schon selbst sagen können,« meinte der Mann mit der Laterne.

»Ich kann verstehen, was Ihre drei Freunde dort auf dem Boden machen, aber wollen Sie so gütig sein, mir zu sagen, was Sie damit meinen, hier zu stehen und mich an der Hand zu halten?«

»Sie begreifen es sicherlich.«

»Nein, absolut nicht. Wissen Sie, wer ich bin?«

»Ja.«

»Wissen Sie, daß ich Direktor Hoff-Jensen von der Vigilia bin?«

»Es freut mich, daß Sie es selber bestätigen.«

»Was meinen Sie damit, mich an der Hand zu halten?«

Der Mann mit der Laterne antwortete nicht. In diesem Augenblick beruhigte sich der Kampf auf dem Boden, und die drei Blaugekleideten erlangten die Oberhand über ihre Feinde. Es wurde nahezu still. Nur Adjunkt Schorn schluchzte ein durchdringendes »Nein! Ach nein!«

»Es ist gut!« sagte der Mann neben Hoff-Jensen. »Holm, legen Sie ihnen Handschellen an!«

Der Blaugekleidete, den er angesprochen hatte, ließ seinen Gefangenen los, um ein passendes Instrument aus seiner Tasche zu ziehen. Der Gefangene machte eine Schwenkung, die ihn fast auf den Boden hingeschleudert hätte. Aber der Blaugekleidete war seiner Aufgabe gewachsen. Der Verbrecher wurde gebunden, und ein paar Minuten darauf befand sich sein Kamerad in derselben Situation. Der Mann an Hoff-Jensens Seite sagte:

»Es ist gut. Befassen Sie sich mit dem Paar an der Türe.«

Seine Worte wirkten wie eine Zauberformel.

Der Mann, den er angesprochen, drehte sich nach einer Richtung um, nach der in den letzten zehn Minuten niemand gesehen hatte.

Auf dem Boden, dicht neben der Tür, lagen Möbius und das junge Mädchen. Sie lag über ihm zusammengesunken. Sollte man nach ihrem Aussehen urteilen, waren sie beide tot.

Der blaugekleidete Herr Holm überließ die Gefangenen seinen zwei Freunden und ging zu den beiden hin. Er ging langsam, wie man zu einer peinlichen Pflicht geht. Bei ihnen angelangt, blieb er stehen und blickte zu seinem Vorgesetzten zurück.

»Eilen Sie sich, Holm,« sagte dieser.

Der Blaugekleidete beugte sich hinab. Im selben Augenblick geschah etwas Unerwartetes. Das blauäugige Mädchen setzte sich schluchzend auf. Ohne Holm anzusehen, beugte sie sich über Möbius und streichelte seine Stirn. Fräulein Lundén zitterte, wie vor Frost.

»Peter Ludwig, lebst du? Peter Ludwig!«

Es war ein Angstschrei, wie der Ruf bei Lazarus' Grab. Und plötzlich geschah das Unerwartete. Ob als Antwort auf den Ruf seiner Tante oder auf die Liebkosungen des Mädchens erhob sich Adjunkt Möbius vom Boden, fuhr sich mit der Hand nach dem Kopf, sank zurück und richtete sich wieder auf. Endlich blieb er sitzen und starrte mit betäubten Blicken die Anwesenden an.

»Wo – was – ich glaubte …«

Fräulein Lundén kniete mit gebundenen Händen neben ihm nieder.

»Wo bist du verwundet? Nein, Peter Ludwig, daß du lebst! Fühle nach. Ich habe geglaubt, du bist tot.«

Möbius griff sich an die Stirn.

»Ich weiß nicht – jemand hat geschossen – ich glaube – hier oben …«

Das Mädchen strich sein Haar zurück. Eine rote Wunde zog sich die Schläfe entlang wie eine blutige Wegspur. Die Kugel aus einem der Revolver war gerade dem Stirnknochen gefolgt, ohne einzudringen. Der betäubte Ausdruck in seinen Augen war erklärlich genug. Fräulein Lundén stand auf, hob ihre gebundenen Hände und stampfte auf den Boden, so daß es dröhnte.

»Der Kleine war es! Ich bin sicher, daß es der Kleine war!«

Der Mann, der noch immer an Direktor Hoff-Jensens Seite stand und getreulich seine Hand hielt, sagte:

»Holm, nehmen Sie ihnen die Masken ab, der Ball ist aus.«

Der Blaugekleidete riß die Stoffstreifen von den Gesichtern der beiden Gefangenen. Sein Chef nickte befriedigt.

»Ganz richtig. Es ist möglich, daß nicht alle aus der Gesellschaft die Herrschaften kennen. Gestatten Sie mir also vorzustellen: Herr Giovanni Perrini und Herr Peter Schiött, Herr Perrini hat noch einen Ueberfluß von andern Namen, die Zeit gestattet mir nicht, alle aufzuzählen. Was Peter Schiött betrifft, so sagte einer der Lehrer in der Zwangserziehungsanstalt: Es gibt einen Silberrand an jeder Wolke, ich zweifle nicht, daß Peter Schiött auch den gern stehlen möchte. Aber darf ich nun Herrn Möbius fragen: wie sind Sie in die Gesellschaft solcher Personen gekommen?«

Möbius, der sich erhoben hatte, schwankte. Der blaugekleidete Herr Holm erwies sich plötzlich als ein ausgezeichneter Psychologe. Er eilte zu dem Tisch, schenkte ein Glas Punsch ein und kehrte damit zu Möbius zurück. Hierbei blieb der Blick des Adjunkten Quillander an dem Blaugekleideten hängen; er sah ihn an, fuhr sich über die Stirn und murmelte:

»Das ist der vom ›Topfdeckel‹. Ich fange an zu verstehen …«

Möbius schluckte den gelben Trank hinunter und atmete tief auf. Dann murmelte er an Direktor Hoff-Jensens blaugekleideten Wächter gewendet:

»Wissen Sie, wer ich bin?«

»Ja, Peter Ludwig Möbius aus Schweden, dem Vernehmen nach Lehrer an der Schule in Brostad.«

»Woher wissen Sie das? Sind Sie Detektiv?«

»Ja.«

»Dann sind Sie wohl hier, um mich zu verhaften.«

»Wenn es sich als notwendig erweist. Wollen Sie auf meine Frage antworten. Wie sind Sie hergekommen?«

»Ich war eine Zeitlang der Gefangene dieser Leute … und nun heute abend, als sie fort waren, beschlossen Vera … beschlossen wir, durchzugehen. Ver..., ich hatte gehört, daß ein paar Freunde sich hier eingemietet hätten, und …«

»Es ist gut. Und jetzt geben Sie mir einen wahrheitsgetreuen und ausführlichen Bericht, wie ein Lehrer aus Schweden in die Gesellschaft von zwei solchen Herren, wie Herrn Giovanni Perrini und Herrn Schiött kommt.«

Perrini und Schiött auf dem Boden waren mit Handschellen, aber nicht mit Maulkörben versehen. In diesem Augenblick brach Perrini in eine Sturzwelle von Flüchen nach der andern aus.

»Ah – porcamadonnasantissima, elende dicke Flußpferd, und du verdammter Pfaff, ihr sollt mir denken daran! Ah, ik werde nikt vergessen! Mit Revolvér komme ik wieder und dann, porcodioporcosacramento, sieße ik nikt fehl! Ah, Satan in der Hölle …«

Einer der Blaugekleideten stopfte ihm eine Handvoll Werg in den Mund, auf die Gefahr hin, daß ihm die Finger abgebissen wurden. Der Chef der Blaugekleideten bedeutete Möbius, zu beginnen.

»Es – es war in Roskilde,« stammelte Möbius. »Ich war da, um mir die Domkirche anzusehen. Ich hatte meine Kameraden in Kopenhagen gelassen, Herrn Quillander und Herrn Schorn, die Sie dort drüben sehen, ich …«

»Du hattest die Gesellschaft dieses Lumpen satt, mein Junge, nicht wahr? Das kann ich mir so gut denken, und da bist du nach Roskilde gefahren, um in die Kirche zu gehen. Das war recht, das habe ich mir von dir erwartet, mein Junge.«

»Tante, eben in der Kirche in Roskilde habe ich meinen ersten Fehltritt begangen. Es kostete fünfzig Oere, die Kirche anzusehen. Ich hatte nicht mehr bei mir, und ich prellte den Kirchendiener um seine fünfzig Oere.«

»Ja, das hättest du nicht tun sollen, mein Junge, aber wenn du nicht mehr bei dir gehabt hast! Das macht weiter nichts, wenn du das getan hast.«

»Tante, ich beschloß, den Kirchendiener zu bemogeln, ich tat es mit voller Absicht. Ich wollte die Versuchungen kennenlernen, und ich fiel freiwillig. Um die Versuchungen kennenzulernen, war ich ja mit Quillander nach Dänemark gefahren.«

Adjunkt Quillander fand seine Stimme wieder.

»Ich will dir nur sagen, lieber Freund, daß ich deiner – deiner Tante dasselbe gesagt habe, und daß sie meine Angaben in einer Weise aufgenommen hat, die für mich überaus verletzend war. Ueberaus verletzend. Wenn ich nicht eine solche Achtung vor älteren Damen hätte, ich hätte mich vielleicht hinreißen lassen können. So aber …«

Fräulein Lundén nahm sofort das Wort.

»Ich habe dem Lumpen gesagt, daß, wenn es sich darum handelt, sich in Versuchungen und ins Verderben zu stürzen, man sicherlich keinen besseren Führer haben kann, als ihn. Nein, ich habe die Wechsel vergessen! Peter Ludwig, hast du …«

»Lieber Freund, ich bitte dich, mich …«

»Herr Möbius, wollen Sie Ihre Erzählung mit so wenig Familienunterbrechungen als möglich fortsetzen?«

Möbius strich sich sein bartloses Kinn.

»In der Nacht fand der Einbruch in der Kirche statt, und die Einbrecher erblickten mich. Sie nahmen mich mit. Sie sperrten mich in ein Haus bei einer Frau ein, die sie kannten.«

»Bei einer Frau, die sie kannten! Ist das die, die du jetzt mit hast, Peter Ludwig? Und die nennst du deine Braut? Peter Ludwig, wenn deine Mutter – nein, Peter Ludwig, das hätte ich nie geglaubt! …«

»Tante, es war nicht Vera! – Vera ist meine Braut …«

»Herr Möbius, wollen Sie Ihre andern Erklärungen aufschieben und sich an die Sache halten. Haben die Einbruchsdiebe noch etwas andres aus der Domkirche mitgenommen als Sie?«

»Ich glaube, sie haben alle Kränze in den Kapellen genommen.«

»Und dann …«

»Dann führten sie mich in ein Haus, wo ich mich seither als Gefangener aufgehalten habe.«

»Wem gehört das Haus?«

»Einer Frau.«

»Wohnte außer ihr und Ihnen noch jemand in dem Hause?«

Möbius schwieg.

»Haben Sie meine Frage gehört?«

»Ja.«

»Nun also?«

Möbius sah hastig Vera an, die seinen Blick mit einem gespannten, aber ausdruckslosen Gesicht erwiderte.

»Sie wollen es nicht sagen?«

Möbius antwortete nicht. Hoff-Jensen war ja ihr Vater. Der blaugekleidete Oberdetektiv zuckte die Achseln.

»Ihr Zögern ist unnötig. Ich kann Ihnen sehr gut selbst sagen, wer dort gewohnt hat. Wir waren in dem Hause, von dem Sie sprechen, zu Besuch, bevor wir hierherkamen. Frau Zingel sitzt gegenwärtig hinter Schloß und Riegel. Bevor es uns gelang, das zu ordnen, hatten wir das Vergnügen, das bösartigste Hundevieh zu erschießen, das ich in meinem Leben gesehen habe.«

»Ist Nero tot?«

»Ja. Aber Nero ist nicht der Einwohner der Villa, an den ich dachte. Wollen Sie sagen, wer es war?«

Möbius sah wieder Vera an und schwieg.

Der Blaugekleidete zuckte abermals die Achseln.

»Ich habe Ihnen schon gesagt, daß das dumm von Ihnen ist. Der andre Bewohner der Villa steht hier neben mir. Oder sollten Sie während Ihrer Gefangenschaft in der Villa Herrn Direktor Hoff-Jensen nicht zu Gesicht bekommen haben?«

Möbius schwieg noch immer. Er brauchte nicht zu sprechen; der Blaugekleidete umfaßte Hoff-Jensens Handgelenk mit festerem Griff und sprach selbst:

»Darf ich Herrn Direktor Christian Hoff-Jensen von der Wachgesellschaft Vigilia vorstellen, der netteste kleine Schwindel, den wir seit Jahr und Tag hier im Lande gehabt haben. Nicht wahr, Herr Hoff-Jensen, das stimmt, das ist nicht zu wenig gesagt und auch nicht zu viel? Herr Hoff-Jensen kam heuer im Frühling heim, nachdem er sich eine Reihe von Jahren den Behörden im Auslande unangenehm gemacht hatte. Herrn Hoff-Jensens Vergangenheit ist von jener Art, daß sie am besten als Makulatur bezeichnet werden kann – sehr schwarz. Herr Hoff-Jensen hatte sich im Auslande einen kleinen Sparpfennig gesammelt und wollte ihn in einer guten und soliden Unternehmung placieren. Er dachte einen Augenblick nach und gründete dann die Wachgesellschaft Vigilia.«

Der Blaugekleidete machte eine Pause und umfaßte das Handgelenk des Direktors mit festem Griff. Herr Wessén folgte seinem Beispiel. (Das wird nur im Hinblick darauf erwähnt, was sich später ereignete.) Möbius starrte entsetzt von Vera auf ihren Vater; Fräulein Lundén durchbohrte ihn mit Dolchblicken; Quillander betrachtete seinen Gast wie gelähmt; Adjunkt Schorn bohrte sich die Nase und stöhnte: »Nein, ach nein!« Der Oberdetektiv fuhr fort:

»Die Wachgesellschaft Vigilia hatte zu ihrer Aufgabe, das Eigentum der Leute Tag und Nacht zu bewachen – namentlich nachts. Sie engagierte einen Stab von Untergebenen, deren Vergangenheit sie für einen solchen Dienst geeignet erscheinen ließ. Alle diese Angestellten hatten einen, wenn auch nur elementaren Einblick in die moderne Einbruchstechnik.«

Er sah einen Augenblick Hoff-Jensen beinahe zärtlich an und fuhr dann fort:

»Als Beamte der Gesellschaft Vigilia hatten sie freien Zutritt zu den Häusern und Liegenschaften, die sie zu bewachen hatten. Sie wußten diesen Zutritt voll und ganz zu schätzen. Sobald sie eine Villa entdeckten, ein Kontor, eine Wohnung, die ihnen eine Chance gab, zeigten sie die wahre Seite ihres Wesens. Sie brachen ein, nahmen, was vorhanden war, und gingen damit durch. Unmittelbar darauf wurde der Einbruch entdeckt, und von wem? Von ihnen selbst, in ihrer Eigenschaft als Angestellte der Gesellschaft Vigilia! Als solche eilten sie noch vor der Polizei und allen andern herbei, verwischten die Spuren, die sie möglicherweise hinterlassen hatten, und waren untröstlich in ihrem Schmerze darüber, daß in einem Hause, das sie bewachten, ein Einbruch geschehen konnte. Ja, so waren die Geschäftsprinzipien der Wachgesellschaft Vigilia, und ihr Chef ist Direktor Christian Hoff-Jensen, der hier neben mir steht.«

»Ich habe mich heute nachmittag selbst versichern lassen,« flüsterte Adjunkt Quillander. »Bei Herrn Direktor Hoff-Jensen.«

»Und am Abend bekamen Sie den Besuch der Beamten der Gesellschaft! Ich fange an, die Situation hier besser zu verstehen. Nun, immer konnte ja die Gesellschaft nicht so mit ihren Geschäften reüssieren. Herr Möbius, ich habe Sie mitten in Ihrer Erzählung unterbrochen. Oder hatten Sie nicht noch etwas hinzuzufügen?«

Möbius strich sich über die Stirn wie ein Schlafwandler.

»Ja … ja,« stammelte er, »wollten Sie mich arretieren?«

»Bisher haben Sie mir keinen Anlaß dazu gegeben. Daß Sie entführt und eingesperrt wurden, dafür konnten Sie nichts. Ich gehe davon aus, daß Ihre Erzählung sich als wahr erweist. Warum sollte ich Sie dann arretieren?«

Möbius erschauerte.

»Wegen … wegen …«

»Ja?«

»Wegen der Vanadis,« flüsterte Möbius. »Ich war mit dabei. Ich half ihnen stehlen. Elftausend Kronen, sagte Frau Zingel. Tante, ich habe es dir schon gesagt, ich bin ein Dieb.«

Das Fräulein erwachte aus ihrer Hypnose und löste den Blick von Direktor Hoff-Jensen los.

»Nein, da will ich Hans heißen, wenn du das bist, mein Junge! Nein, ausgeschlossen! Wenn jemand ein Dieb ist, so ist es Herr Quillander. Das wollte ich schon den ganzen Abend erzählen. Peter Ludwig, Herr Quillander hat deinen Namen auf dem Wechsel ge...«

Adjunkt Quillander vergaß ebenfalls seine Angelegenheit mit der Gesellschaft Vigilia.

»Ich muß sagen, du hast sonderbare Erlebnisse gehabt, lieber Freund, seit wir uns zuletzt auf der Nimbschen Terrasse gesehen haben. Das war übrigens ein angenehmes Frühstück und bedeutend harmonischer als das heutige Mittagessen, das sich bis zum frühen Morgen hinauszuziehen scheint, wenn es so weitergeht, wie es angefangen hat. Darf ich Sie fragen, Herr Detektiv …»

Der blaugekleidete Oberdetektiv hatte Möbius nicht aus den Augen gelassen.

»Es handelt sich eben um die Vanadis,« sagte er. »Also, Sie geben zu, daß Sie mit dabei waren? Wie ist das zugegangen? Erzählen Sie!«

Möbius stand mit gesenktem Kopf da, und mit gesenkter Stimme begann er seine Erzählung. Er sprach von seinem Vorsatz, nach seinem ersten Fall in Roskilde keinen weiteren Versuchungen zu erliegen; er erzählte, wie die Verbrecher ihre Forderungen an ihn gestellt hatten; wie er geglaubt hatte, sie überlisten zu können, und mit Perrini zur Gesellschaft Vanadis gefahren war; wie es ihm dort ergangen war, wie er alles gesagt hatte, nur nicht das, was er sagen wollte; wie er also Perrini und seinen Freunden bei ihren Plänen geholfen hatte, obwohl er noch nicht wußte, worin diese bestanden hatten.

Der blaugekleidete Oberdetektiv unterbrach ihn.

»Sie verstehen ihren Plan noch immer nicht?«

»Nein.«

»Na, ich muß sagen, Sie begreifen eine so einfache Sache nicht?«

»Nein, so wahr mir Gott …«

»Sie erinnern sich, daß in der Vanadis zwei Beamte saßen?«

»Ja, Herr Stewén und Herr Lindell.«

»Ganz richtig. Und mit wem haben Sie sich ein Rendezvous gegeben?«

»Mit Herrn Stewén.«

»Ja, und warum glauben Sie?«

»Ich weiß nicht. Ich habe es nicht verstanden.«

»Warum, wenn nicht, weil Ihre Freunde Herrn Stewén aus dem Weg räumen wollten? Und warum wollten sie ihn aus dem Weg schaffen und nicht Herrn Lindell? Weil Herr Lindell mit Herrn Schiött gut Freund war. Darum und aus keinem andern Grunde. Und nun ereignete sich das Komische. Hahaha.«

Der blaugekleidete Oberdetektiv schlug sich auf den Schenkel und brach in ein schallendes Gelächter aus.

»Nicht wahr, Herr Schiött, das war komisch? Und was sagen Sie, Herr Direktor? Es war zu komisch.«

Hoff-Jensen stand stumpf und ausdruckslos in der Umarmung der Blaugekleideten. Peter Schiött auf dem Boden schrie auf wie ein Wiesel und fletschte die Zähne. Beim Anblick einer Handvoll Baumwolle verstummte er, nicht so der blaugekleidete Oberdetektiv. Der lachte, bis Sara ihm fasziniert Gesellschaft leistete.

»Nein, das war zu komisch,« stöhnte er schließlich. »Nicht wahr, Peter Schiött? Herr Schiött und Herr Lindell hatten alles miteinander sehr schlau abgekartet. Herr Lindell hatte die Wache. Peter Schiött sollte einbrechen, Herrn Lindell überwältigen, ihn binden und das Kontor plündern. Peter Schiött brach ganz richtig ein, und er und Herr Lindell arrangierten einen kleinen Kampf, damit es natürlich aussehen sollte. Dabei gibt Herr Peter Schiött Herrn Lindell ein paar Kopfstücke, die Herr Lindell für außerhalb der Vereinbarung ansieht. Herr Lindell schlägt zurück. Peter Schiött auch, und nach zwei Minuten ist die Schlägerei so ehrlich gemeint, als nur irgendein Mensch verlangen kann. Nach zehn Minuten wirft Herr Lindell Peter Schiött hinaus und verspricht, ihn braun und blau zu schlagen, wenn er noch einmal den Kopf zur Vanadis hereinsteckt – nein, aber Peter, geben Sie zu, daß das zu komisch war?«

Möbius machte einen Schritt vorwärts.

»Aber dann …«

»Was dann?«

»Dann bin ich ja gar kein Dieb! Dann habe ich ihnen ja nicht stehlen geholfen.«

»Nein, eigentlich nicht, aber nach dem Buchstaben des Gesetzes sind Sie für den Versuch verantwortlich. Daß der Einbruch mißlungen ist, bedeutet noch nicht …«

In diesem Augenblick geschah es. Niemand hatte es erwartet, und niemand, der es nicht sah, hatte es für möglich gehalten. Hatten Hoff-Jensen und Perrini ein geheimes Signal gewechselt? Auf jeden Fall war es nicht von den drei blaugekleideten Unterdetektivs bemerkt worden, die der Erzählung ihres Chefs mit unterwürfiger Heiterkeit gelauscht hatten. Aber plötzlich, wie von einer Stahlfeder geschleudert, war der gewaltige Perrini in die Höhe geschnellt. Er hob die Handschellen, versetzte dem nächsten der Detektivs damit einen betäubenden Schlag, beugte sich herab, riß Peter Schiött in die Höhe und zerrte ihn zur Vorzimmertür. Er fand den elektrischen Kontakt und hatte noch Zeit, ihn abzudrehen. Der Speisesaal der Villa Seefried lag wieder in ebensolcher Dunkelheit, wie sie auf die zwei Revolverschüsse gefolgt war. Ein Aufplumpsen wurde vom Gartenfenster gehört. Der Lichtkegel der Laterne des Oberdetektivs schnitt einen schmalen Gürtel aus der Dunkelheit heraus; jemand erreichte den Kontakt, und der Speisesaal lag abermals im Lichte da. Aber dieses Licht beschien nicht mehr Peter Schiött, Perrini oder den Direktor der Wachgesellschaft Vigilia.

Er beschien ein Gewirr blaugekleideter Glieder, vier blaugekleideten Herrn angehörig, die einander prügelten, jeder in dem Glauben, daß der andre einer der Verbrecher war. Es beschien eine geöffnete Tür und ein geöffnetes Fenster, durch das die Nachtluft hereinströmte. Nur einen Augenblick, dann beschien es auch dies nicht. Der Oberdetektiv flog mit einem Sprung zum Fenster hinaus, auf der Jagd nach Hoff-Jensen; seine drei Untergebenen setzten wie auf Kommando sechs blaue Hosenbeine in Bewegung zur Vorzimmertür hinaus auf der Jagd nach Direktor Hoff-Jensens Untergebenen. Herr Wessén blieb als einziger Inhaber eines Anzugs in der Farbe der Hoffnung zurück. Herr Wessén dachte, und als er einige Augenblicke gedacht hatte, sagte er:

»Vermutlich fangen sie sie. Sonst kriegen sie sie später. Auf jeden Fall bin ich von Fräulein Lundén engagiert, Herrn Möbius heim nach Schweden zu schaffen. Herr Möbius steht hier. Befindet sich Herr Möbius noch hier, wenn die dänischen Detektivs wiederkommen, so ist es nicht sicher, ob Herr Möbius nach Schweden heimkehren kann. In diesem Falle sind andre Möglichkeiten denkbar. Aber befindet sich Herr Möbius nicht mehr hier, so kann die Sache, glaube ich, geordnet werden, ohne daß Herr Möbius darin aufzutreten braucht. Ich glaube es beinahe bestimmt. Aber wenn ich raten kann, so brechen wir sofort nach Schweden auf, ohne auf die dänischen Detektivs zu warten.«

»Nach Schweden aufbrechen?«

»Wie in aller Welt soll das zugehen?«

»Herr Wessén, es ist gleich halb zwei Uhr.«

»Sie können mit meiner Tante reisen, Herr Wessén, ich bleibe.«

Die ersten drei Ausrufe kamen vom Adjunkten Schorn, Adjunkten Quillander und Fräulein Lundén, der vierte kam von dem, den die Sache am nächsten anging, dem Adjunkten Möbius.

»Du willst nicht mitfahren, Peter Ludwig?«

»Nein, Tante.«

»Was meinst du? Hörst du nicht, was Herr Wessén sagt?«

Möbius sah dem Gefürchteten ins Auge.

»Tante, ich höre, was Herr Wessén sagt, aber es ist meine Pflicht, hierzubleiben. Ich habe zuviel getan, um abreisen zu können.«

»Unsinn, Peter Ludwig!«

»Tante, du hast gehört, was der dänische Detektiv gesagt hat. Ich habe nicht direkt gestohlen, aber es ist nicht meine Schuld, daß es nicht dazu gekommen ist. Vor dem Gesetz bin ich ebenso verantwortlich, als wenn es wirklich geschehen wäre.«

»Was der für Dummheiten zusammengeschwätzt hat, mein Junge.«

»Er hat die Wahrheit gesprochen, Tante. Ich bleibe.«

Fräulein Lundén sah ihn an, sah, daß er es ernst meinte, wurde verwirrt und glitt wieder in bekannte Bahnen.

»Du bleibst!« rief sie. »Ja, um ihr Gesellschaft zu leisten!«

Sie wies auf Vera, die ihrem Blick stumm begegnete, ohne zu blinzeln.

»Du willst lieber bei ihr bleiben, als mit mir nach Hause kommen! Peter Ludwig! Wenn deine Mutter, wenn meine arme Schwester das gehört hätte, – nein, Peter Ludwig, nie hätte ich …«

»Tante, ich bleibe auch deshalb, denn um dessentwillen soll ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und …«

»Peter Ludwig, das meinst du nicht.«

»Tante, ich meine es!«

Fräulein Lundén wendete sich beinahe keuchend an Vera.

»Sagen Sie ihm, daß er nicht bleiben darf, daß er nach Hause fahren soll, daß sie ihn sonst ins Gefängnis werfen.«

Vera zog sich von Möbius zurück und sagte:

»Du hörst, was deine Tante sagt. Ich sage dasselbe. Du darfst nicht hierbleiben, du kannst ins Gefängnis kommen. Wenn das geschieht, ist es meine Schuld. Fahre!«

Möbius zog sie an sich. Sein frisch rasiertes Kinn zitterte vor Entschlossenheit, als er mit zusammengebissenen Zähnen sagte:

»Ich höre, was du sagst. Ich frage nicht danach. Du bist das einzige, wonach ich frage. Ich bleibe hier, bei dir.«

Fräulein Lundéns Blicke irrten rings durch den Saal, nach einer Stütze spähend. Sie erblickte Sara, die mit offenem Munde dastand wie ein frisch gefangener Hecht, und schrie:

»Hinaus, Weibsbild!«

Sara verschwand in einer Wolke von gesprengtem Blusenstoff, Unterröcken und schwarzem Haar. Fräulein Lundéns Gedanken liefen rascher als der elektrische Strom durch einen Kupferdraht. Plötzlich war sie mit ihrem Gedankenproblem fertig. Sie musterte Vera mit einem pfeilschnellen, alles umfassenden, alles beurteilenden Blick und sagte zu Möbius:

»Du bleibst hier, um sie zu verteidigen. Aber – aber – wenn sie auch …?«

Es klang, als hatte sie Leim im Halse. Sie konnte ihrem Schwestersohn nicht ins Gesicht sehen.

Möbius sah sie an und schwieg.

Dann sah er Vera an und schwieg.

Vera schwieg und sah Fräulein Lundén an.

»Tante,« sagte Möbius.

Fräulein Lundén schwieg und kämpfte einen verzweifelten Kampf.

»Tante!«

Fräulein Lundén war halb durch den Kampf hindurch. Das Mädchen war jung und aus ganz elendiglicher Familie, aber sie sah nicht schlecht aus, und mit einer starken Hand – und hierzubleiben und Peter Ludwig der Arretierung und dem Gefängnis auszusetzen …

»Aber wenn sie mitkommt?« sagte sie.

»Ist das dein Ernst, Tante?«

Fräulein Lundéns Kampf nahte dem Ende. Ihr Mund war zusammengezogen, als ob sie Mixed Pickles gegessen hätte.

»Ja,« sagte sie, »das ist es.«

»Aber du mußt sie liebhaben, Tante. Sie verdient es. Du darfst nicht häßlich gegen sie sein.«

Fräulein Lundén zwang sich, das Mädchen anzusehen. Sie hatte ein frisches Lächeln und klare Augen. Aber – na, die Sache war verloren. Es kam eine Pause und eine Umarmung, die von Fräulein Lundéns Seite nicht übertrieben lang war.

»Aber wenn sie mitkommen soll,« rief sie, »so weiß ich einen, der nicht mitkommt!«

Sie drehte sich auf dem Absatz herum und kam gerade zur rechten Zeit.

Gerade unter dem Lüster stand der Adjunkt Quillander. Seine Hände hielten die vier Papiere, die Fräulein Lundén vorher am Abend aus ihrer Tasche gezogen und die Peter Schiött für kurze Zeit übernommen hatte.

Seine Augen musterten diese Papiere mit einer Sorgfalt, als ob er Bankbeamter wäre. Seine Hände zitterten, während er sie befühlte. Er machte eine Geste, um sie zu zerknüllen und in die Tasche zu stecken, aber gerade in diesem Augenblick war Fräulein Lundén mit einem schrillen, frohlockenden Schrei zur Stelle.

»Hahaha! Hab' ich mir's nicht gedacht! Jetzt will ich aber von den Wechseln sprechen, Peter Ludwig, sieh sie dir an. Der eine ist auf achthundert, der zweite auf elfhundert, der dritte auf zwölfhundert und der vierte auf fünfzehnhundert. Herr Quillander hat sie alle vier gezogen, und du stehst auf der Rückseite. Viertausendsechshundert Kronen, Peter Ludwig! In nicht ganz einem Monat, Peter Ludwig! Solltest du das unterschrieben haben? Für den dort! Unmöglich, sage ich. Herr Quillander hat selbst …«

»Bester Freund,« sagte Quillander, und entfaltete die Wechsel unter wütenden Versuchen Fräulein Lundéns, sich derselben zu bemächtigen. »Deine geschätzte Tante leidet unter etwas, was man eine fixe Idee nennen könnte, und an einer Idiosynkrasie gegen mich. Das habe ich schon den ganzen Abend gemerkt, und ich habe mich nach besten Kräften bemüht, das Gespräch von den Themen abzulenken, die deine Tante in Affekt versetzen könnten. Jetzt mußt du mir aber den Gefallen tun, ein für allemal ein paar kindischen Ideen den Garaus zu machen, die deine Tante ganz besonders zu quälen scheinen. Wie du hörst, haben in erster Linie ein paar Papiere, die uns gemeinsam sind, die Grillen deiner Tante hervorgerufen. Willst du mir den Gefallen tun, zu erklären, daß du diese Papiere unterschrieben hast? Damit, hoffe ich, ist diese Seite der Angelegenheit aus der Welt geschafft.«

»Tante,« sagte Möbius, »es ist wahr, daß ich einige Wechsel für Quillander unterschrieben habe. Wie hast du das erfahren?«

»Es kam von der Bank ein Aviso nach dem andern,« sagte Fräulein Lundén, »und so habe ich sie eingelöst und bin hierher gefahren, um dich zu retten, mein Junge. Hast du sie wirklich unterschrieben? Wie konntest du das tun? Und wie viele hast du unterschrieben?«

»Ich weiß nicht. Wie viele sind es, Quillander?«

»Vier,« sagte Adjunkt Quillander, »ich habe sie hier, und da deine Tante sie eingelöst hat, wüßte ich nicht, warum wir sie nicht gleich zerreißen sollten. Du kannst von mir eine Quittung über den Betrag haben.«

»Halt!« schrie Fräulein Lundén, »sag' ihm, daß er das lassen soll! Waren es vier, Peter Ludwig? Waren es nicht drei?«

»Waren es mehr als drei, Quillander?« fragte Möbius.

»Es waren vier, du mußt dich doch erinnern, lieber Freund! Wie gesagt, nachdem deine Tante jetzt als eine Dea ex machina die Dokumente eingelöst hat, begreife ich nicht, warum wir sie nicht ebensogut …«

»Peter Ludwig, sieh dir die Papiere an, bevor der Mensch sie zerreißt!«

»Laß mich die Wechsel sehen, Quillander, da meine Tante es durchaus haben will.«

Möbius hatte Vera verlassen und stand jetzt unter dem Kronleuchter neben dem Adjunkten Quillander. Quillander wurde plötzlich bleich und dann blutrot. Er machte keine Miene, die Hand zu öffnen, die die Wechsel hielt.

»Mein Lieber, du weißt, daß ich dir nicht mißtraue. Es ist ja nur, wie du selbst sagst, um meine Tante zu beruhigen. Der Ton zwischen euch beiden war den ganzen Abend sehr unbeherrscht. Laß mich der Form halber die Papiere sehen.«

Adjunkt Quillander wurde blutrot. Dann wurde er wieder bleich. Endlich öffnete er, wie von Fräulein Lundéns eisengrauem Blick getrieben, die Hand und ließ Möbius die vier länglichen Zettel.

» Nun, Peter Ludwig!«

Es wurde still. Nur ein Seufzer war im Speisesaal der Villa Seefried zu hören. Er kam vom Adjunkten Schorn, der an der Wand stand, hinter einer Nummer des »Svenska Dagbladet« verschanzt, der Nummer, die Herr Wessén mitgebracht hatte. Wo war Herr Wessén? Niemand dachte daran, es zu fragen, aber Herr Wessén befand sich nicht mehr im Zimmer. Aus der Mitte des Gemachs ertönte plötzlich die zürnende Stimme des Adjunkten Quillander.

»Du überlegst, lieber Freund! Du willst doch nicht etwa behaupten, daß …«

Möbius fuhr sich durch das Haar und sah Quillander verwirrt an.

»Lieber Freund …«

»Was denn?«

»Habe ich wirklich diesen letzten auf fünfzehnhundert unterschrieben?«

Adjunkt Quillander türmte sich zu sittlicher Majestät empor, sah auf Möbius herab und sagte mit Donnerstimme:

»Es ist genug! Ich suche nach Worten, und ich finde keine. Hast du das geschrieben? Darf ich fragen: Wer denn sonst? Vielleicht Schorn, der den Wechsel trassiert hat? Oder am Ende gar ich?«

Möbius schlug die Augen nieder und fuhr sich wieder durch das Haar. Fräulein Lundén wollte eine Antwort geben, aber selbst sie war im Augenblick durch Quillander zum Schweigen gebracht.

»Am Ende gar ich?« rief Quillander mit blitzenden Augen.

In diesem Augenblick hörte man einen leisen Ausruf hinter dem »Svenska Dagbladet«. Im nächsten Moment zeigte sich ein verschüchtertes Gesicht, das einen flüchtigen Blick von Quillander, Möbius und Fräulein Lundén auf sich zog. Es war der Adjunkt Schorn, der den Kopf hinter der Zeitung hervorsteckte, wie ein Faun hinter einem Busch, und als Antwort auf Quillanders gebrüllte Frage flüsterte:

»Ja, Quillander, du hast es geschrieben!«

Ein von der Tarantel Gestochener fliegt nicht rascher und mit flammenderen Blicken in die Höhe, als Adjunkt Quillander es tat.

»Schorn! Daß der Schwachsinn schon lange auf dich als auf ein sicheres Opfer gelauert hat, das wußten wir alle, aber daß er so bald ausbrechen und so gemeine Formen annehmen würde – Formen, für die die Psychiatrie meines Wissens keine Benennung hat … das …»

Adjunkt Schorn unterbrach ihn. Er hatte sein verschüchtertes Aussehen verloren. Er senkte sein Visier, das »Svenska Dagbladet«, und sah Quillander in die Augen, ohne zu blinzeln.

»Quillander,« sagte er, »sprich die Wahrheit! Was soll das andre für einen Zweck haben? Möbius hatte angefangen, seinen Namen mit deiner Füllfeder auf ein Blankett zu schreiben, aber sie versagte. Das war auf der Nimbschen Terrasse, bei jenem Frühstück. Möbius schüttelte die Feder und blätterte dann zu weit in dem Blankettenbuch. Er schrieb einen neuen Wechsel, den andern, den er begonnen hatte, hast du auch ausgefüllt und in der Bank behoben, und das nanntest du heute nachmittag deine sokratische Majeutik. Sage jetzt die Wahrheit! Gib es zu!«

Adjunkt Quillander schien nahe daran, von seinem eigenen Blut gesprengt zu werden, wie ein übermästeter Truthahn. Unzählige Tiraden bebten auf seiner Zunge. Adjunkt Schorn schob ihnen allen mit ein paar einfachen Worten einen Riegel vor.

»Du brauchst uns nichts mehr vorzumachen! Dein Onkel ist gestorben, Quillander! Es steht hier in der Zeitung angekündigt!«

Quillanders Arm glitt vor wie ein mächtiger Pfeil. Er packte die Zeitung, er las, und er ließ sie sinken. Stumm starrte er vor sich hin. Dann sah er Schorn an und schließlich Möbius. Er räusperte sich.

»Mein Onkel ist gestorben,« sagte er. »Ja, so. Ja, das war ja schon lange zu erwarten. Nun ja. Na, das ist ja sehr – sehr traurig. Aber – aber – was wollte ich doch sagen?«

Er fuhr sich über die Stirn und hob sie plötzlich mit aristidischer Würde.

»Was wollte ich sagen? Ja, mit diesem Todesfall verschwindet, wie du verstehen wirst, lieber Freund, jede Spur eines Risikos für jene, die zufällig auf einem und demselben Papier stehen wie ich, sei es in der Eigenschaft von Trassanten,« er warf Schorn einen Blick voll Verachtung zu, »oder von Indossanten,« er sah Möbius an. »Folglich schlage ich vor, daß wir die Debatte über diese Sache sofort abbrechen, und folglich,« seine Hand streckte sich aus und nahm die vier Papiere aus Möbius' Hand, »folglich schlage ich vor, daß wir, um einer Wiederholung vorzubeugen, diese Dinger da zerreißen. Die Liquidation wird dir zugehen, lieber Freund, sobald die Verlassenschaft abgewickelt ist.«

Er ließ seinen Worten die Tat folgen. Fräulein Lundén verfolgte ihn mit brennenden Augen, aber schwieg. Möbius fuhr sich über den Mund wie um etwas zu verbergen. In diesem Augenblick zeigte sich Herr Wessén auf der Schwelle.

»Das Boot liegt bereit,« sagte er.

»Das Boot!« rief Fräulein Lundén.

»Das Boot?« fragte Quillander.

»Das Boot,« bestätigte Herr Wessén. »Ich habe ein Motorboot gemietet, das uns nach Schweden hinüberbringt. Es hat Platz für« – seine Augen überflogen die Gesellschaft und blieben ironisch an dem Adjunkten Quillander haften – »für genau sechs Personen, abgesehen vom Fischer selbst. Wollen wir aufbrechen?«

»Wir, ja! Sofort,« sagte Fräulein Lundén und sah ebenfalls Quillander an. »Aber …«

»Tante,« sagte Möbius, »denke an mich! Was wissen wir von der Willensfreiheit? Es gibt nur eine Sache, von der ich überzeugt bin, daß wir sie, wenn wir wollen, auch können, und das ist, nicht zu lügen. Wenn Quillander lügt, so betrügt er wenigstens niemand – kaum sich selbst. Und wäre er nicht gewesen, so wäre ich …«

»So wärst du in all das nicht hineingekommen,« sagte Fräulein Lundén scharf.

»Nein,« sagte Möbius und sah Vera an.

Fräulein Lundén schwieg. Kurz darauf beleuchteten die elektrischen Lampen im Speisesaal der Villa Seefried nur vier leere Punschflaschen, ein Grabmal im altnordischen Stil für das erste und letzte Fest, das dort unter dem Regime des Adjunkten Quillander gefeiert worden war. Dann wurden sie vom Adjunkten Quillander ausgelöscht, der als guter Hausherr der letzte war, der sein Haus verließ.

Die Sommernacht war dunkel und duftend. Eine Nachtigall, deren Liebesangelegenheiten in vortrefflichster Ordnung zu sein schienen, sang aus einem der Gartenbüsche des Adjunkten Quillander. Plötzlich tauchte ein halbierter papierweißer Sommermond zwischen den Wolken auf, um der Gesellschaft den Weg zum Sund hinunter zu zeigen. Fräulein Lundén und Herr Wessén gingen voran, gefolgt von Möbius und Vera, die einen einzigen Schatten warfen.

Adjunkt Schorn bohrte sich die Nase und sah scheu zum Adjunkten Quillander auf.

»Jetzt kann ich vielleicht Gelegenheit finden, die ökonomische Weltkatastrophe mit deiner Unterstützung zu beschleunigen.«

Adjunkt Quillander sah mit hochgewölbter Brust über den Sund hin und antwortete:

»Sie ist schon hinlänglich vorbereitet.«

 


 << zurück